Inequalitics

Promotionskolleg "Steuer- und Sozialpolitik bei wachsender Ungleichheit"

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Über Chancengleichheit und Aufstiegschancen in Deutschland

Es ist wahrlich nichts Neues, dass über das deutsche Bildungssystem eifrig debattiert wird. Neuerdings ist das Thema insbesondere dank der neuesten OECD-Studie „Education at a Glance“ vom September 2014 wieder stark in den Medien vertreten und verschiedene Aspekte des Berichts wurden unter anderem von Zeitungen jeglichen Couleurs aufgegriffen (Zeit, Süddeutsche, FAZ, Spiegel, Bild um nur die ersten Google News Einträge zu benennen). Und während manche jubeln wie der Deutsche Philologenverband, da ja Deutschlands Bildungssystem vor allem wegen der hohen Bildungsbeteiligung und niedrigen Jugendarbeitslosigkeit „besser als sein Ruf“ sei, ärgern sich andere wie die Trierer Wirtschaftskammern, weil die OECD mal wieder der akademischen Laufbahn einen deutlich höheren Stellenwert gibt als der dualen Ausbildung. Abseits von diesen Standpunkten, die es sicherlich auch Wert sind, diskutiert zu werden, sollte man sein Augenmerk bei Berichten, die das Bildungssystem betreffen, stets besonders auf eine Frage richten: Was sagen uns diese Ergebnisse über die Chancengleichheit aus?

Abbildung 1: Schulbesuch in Deutschland (2008 – 2012)Abbildung 1: Schulbesuch in Deutschland (2008 - 2012). Quelle: Eigene Auswertung mit Daten des Statistischen Bundesamts.
Quelle: Eigene Auswertung mit Daten des Statistischen Bundesamts.

Nature or Nurture?

Obwohl sich jeder wahrscheinlich etwas unter dem Begriff der Chancengleichheit vorstellen kann, sollte man dennoch zunächst einmal erklären, wie ein Bildungssystem überhaupt zu höherer Chancengleichheit verhelfen kann und warum es so wichtig ist. Allgemein lässt sich sagen, dass es eine der wichtigsten Rollen eines jeden Bildungssystems ist, gleiche Ausgangschancen für Kinder aus allen Gesellschaftsschichten zu schaffen. Dies hat vor allem zwei Gründe von denen der erste wohl nicht sehr unerwartet kommt: Um Gerechtigkeit zu wahren! Jeder sollte eine faire Chance zur freien Entfaltung der Persönlichkeit bekommen (Ein Ziel, das sogar im Grundgesetz verankert ist; Art. 2.1). Der zweite Grund dafür, gleiche Ausgangschancen für alle zu schaffen, mag für manche überraschend klingen: Weil es effizienter ist! Anders herum würden nämlich besondere Talente und Fähigkeiten bei Kindern aus benachteiligtem Umfeld nicht gefördert werden und der Gesellschaft damit verloren gehen. Doch dieser letzte Grund fand nicht immer Zuspruch. Frühere psychologische und verhaltensgenetische Studien (eine davon Murray und Hernsteins sehr kontroverses Buch „The Bell Curve“ von 1994) behaupteten, endlich eine Antwort für die fortwährende und steigende Einkommensungleichheit gefunden zu haben: Intelligenz sei genetisch bedingt und angeblich größtenteils erblich. Demnach bekämen kluge (und daher reiche) Eltern, kluge Kinder, die sich dann gegenüber den weniger klugen Kindern in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen würden. Jeder staatliche Eingriff wäre damit nicht in der Lage, diesen Bann zu durchbrechen und daher unnötig. Die Kritik an dieser Theorie – vor allem von Seiten der Ökonomen und Soziologen – ließ nicht lange auf sich warten.[1] Jedoch dauerte es seine Zeit, bis empirische Studien mit innovativen Daten von Zwillingen und Adoptivkindern unmissverständlich zeigen konnten, dass Faktoren abseits der genetischen Vererbung – wie die Schulumgebung – auch einen signifikanten Einfluss haben.[2] Ohne jedoch tiefer in die „Nature or Nurture?“ Debatte einsteigen zu wollen (hier einige interessanten Anmerkungen von Prof. Ernst Peter Fischer dazu), kommen wir nach diesem kurzen Überblick zurück zur anfänglichen Frage dieses Beitrags: Wie sieht es mit der Chancengleichheit in Deutschland aus? Dabei wollen wir Chancengleichheit so definieren wie John Roemer, und Ungleichheiten akzeptieren, die das Ergebnis persönlicher Anstrengungen sind, solche jedoch als ungerecht ansehen, die durch unterschiedliche Anfangsbedingungen zustande kommen.[3]

