The State of American Democracy

Research-based Analysis and Commentary by the Department of Politics at the John-F.-Kennedy Institute

Die Auseinandersetzung um die gewerkschaftliche Organisierung des VW-Werks in Chattanooga, Tennessee

Eine ausführliche Version dieses Beitrags erscheint demnächst bei Gegenblende. Das gewerkwschaftliche Debattenmagazin (www.gegenblende.de).

Thomas Greven, Februar 2015

Im Februar 2014 verlor die amerikanische Automobilarbeitergewerkschaft UAW (United Auto Workers), die seit langer Zeit vergeblich versucht, Werke von europäischen und japanischen Automobilherstellern im Süden der USA zu organisieren, knapp eine sogenannte Anerkennungswahl bei VW in Chattanooga. Die UAW warf u.a. Republikanischen Politikern in Tennessee vor, Stimmung gegen die Gewerkschaft gemacht zu haben. Etwas Unerhörtes geschah: Die VW-Geschäftsführung in Wolfsburg beschloss, es der amerikanischen Gewerkschaft etwas leichter zu machen, als es das US-Arbeitsrecht vorsieht. Bei dem Werk in Tennessee handelt es sich um das einzige ohne Vertretungsstrukturen der Beschäftigten (sieht man von China ab, wo die Gewerkschaften nicht als frei bezeichnet werden können). Wolfsburg setzte gegenüber dem US-Management eine sogenannte Community Organization Engagement Policy durch. Organisationen, die nachweisen können, dass sie bestimmte Anteile der Beschäftigten repräsentieren, erhalten verschiedene Zugangs- und Informationsrechte. Im Dezember 2014 stellte ein unabhängiger Prüfer fest, dass die UAW mehr als 45% der Beschäftigten vertritt und damit das im Rahmen dieser Regeln höchste Niveau von Rechten erhält. Die Vertreter der UAW werden sich nun alle zwei Wochen mit der Geschäftsführung austauschen. Falls die UAW sogar mehr als 50% der Beschäftigten vertritt, kann VW die Gewerkschaft freiwillig als Tarifverhandlungspartner anerkennen. Alternativ könnte eine erneute Anerkennungswahl im Februar 2015 stattfinden.

Ob es gelingen kann, auf diesem Weg erfolgreich ein Automobilwerk im Süden zu organisieren, ist noch offen. Eine Konkurrenzorganisation der UAW, der American Council of Employees, die National Right to Work Foundation und die Republikanische Partei in Tennessee, welche den Gouverneur und die Mehrheiten in beiden Häusern der Legislative stellt, wollen es verhindern. Die Frage bleibt, warum es so schwierig für amerikanische Gewerkschaften ist, Beschäftigte gewerkschaftlich zu organisieren.

In den USA muss sich eine Mehrheit der Beschäftigten dafür aussprechen, von einer Gewerkschaft vertreten zu werden. In Deutschland ist dagegen die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft eine individuelle und freiwillige Entscheidung. In den USA dürfen Beschäftigte mit Leitungsfunktionen nicht Mitglied der Gewerkschaft werden (jedenfalls nicht Mitglied der gleichen Gewerkschaft wie diejenigen Beschäftigten, die er oder sie anleitet). Dies führt häufig zu Rechtsstreitigkeiten im Vorfeld der gewerkschaftlichen Organisierung. Es gibt für die Anerkennung verschiedene Wege, die teilweise von den Wünschen des Arbeitgebers abhängen. 

In den USA ist die Größe und Zusammensetzung des Betriebs im Zusammenhang mit der gewerkschaftlichen Organisierung ein Streitpunkt – Betriebsräte und ein Betriebsverfassungsgesetz gibt es nicht. Eine sogenannte “bargaining unit” muss definiert werden. Da die Beschäftigten eine Mehrheitsentscheidung für die gewerkschaftliche Organisierung benötigen, fechten Arbeitgeber die vorgeschlagene “bargaining unit” gelegentlich an, um – auf der Basis ihres Wissens über die Zusammensetzung der Beschäftigten und damit der wahrscheinlichen Präferenzen in verschiedenen Betriebsteilen – maximalen Widerstand gegen die Gewerkschaft mobilisieren zu können. Dies kann wiederum zu Rechtsstreitigkeiten führen.

