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Juli Zeh, „Nullzeit“

Sven ist der typische Vertreter der Spezies Mann, der nie erwachsen werden will. Sich nicht festlegt, nicht engagiert und niemals Position bezieht. Hierin ist er Meister und hierin ist er konsequent. Da ihm der Alltag, Kompromisse, Machtkonstellationen und die ganz normale Korruption in Deutschland nicht behagen, wird er zum Aussteiger auf Lanzarote, als Tauchlehrer. Das Tauchen ist die kompromisslose Konsequenz seiner gesellschaftlichen Verweigerung, reduziert sie doch die Kommunikation unter Menschen, die durchaus auf sich angewiesen sind, entlang eines klaren Regelwerks auf das absolut Notwendige. Der andere ist nicht mehr Freund, Verwandter, Nachbar oder auch Feind, er wird zum genormten Buddy, dem zur zwischenmenschlichen Kommunikation nur noch eine Handvoll von sprachlosen Zeichen zur Verfügung steht. In dieser reduzierten und konzentrierten Welt fühlt sich Sven wohl, dort ist er zu Hause.

Erstaunlicherweise ist Sven als Aussteiger und Unternehmer erfolgreich. Die Tauchschule läuft gut, die Kunden kommen zahlreich, so dass sich Sven bald zwei Häuser im entlegensten Teil der Insel leisten kann, eines für sich und seine Freundin Antje, eines dient den Gästen der Tauchschule als Unterkunft.

Sein geschäftlicher Erfolg beruht zu einem großen Teil auf Antjes Hilfe und Organisationstalent. Antje besorgt die Kunden, führt die Homepage, regelt alles Geschäftliche und auch das soziale Miteinander mit den Gästen und der Umgebung, so dass Sven sich ausschließlich auf das Tauchen konzentrieren kann. Auf diese Weise ergänzen sich die beiden als erfolgreiches Unternehmerpaar. Und trotzdem unterliegt die Beziehung der beiden der gleichen Struktur, mit der Sven insgesamt der Welt begegnet. Sven hat Antje nicht als Freundin gewählt, sondern akzeptiert. Er lebt mit ihr zusammen, weil es praktisch und bequem ist und ihm nichts anderes dazu einfällt. Als Antje Sven auf Lanzarote folgte, weil sie seit ihrer frühsten Kindheit in ihn verliebt ist, lässt er sie gewähren. Er wehrt sie nicht ab, dies wäre wohl zu mühevoll, doch er glaubt nicht an die Liebe, und mehr fällt ihm dazu wohl nicht ein.

Dieses bequeme und auf die speziellen Bedürfnisse von Sven ausgerichtete Aussteigerdasein gerät in seiner Ordnung und Alltäglichkeit aus den Fugen, als Sven mit Jola und Theo zwei Exklusivkunden übernimmt, die anders sind als Svens bisherige Taucherklientel. Jola, eine Seriendarstellerin im Fernsehen und damit der B-Prominenz zugehörig, mit einem dominanten Vater in selbiger Branche, möchte das Tauchen lernen, da sie hofft, mit dieser Kenntnis endlich eine ernsthafte Rolle in einem Film zu erhalten, den der Lotte Hass, Taucherin und Ehefrau von Hans Hass. Begleitet wird Jola von ihrem älteren Lebensgefährten Theo, einem Schriftsteller von zweifelhaftem Ruf, mit einem einzigen veröffentlichten Roman und einer aktuellen und lang andauernden Schreibblockade.

Sven fühlt sich zu Jola hingezogen, die ungeniert mit ihm vor Theo und der Welt flirtet. Die Beziehung zwischen Theo und Jola erscheint kompliziert-explosiv, mit einer heftigen Mischung aus Zärtlichkeit, Spaß, sadomasochistischen Spielen, Verletzungen und durchaus grenzwertigen Streichen. Einzelheiten zur Geschichte dieser Beziehung erfährt man aus Jolas Tagebuch, das sich mit Svens Bericht im Roman abwechselt und damit zwei verschiedene Perspektiven liefert, die in einigen Aspekten und Ereignissen konträr zuwiderlaufen. So schildert Jola den Sex mit Sven, den Sven wiederum leugnet, gehabt zu haben, während Theo ihm Jola gleichzeitig als Geliebte anbietet und ihn deswegen eifersüchtig attackiert.