Soziale Mobilität und Einfluss der Umgebung

Der OECD-Bericht gibt einige interessante Hinweise in dieser Hinsicht. Zuerst einmal ist Deutschland eines der OECD-Länder mit dem niedrigsten Anteil an Studenten (bzw. an jungen Leuten im tertiären Bildungssektor) aus bildungsschwächeren Elternhäusern; d.h. Eltern ohne Abitur, Fachabitur, abgeschlossener Ausbildung oder einem vergleichbaren Abschluss.[4] Eine eigene Auswertung des Schulbesuchs nach Bildungsstand der Eltern mit Daten des Statistischen Bundesamts bestätigt dies. Es zeigt sich außerdem, dass sich die Situation in den letzten Jahren nicht verbessert, sondern eher verschlechtert hat. Während 2008 knapp 41 % der Gymnasiasten aus Elternhäusern ohne Abitur stammte, waren es 2012 nur noch ca. 38 %. [siehe Abbildung 1] Zweitens, gehört Deutschland zu den OECD-Ländern (mit Österreich, der Tschechischen Republik, Italien und der Slowakei) in denen mehr als 55 % der Kinder den gleichen Schulabschluss haben wie ihre Eltern, was auf eine sehr niedrige soziale Mobilität hindeutet. Der OECD-Durchschnitt liegt hier bei unter 50 %. An dieser Stelle sollte jedoch auch gesagt werden, dass der Anteil an Eltern mit niedrigen Schulabschlüssen in Deutschland gering ist und deutlich unter dem OECD Durchschnitt von 19 % liegt. Beunruhigend ist dieses Ergebnis dennoch, wenn man sich die Ergebnisse einer aktuellen Studie der Caritas zusammen mit dem Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) anschaut: In Deutschland verlässt dieser Studie zufolge jeder 18. Jugendliche die Schule ohne mindestens einen Hauptschulabschluss erreicht zu haben. Die Caritas Studie – die auf amtliche Statistiken der Kreise und kreisfreien Städte, sowie auf Daten der Bundesagentur für Arbeit beruht – zeigt unter anderem, dass die Quote an Schulabgängern ohne Abschluss sich stark zwischen verschiedene Landesteile auf dem Bundesgebiet unterscheidet. Außerdem ist sie mit der Arbeitslosenquote auf kommunaler Ebene korreliert, dafür aber nicht mit der Pro-Kopf-Verschuldung. Diese Ergebnisse geben also einerseits einen weiterer Hinweis auf den verstärkten Einfluss von Familie und Umgebung und zeigen andererseits – so die Schlussfolgerung von Caritas und RWI – dass auch verschuldete Kommunen die Mittel aufbringen können um Kinder aus benachteiligtem Umfeld zu fördern, wenn der politische Wille vorhanden ist. Drittens, zeigt die OECD-Studie auch, dass höhere Bildung der Eltern mit besseren Lese-, Schreibe- und Rechenfähigkeiten der Kinder verbunden ist, und verrät in dieser Hinsicht das vermutlich erschreckendste Ergebnis: in Deutschland haben die meisten nicht-Studierenden Erwachsenen[5], die aus bildungsschwächeren Elternhäusern stammen, extrem schlechte Testergebnisse in literacy und numeracy. Über 80 % müssen somit einer der zwei (von sieben) untersten Kategorien zugeordnet werden. Nur in den USA sieht es ähnlich aus, während die Quote in den anderen OECD Ländern zwischen 42 % in Japan und 79 % in Italien liegt, bei einem OECD-Durchschnitt von knapp über 60 %. Die Ergebnisse dieser OECD-Studie bestätigen also die Befunde früherer Studien [OECD 2010; siehe Abbildung 2 und 3] und deuten auf ein besorgniserregendes Szenario hin was die Chancengleichheit in Deutschland anbelangt. Als Kind wählt man nämlich weder die Familie noch die Umgebung in der man aufwächst selber aus; und doch bestimmen diese beiden Faktoren, welchen Bildungsabschluss man erreichen kann.