Das amerikanische Bundesarbeitsrecht (National Labor Relations Act) gibt Arbeitgebern eine Reihe von Möglichkeiten, das Recht ihrer Beschäftigten auf gewerkschaftliche Organisierung zu gewährleisten. Arbeitgeber können sich bezüglich der Willensäußerung der Beschäftigten neutral verhalten und die gewerkschaftliche Vertretung auf der Basis von Maßnahmen zum Nachweis der mehrheitlichen Unterstützung der Gewerkschaft anerkennen (meist per sog. “card check”). „Card check” ist ein Verfahren, bei dem Gewerkschafts-Aktivisten und Hauptamtliche unterschriebene Erklärungen über die Unterstützung der Gewerkschaft einsammeln, die dann von einem neutralen Dritten gezählt werden. Dies schützt die Unterstützer der Gewerkschaft im Betrieb vor Repressalien. Arbeitgeber können sich neutral verhalten, aber auf einer von der Behörde (National Labor Relations Board, NLRB) überwachten Anerkennungswahl bestehen. Der Arbeitgeber kann hierbei die „bargaining unit“ akzeptieren und die Wahl schnell durchführen. Der Arbeitgeber kann auf einer Anerkennungswahl bestehen und sich entscheiden, die “bargaining unit” anzufechten, d.h. in Frage zu stellen welche Beschäftigten an der Wahl teilnehmen dürfen. Der Arbeitgeber kann den Organisierungsversuch der Beschäftigten und die Gewerkschaft aktiv bekämpfen.

Basierend auf den überwiegend guten Erfahrungen mit Betriebsratswahlen, scheint aus deutscher Sicht die Variante, Anerkennungswahlen durchzuführen, völlig unproblematisch und demokratisch. Die Geschäftsleitungen europäischer und auch deutscher Unternehmen mit Standorten in den USA werden regelmäßig versuchen, dieses positive Bild von „demokratischen Wahlen“ auszunutzen und die Gewerkschaften dafür kritisieren, dass sie das “card check”-Verfahren bevorzugen. In den USA bedeutet die Durchführung von Anerkennungswahlen allerdings, dass der Arbeitgeber zahlreiche Möglichkeiten hat, sich der gewerkschaftlichen Organisierung der Beschäftigten zu widersetzen. Die Geschäftsleitung wird diese Praktiken immer als Ausdruck der Meinungsfreiheit verteidigen, aber es geht hierbei schlicht darum, die Lücken und Schwächen des Gesetzes auszunutzen, um die Organisierung zu verhindern.

