Nederlands

Beobachtungen zur niederländischen Sprache

Wasserschaft und Deichgräfinnenschaft

Wann haben Sie zum letzten Mal einen Deichgrafen gewählt? In den Niederlanden war gestern (an einem Mittwoch!) Gelegenheit dazu. Gewählt wurden vor allem die Provinciale Staten, also die Parlamente der Provinzen. Diese bestimmen später auch die Mitglieder der Eerste Kamer im nationalen Parlament. Zugleich fanden Wahlen für die Räte der Waterschappen statt. Viel Aufmerksamkeit bekommt dieses politische Ereignis nicht, erst recht nicht im Ausland, abgesehen von der Kuriosum-Ecke auf dem Titel der Süddeutschen Zeitung. Auch in den Niederlanden hatte der Wahlkampf für die Wasserschaften anscheinend nicht die größte Priorität. Ergebnisse der Provinzwahlen gibt es schon heute, wie die Wahlen für die Wasserschaften ausgingen, wird erst morgen zu erfahren sein.

Was ist nun eigentlich eine „Wasserschaft“? Ähnlich den deutschen Deichverbänden sind diese demokratisch verfassten politischen Einheiten zuständig für alle Regelungsfragen, die mit dem Wasser zu tun haben. Sie müssen zum Beispiel dafür sorgen, dass die Deiche stabil bleiben, dass die Wasserstraßen schiffbar sind und dass die Wasserqualität überwacht wird. Bis auf eine friesische Wasserschaft ohne Bevölkerung, die keine Wähler und damit auch keine gewählte Verwaltung hat, steht an der Spitze der Wasserschaftsverwaltung ein Deichgraf (nl. dijkgraaf) – wo es keine Deiche gibt, stattdessen ein Wassergraf (nl. watergraaf). Adelig wurden und werden Deichgrafen mit ihrer Wahl nicht, aber eine prestigeträchtige Aufgabe war es stets. Heute haben dieses Amt in einigen Wasserschaften auch Frauen inne, wobei der Begriff Deichgräfin sich noch nicht durchgesetzt hat. Die Dijkgravin ist bisher Fiktion, nämlich als Romanfigur der frankophonen flämischen Schriftstellerin Marie Gevers, die im Original 1931 von der comtesse des digues schrieb.

Klaas Breebaart, Deichgraf im 19. Jh. und Namenspatron eines Polders in der Provinz Groningen (Foto: F. J. von Kolkow, PD)

Ebenso feminin wie die Deichgräfin sind auf Deutsch alle Wortbildungen auf –schaft. Etymologisch ist das Suffix im Deutschen ebenso wie das niederländische –schap verwandt mit dem Verb, das wir heute als schaffen oder scheppen kennen. Das Deutsche kennt laut Duden drei Bedeutungstypen von –schaft bei der Wortbildung, die in ähnlicher Form auch im Niederländischen zutreffen:

  • Beschaffenheit bzw. Zustand, z.B. Schwangerschaft, Gefangenschaft
  • Ergebnis eines Tuns, z.B. Errungenschaft
  • Personengruppe oder Gruppe von Dingen, z.B. Beamtenschaft, Lehrerschaft

Wohin passt nun die Wasserschaft? Sie ist jedenfalls weder eine Zustandsbezeichnung (die Gebiete bestehen nicht aus Wasser) und auch nicht das Ergebnis einer Tätigkeit (die Gebiete haben nie gewassert und wurden auch nicht gewassert). Das dritte Kriterium passt besser, wenn man sich das Zustandekommen der Wasserschaften vor Augen führt: Sie bündelten Gebiete, die von bestimmten Gewässern gemeinsam betroffen waren, zum Beispiel weil sie am Ufer gleicher Flüsse lagen, hinter demselben Deich, auf demselben Polder oder am gleichen Küstenabschnitt. Die Wasserschaft ist im übertragenen Sinne eine Gruppe von Gebieten um eine Gruppe von Gewässern herum. Allerdings, aufgepasst: In aller Regel wären Gruppennomen im Niederländischen ebenso wie im Deutschen feminin, wie bei de broederschap. Es heißt aber het waterschap und nicht *de waterschap. Bei Onze Taal behilft man sich einfach mit einer zusätzlichen Kategorie: Politische Einrichtungen auf –schap sind immer Neutra, beispielsweise in Polen het woiwodschap oder het graafschap in England.

Pegel der ehem. Waterschap Westerkwartier. (Foto: Netraam, CC-BY-SA 4.0)

Das macht es beim Sprachenlernen leicht und eindeutig, ist aber auf sprachwissenschaftlicher Ebene noch keine befriedigende Erklärung. Andere niederländische Neutra auf –schap sind Ämter oder Statusangaben, etwa het meesterschap oder het premierschap. Man kann problemlos het premierschap innehaben oder het meesterschap erreichen, het waterschap hat aber niemand inne. Obwohl es um eine politische Funktion in der Gesellschaft geht, passen Verwaltungseinheiten auf –schap nicht direkt in diese Kategorie. Solange an der Spitze eine einzelne Person steht (oder historisch stand), ist die Übertragung nachvollziehbar. Wer die Grafschaft innehat, steht an der Spitze der Grafschaft. Bei der Wasserschaft funktioniert das nicht, sie müsste sonst dijkgraafschap oder watergraafschap heißen. Wie der grammatische und semantische Wandel einer Gruppe von Dingen hin zu einer politischen Einheit aussieht, und warum damit ein verschiedenes Genus verbunden ist, braucht offenbar eine kompliziertere Erklärung. Bis die gefunden ist, sind die Wasserschaften möglicherweise längst abgeschafft.

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Der Beitrag wurde am Donnerstag, den 19. März 2015 um 18:00 Uhr von Philipp Krämer veröffentlicht und wurde unter Allgemein, Etymologie, Grammatik, Niederlande, Sprachvergleich, Wortbildung abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

Eine Reaktion zu “Wasserschaft und Deichgräfinnenschaft”

  1. Philipp Krämer

    Eine praktische Übersichtskarte der Wasserschaften (lizenzfrei) gibt es hier, unter der Funktion „oefenen“ auch als Quizspiel.