Abbildung 2 und 3: Einfluss von Familie und Umgebung – ein internationaler Vergleich

Abbildung 2Abbildung 3

Quelle: ECONOMIC POLICY REFORMS: GOING FOR GROWTH; OECD (2010)

Die Annahmen für ein gerechtes System

Woran kann es liegen, dass das deutsche Bildungssystem so wenig dem Ziel nachkommt Chancengleichheit zu wahren? Etliche Studien haben gezeigt, dass die Schulleistungen stärker vom sozio-kulturellen Status der Eltern abhängen, je früher die Wahl des Schultyps am Ende der Grundschulzeit stattfindet.[6] [siehe Abbildung 4] Eine Erklärung hierfür könnte die folgende sein: benachteiligte Eltern (z.B. mit geringem Einkommen und/oder niedriger Bildung) können ihre Sprösslinge meistens nicht ausreichend in ihrer schulischen Laufbahn unterstützen, sei es durch gemeinsames Lernen oder einer bezahlten Nachhilfe. Wenn die Selektion in einen weiterführenden Schultyp also relativ früh stattfindet, haben Kinder aus benachteiligten Familien geringere Chancen innerhalb kurzer Zeit ihre Fähigkeiten zu entdecken und soweit zu zeigen um eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen. Außerdem könnte es einen Fall von Informationsasymmetrie geben: Eltern mit höherer Bildung sollten den Stellenwert in der Gesellschaft von gewissen Schultypen und Abschlüssen besser einschätzen können, als Eltern, die in ihrem näheren Umfeld nicht damit konfrontiert werden. Auf der weiterführenden Schule sind die Schüler dann nach ihrem vermeintlichen Können in verschiedene Schultypen aufgeteilt und werden schon früh für ihren späteren Lebensweg vorbereitet: die einen für eine akademische Laufbahn, die anderen für technische oder manuelle Berufe. Dieses System könnte unter zwei Annahmen effizient und gerecht sein: Erstens, dass die Fähigkeiten einer Person im Alter von 9 bis 10 Jahren tatsächlich erkannt werden können und keinerlei äußeren Zustände oder Umgebungen, für die das Individuum nicht verantwortlich ist, für die Wahl des Schultyps eine Rolle spielen. Zweitens, dass sogenannte peer-effects in die Richtung gehen, dass schlechte Schüler in einer Klasse die Leistungen der guten Schüler herunterziehen und nicht anders herum. Bei beiden Annahmen ist es mindestens fraglich, ob sie denn plausibel sind.

Abbildung 4: Einfluss der Familie und Schultyp-Selektion

Abbildung 4

Quelle: Gabriela Schütz und Ludger Wößmann; ifo Schnelldienst 21/2005

Fortwährende Einkommensungleichheit als Folge

Wenn diese Annahmen nicht erfüllt sind, was der Fall zu sein scheint, findet die Selektion im Bildungssystem nicht nach Leistung oder Talent statt, sondern nach soziokulturellem Umfeld des Elternhauses. Das führt letztendlich dazu, dass der Großteil der Kinder aus benachteiligten Umfeldern (d.h. aus Familien am unteren Ende der Einkommensverteilung) nur Abschlüsse schaffen, die es ihnen auf dem Arbeitsmarkt sehr schwer machen Zugang zu höheren (besser bezahlten) Positionen zu erlangen. Somit reproduzieren sich die ungleichen Verhältnisse zwischen Familien am unteren und oberen Ende der Einkommensverteilung in der folgenden Generation und werden sogar noch ausgeprägter, wenn die Verteilung der Bildungsrenditen weiter auseinander geht (d.h. höhere formale Abschlüsse vergleichsweise besser entlohnt werden). Das dies in Deutschland ein tatsächliches Problem ist, zeigt unter anderem eine aktuelle Studie von Daniel Schnitzlein in dem die Korrelation der Einkommen und Bildungsergebnisse von Geschwistern untersucht wird: etwa 40 Prozent der Ungleichheit der Arbeitseinkommen und sogar 50 Prozent der Bildungserfolge lassen sich durch den Familienhintergrund erklären. Daraus bildet sich ein Teufelskreis, in dem die Aufstiegschancen gering sind und sich die oft gehörte Aussage bewahrheitet „Die Armen werden immer ärmer und die Reichen immer reicher“.