Die Gewerkschaft hat keinen Zugang zum Unternehmensgelände. Der Arbeitgeber wird sie als „betriebsfremde Partei“ deklarieren und auch Gewerkschaftsaktivisten im Betrieb untersagen, von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen. Arbeitgeber, die sich der Organisierung widersetzen, verzögern Informationen über die Beschäftigten und stellen dann unvollständige Namens- und Adresslisten zur Verfügung. Sie nutzen oft anti-gewerkschaftliche Beratungsunternehmen (“union busters”), die ihnen dabei helfen, die Gewerkschaft „zu vermeiden“, wie es euphemistisch heißt. Ihre Methoden verstoßen dabei oft nicht nur gegen den Geist, sondern auch gegen den Buchstaben des Gesetzes – weil sie wissen, dass die rechtlich vorgesehenen Strafen für Verstöße gegen das Organisierungsrecht allesamt zu schwach sind, um abschreckende Wirkung zu haben. Arbeitgeber reichen gegenstandslose Klagen ein, um die Anerkennungswahl zu verzögern und damit mehr Zeit zu gewinnen, gegen die Gewerkschaft zu agieren und ein Klima der Angst und Ausweglosigkeit zu schaffen. Es gibt im amerikanischen Arbeitsrecht keine wirksame Abschreckung zur Verhinderung von gegenstandslosen Beschwerden, die nur zur Verzögerung dienen. Arbeitgeber nutzen oft unmittelbare Vorgesetzte und Vorarbeiter, um ihre antigewerkschaftliche Botschaft zu verbreiten. Diese nutzen damit ihre Vertrauens- und Machtbeziehungen zu den Beschäftigten, um in Einzelgesprächen den Wunsch der Geschäftsleitung, “gewerkschaftsfrei” bleiben zu wollen vermitteln. Arbeitgeber können die Beschäftigten zur Teilnahme an Veranstaltungen verpflichten (“Captive audience meetings”), bei denen die Sichtweise der Geschäftsführung dargestellt wird (mit Filmen usw., während Vorarbeiter sich Notizen über jegliche Unterstützung für die Gewerkschaft machen). In den Einzelgesprächen und Pflichtveranstaltungen bringen Arbeitgeber ihre Ablehnung der Gewerkschaft offen zum Ausdruck. Sie übertreiben dabei Angaben zu Mitgliedsbeiträgen und nutzen weitere Fehlinformationen, sie bezeichnen die Gewerkschaft als “betriebsfremde Partei” und greifen manchmal auch Gewerkschaftsaktivisten persönlich an. Es hat Fälle versteckter Drohungen gegeben, Betriebe im Falle der gewerkschaftlichen Organisierung zu schließen. Diese Drohungen verstoßen gegen das Gesetz, sind aber schwer zu beweisen. Gewerkschaftsaktivisten und –unterstützer werden oft im Laufe der Organisierungskampagne entlassen. Auch dies verstößt gegen das Gesetz, ist aber ebenfalls schwer zu beweisen. Ohne einen Tarifvertrag sind Beschäftigungsverhältnisse in den USA beidseitig freiwillig, d.h. beide Parteien können den Arbeitsvertrag jederzeit und ohne Grund kündigen (“at will employment”, in Deutschland oft „hire and fire“ genannt). Diskriminierung, auch gegen gewerkschaftliche Betätigung, ist ungesetzlich, aber selbst wenn die Gewerkschaft die Diskriminierung eines Aktivisten vor Gericht beweisen kann, sind die Strafen zu schwach um Arbeitgeber und antigewerkschaftlichen Berater, die zur Abwehr der Gewerkschaft zum Rechtsbruch bereit sind, effektiv abzuschrecken.

Alle Formen von Arbeitgeberwiderstand sind weniger wahrscheinlich, wenn der Arbeitgeber dem “Card check”-Verfahren zustimmt, und noch weniger wahrscheinlich, wenn er zusätzlich auch eine Neutralitätsvereinbarung unterzeichnet.

Wird die Gewerkschaft anerkannt, ist sie fortan der ausschließliche Vertreter der Beschäftigten der “bargaining unit” – keine andere Gewerkschaft hat dann das Recht, die Beschäftigten zum Zweck von Tarifverhandlungen zu vertreten. Dies bleibt allerdings ohne Konsequenzen für andere Teile des Unternehmens. In anderen Betrieben und anderen Betriebsteilen (außerhalb der „bargaining unit“), an anderen Standorten, in anderen Geschäftsbereichen kann es andere Gewerkschaften geben, die dort als ausschließliche Vertreter anerkannt worden sind, oder – was wahrscheinlicher ist – gar keine Gewerkschaft.