Jola und Theo haben Sven als Tauchlehrer für zwei Wochen und täglich 24 Stunden gebucht. Als Ausnahme und einziger freier Tag für Sven ist nur sein Geburtstag vorgesehen, sein 40., den er mit einem ganz besonderen Tauchgang begehen möchte: Vor der Küste Lanzarotes hat Sven ein altes Wrack entdeckt, tief im Atlantik versunken, ein ehemaliges Schiff der Wehrmacht aus dem zweiten Weltkrieg. Sein Plan sieht vor, das Wrack an seinem Geburtstag zu erkunden und einsam in großer Tiefe zu feiern. An der Verwirklichung dieses Plans arbeitet Sven seit langem, ihm gilt sein gesamtes Engagement, sein höchstes Interesse.

Bis dahin liest sich das Buch flüssig und unterhaltsam, eine verquere Liebesgeschichte, man leidet mit Antje und Jola, schüttelt den Kopf über Sven, und wundert sich über die Diskrepanzen in Jolas und Svens Schilderungen. Svens Bericht klingt insgesamt glaubwürdiger, Jola scheint zu übertreiben, doch schleichen sich auch einige Zweifel bezüglich Svens Darstellung ein. Hat er wirklich am Strand, in höchster Erregung, als Jola sich nass und nahezu nackt an ihn presste, den Sex verweigert? Sind Jola und Theo wirklich so verrückt und bringen sich gemeinsam oder gegenseitig regelmäßig in Lebensgefahr, oder übertreibt Sven hier in seiner Schilderung? Welche Rolle spielt der Alkohol, dem Theo reichlich zuspricht, während Sven nichts verträgt?

Ein erster Höhepunkt und somit Wechsel des Erzählduktus von der eher leise dahinplätschernden Liebesgeschichte zum rasanten Krimi kündigt sich an, als Jola, Theo und Sven am Tag vor Svens Geburtstag eine Party auf einer Jacht besuchen, die einem Filmschaffenden aus dem Umkreis von Jolas Vater gehört. Die Party, besucht von Gästen der nämlichen B-Prominenz, der auch Jola angehört, gerät vor allem für Jola zum persönlichen Desaster. Erfährt sie doch hier, dass die Rolle der Lotte Hass, die sie als letzten Rettungsanker für ihre persönliche Schauspielerkarriere betrachtete, bereits anderweitig vergeben ist, eine Enthüllung, die Theo dramenreif inszeniert und dabei Jola vor allen Anwesenden demütigt und zutiefst verletzt.

Da Svens Taucherkumpel, die mit ihm an seinem Geburtstag zum Wrack fahren wollten, ihm ihre Dienste aufkündigen, anscheinend weil sie seine offen zur Schau getragene Affäre mit Jola missbilligen, springen Jola und Theo als Crew für die Fahrt auf dem geliehenen Schiff zum Wrack ein. Jola hat Erfahrung, Theo ist verkatert, kommt aber dennoch mit. Svens Tauchgang ist ein Erfolg, nähert er sich doch dem Wrack in der geplanten Weise und ist fasziniert. Zeitgerecht beginnt er mit dem notwendigerweise langsamen Aufstieg.

Kurz vor dem Erreichen des Schiffs sieht er, wie ein Körper ins Wasser fällt. Es ist der leblose Theo, der auf ihn zu sinkt. Das Zögern von Sven ist kurz, doch er zögert: Sollte er den verletzten Rivalen nicht einfach seinem Schicksal überlassen, ihn sinken lassen, ohne einzugreifen? Doch der Taucher in ihm siegt und er kann nicht anders als Theo, unter Gefahr für das eigene Leben, zu retten.

Als sie endlich auf dem Boot sind, spricht Jola von Selbstmord, wofür die Gewichte in den Taschen von Theo sprechen, weniger dagegen die Wunde am Hinterkopf. Nun geht alles noch schneller, die Küstenwache kommt, Theo wird mit Jola ins Krankenhaus geflogen, Sven bringt das Schiff in den Hafen. Zuhause, wo Antje ihn mittlerweile schweren Herzens verlassen hat, um mit einem Einheimischen zu leben und ein Kind zu bekommen, setzt Sven die Aufräumarbeiten fort, packt das Gepäck seiner Kunden zusammen, räumt auf, zieht die Betten ab, wo er dann unter der Matratze Jolas Tagebuch findet, das in seiner Gesamtheit darauf angelegt ist, Sven als Mörder von Theo zu entlarven. Sven stellt sich das mögliche und wahrscheinlich von Jola geplante Szenario vor: Jola hatte nicht mit der Rettung von Theo gerechnet, Sven hätte ihrem Plan zufolge noch auf dem Schiff verhaftet werden sollen, die Polizei durchsucht das Haus und findet das belastende Tagebuch.