Ein beinahe banales Fazit

Bafög und Stipendien können ein guter Ansatz sein, um Menschen aus allen Einkommensklassen ein Studium und damit Zugang zu besser bezahlten Positionen zu ermöglichen. Allerdings hat sich gezeigt, dass die finanzielle Lage der Eltern nur einer von vielen – und auch nicht einer der einflussstärksten – Faktoren ist, die soziale Immobilität und Ungleichheit bewirken. Außerdem kommt eine Förderung beim Übergang von der Schule zum Studium sehr wahrscheinlich schon zu spät, da nur wenige Kinder aus benachteiligten Elternhäusern es so weit geschafft haben. Maßnahmen, die zu höherer Chancengleichheit verhelfen sollen, müssen also deutlich früher ansetzen und vermeiden, dass man schon nach wenigen Schuljahren vorhersehen kann, welchen Platz in der Gesellschaft eine Person einnehmen wird. Die allgemeine Abschaffung der frühen Selektion in verschiedene Schultypen erscheint logisch gesehen ein sinnvoller Schritt in diese Richtung zu sein…doch so banal das klingen mag, so schwer scheint bedauerlicherweise auch dessen Umsetzung.

 


[1] siehe z.B. die Kritik von Goldberger und Manski im Journal of Economic Literature, 1995.

[2] Bruce Sacerdote fasst die Ergebnisse dieser Studien in einem Kapitel des Handbooks of Social Economics zusammen.

[3] Hier eine Leseprobe von John Roemers Buch „Equality of Opportunity“.

[4] Siehe OECD (2014) S. 90 für eine genaue Definition.

[5] D.h. Erwachsene, die nicht gerade ein Studium oder eine Ausbildung absolvieren.

[6] Z.B. Dustmann (2004), Hanushek und Wößmann (2006), Bauer und Riphahn (2006), Schütz und Wößmann (2005).

Tags: , , , ,

Der Beitrag wurde am Dienstag, den 14. Oktober 2014 um 15:36 Uhr von Guido Neidhöfer veröffentlicht und wurde unter Allgemein, Bildung, Chancengleichheit, Einkommensverteilung, Soziale Mobilität, Ungleichheit abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf Ihrer Seite einrichten.

3 Reaktionen zu “Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm”

  1. jenina

    Nie Nietzsche schon sagte, der Mensch ist ein Kultur- und kein Naturwesen. Schau hier

  2. Şamil Buzayev

    Frühere psychologische und verhaltensgenetische Studien (eine davon Murray und Hernsteins sehr kontroverses Buch „The Bell Curve“ von 1994) behaupteten, endlich eine Antwort für die fortwährende und steigende Einkommensungleichheit gefunden zu haben: Intelligenz sei genetisch bedingt und angeblich okey oyna

  3. blogamca

    ischen Laufbahn einen deutlich höheren Stellenwert gibt als der dualen Ausbildung. Abseits von diesen Standpunkten, die es sicherlich auch Wert sind, diskutiert zu werden, sollte man sein Augenmerk bei Berichten, die das Bildungssystem betreffen, stets besonders auf eine Frage richten: Wa blogamca

Schreibe einen Kommentar

Captcha
Refresh
Hilfe
Hinweis / Hint
Das Captcha kann Kleinbuchstaben, Ziffern und die Sonderzeichzeichen »?!#%&« enthalten.
The captcha could contain lower case, numeric characters and special characters as »!#%&«.