Im amerikanischen Anerkennungssystem für Gewerkschaften ist es sehr schwierig, das grundlegende Prinzip der industriellen Organisierung durchzusetzen, nicht zuletzt weil Unternehmen für Unternehmen bzw. Betrieb für Betrieb die Möglichkeit besteht, “gewerkschaftsfrei” zu bleiben. Statt großer Industriegewerkschaften, die die Beschäftigten branchenweit vertreten, gibt es in den USA eine fragmentierte Landschaft von “gewerkschaftsfreien” Betrieben und Betrieben, die von verschiedenen Gewerkschaften organisiert sind, oft auch innerhalb des gleichen Unternehmens, mit unterschiedlichen Verträgen, Laufzeiten usw., was die gemeinsame Vertretung der Beschäftigten oder auch nur kooperative Absprachen erschwert. Auch die Anerkennung als ausschließlicher Vertreter der Beschäftigten beendet nicht zwangsläufig die Auseinandersetzung mit einem gewerkschaftsfeindlichen Arbeitgeber. Für die effektive gewerkschaftliche Vertretung und zum Einzug von Mitgliedsbeiträgen ist ein Tarifvertrag notwendig. Die Tarifverhandlungen eröffnen dem Arbeitgeber weitere Möglichkeiten zur Verzögerung und gegebenenfalls sogar zum Zunichtemachen der erfolgreichen Organisierung. Verhandlungsführung im guten Glauben, d.h. mit Willen zum Abschluss, ist gesetzlich für beide Parteien vorgeschrieben, aber Verstöße dagegen durch Verzögerungstaktiken, unredliche Angebote etc. sind nur schwer zu beweisen. Das Ziel solcher Verzögerungstaktiken kann (nach einem Jahr erfolgloser Verhandlungen) eine sogenannte Aberkennungswahl sein, die der Gewerkschaft das Recht, die Beschäftigten zu vertreten, wieder entzieht.

Wenn ein erster Tarifvertrag abgeschlossen wird, enthält er Regelungen über die Verankerung der Gewerkschaft im Betrieb (“union security).” Entweder werden alle Beschäftigten Mitglied der Gewerkschaft (“union shop”) oder diejenigen, die nicht Mitglied werden möchten, müssen eine Gebühr für die Arbeit der Gewerkschaft bezahlen (“agency shop”). In einigen Einzelstaaten der USA, vor allem im Süden und Westen, z.B. in Tennessee, inzwischen aber auch in ehemaligen gewerkschaftlichen Hochburgen wie Michigan, haben Republikanische Regierungen Gesetze verabschiedet, die Beschäftigten erlauben, weder Mitgliedsbeiträge noch Gebühren zu bezahlen, während andererseits die Gewerkschaft zu ihrer Vertretung verpflichtet ist. Diese Regelungen (genannt „right to work“, besser wäre freilich „right to a free ride“) dienen selbstverständlich dazu, die Gewerkschaft finanziell und bezüglich ihrer Mitgliederstärke zu schwächen.

Der aggressive Widerstand vieler amerikanischer und internationaler Arbeitgeber in den USA ist vor dem Hintergrund positiver Erfahrungen mit sozialpartnerschaftlichen industriellen Beziehungen kaum verständlich, eben so wenig wie die politischen Versuche, die Gewerkschaften zu schwächen. In den USA sind die Gründe für den aggressiven antigewerkschaftlichen Widerstand politischer und ökonomischer Natur. Politisch bedeutet eine Schwächung der Gewerkschaften auch eine Schwächung der Demokratischen Partei, weil Gewerkschaftsmitglieder und ihre Familien für diese eine wichtige Wählerbasis sind. Ökonomisch bedeutet die Abwesenheit von branchenweiten Tarifverträgen (aufgrund der oben skizzierten Organisierungsregeln und –praxis, die zu einer fragmentierten Landschaft von organisierten und nicht organisierten Betrieben führen) und die Übermacht gewerkschaftsfreier Konkurrenz, dass für die Unternehmen Anreize entstehen, die gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern. Tatsächlich befinden sich die amerikanischen Gewerkschaften in einem Teufelskreis: Je schwächer die Gewerkschaften werden, desto größer werden die Anreize für die Unternehmen, sich der Organisierung zu widersetzen.

Der Beitrag wurde am Dienstag, den 3. Februar 2015 um 18:18 Uhr von Thomas Greven veröffentlicht und wurde unter Arbeitsmarkt und Soziales, Globalisierung, The State of the Union: Gewerkschaften in den USA abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

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