Diese Version von Jola als Mörderin, die Sven die Tat in die Schuhe schieben möchte, erhält Nahrung von Aussagen seiner Taucherkumpels, bei denen offensichtlich Jola die Mithilfe am großen Tauchtag aufgekündigt hat. Ein teuflischer Plan und Sven das naive und fast willkürliche Opfer?

Die Polizei lässt Sven in Ruhe, hat sie die Ereignisse doch als Unfall eingestuft. Aus dem Internet erfährt Sven von der Hochzeit von Jola und Theo. Er lebt allein, geht seinen Geschäften nach und dennoch scheint er alles verloren: Antje, sein bequemes und gut eingerichtetes Leben, das Erfahren von echter Leidenschaft und einem Geschmack von Liebe, wobei es nicht klar ist, ob sich dies alles nur in Svens Kopf abgespielt hat oder doch auch in der fiktionalen Wirklichkeit, am Strand, unter Wasser, im Bett.

Trotz der offensichtlichen Ruhe ist Sven unruhig und fürchtet eine Strafverfolgung. Als sich eine seiner Kundinnen als Juristin herausstellt, fragt er sie um Rat und zeigt ihr das Tagebuch. Ihrem Urteil zufolge steht Aussage gegen Aussage, und sie rät Sven, die Ereignisse aus seiner Perspektive aufzuschreiben. „Einer von Euch lügt“, lautet ihr lapidares Urteil, und spätestens hier verschiebt sich dann auch die Perspektive des Lesenden. Waren da nicht Diskrepanzen, die einen bereits davor beim Lesen gestört haben? Kann man Sven wirklich trauen? Wäre es vielleicht doch möglich, dass er Theo ermorden wollte und es einfach nicht geklappt hat? Oder hatten sie den Plan gemeinsam gefasst und jeder der beiden sichert sich auf seine Weise ab, um bei einer Strafverfolgung den anderen als Mörder hinstellen zu können?

Der Roman ist ein gelungenes Kammerstück über die Tatsache, dass es keine Wahrheit gibt, keine einzig gültige Version eines Ereignisses. Jegliche Wahrnehmung unterliegt einer persönlichen Perspektive und es kommt durchaus vor, dass ein und dasselbe Ereignis von den Beteiligten vollkommen konträr erfahren und geschildert wird. Die Autorin, eine ausgebildete Juristin, hat hiermit ein bedeutendes Phänomen nicht nur der Rechtsgeschichte aufgegriffen und exemplarisch vorgeführt. Mit Sven ist ihr ein glaubwürdiger Protagonist gelungen, der erkennen muss, dass man den Kämpfen um Macht und Liebe nicht entgehen kann und schließlich frustriert und irritiert sein Leben auf Lanzarote samt dem Tauchen aufkündigt und nach Deutschland zurückkehrt. Der Roman ist gefällig geschrieben und liest sich äußerst flüssig. Ein echtes Highlight ist dann im letzten Drittel des Texts die Spannungssteigerung mit dem verblüffenden Ende. Der Roman ist ein gelungener Thriller, aber durch das Vorführen des Perspektivwechsels und die dadurch bedingte Offenheit doch auch noch wesentlich mehr.

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herzlich willkommen zu unserem Literaturblog. Delmira liest, und das sehr viel und jeden Tag. Sehr viel Belletristik und Fiktion, aber nicht nur. Ihr Interesse an Literatur ist international ausgerichtet, mit einer Vorliebe für spanischsprachige Autoren und Autorinnen, doch auch viel Deutsches und Englischsprachiges ist dabei. Der Schwerpunkt liegt auf der aktuellen Literatur, aber auch das 20. Jahrhundert ist gefragt, bisweilen wird es Abstecher in noch vergangenere Zeiten geben. Die Auswahl ist spontan, ergibt sich mehr durch Streifzüge durch Bibliotheken und Buchladen, durch Empfehlungen von Freunden als durch die Lektüre der Feuilletons, wobei auch das ab und an mal vorkommt. Genremäßig dominiert der Roman. Delmira liest auch gern Krimis, allerdings nicht allzu blutig. Sie  mag keine Science Fiction.

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