Nederlands

Beobachtungen zur niederländischen Sprache

Przewalskipferde im Zisterzienserkloster

Vor Weihnachten kommt man ins Grübeln: Was schenke ich der Schwiegermutter? Welche Kleidergröße hat meine Frau? Wie heuchle ich glaubhaft Freude über die jährliche Krawatte von Tante Angelika? In den Niederlanden und Flandern ist diese Grübelei an Weihnachten längst vorüber, denn die Geschenke gab’s ja schon Anfang Dezember. Zum Glück, denn das wahre Grübeln geht dann erst richtig los. Kurz vor Weihnachten läuft im Fernsehen nämlich Het Groot Dictee der Nederlandse taal. Morgen Abend ist es wieder soweit.

Man sieht bei näherem Hinsehen, dass es het Groot Dictee und nicht het grote dictee heißt. Wegfall der e-Flexion und Großbuchstaben zeigen ganz deutlich: Wir haben es mit einer Institution zu tun. Mit großem Pomp inszenieren das flämische und das niederländische Fernsehen gemeinsam im Parlamentssaal der Eerste Kamer in Den Haag einen Wettstreit der Rechtschreibung. Per Vorrunde werden Kandidatinnen und Kandidaten ausgewählt, und es

Dries van Agt im Jahr 2011. (Foto: Mark Rutte, CC-BY-SA-2.0)

gewinnt, wer die wenigsten Fehler macht. Gleichzeitig schreibt eine Horde Prominenter das Diktat mit und zittert vor dem Urteil der Öffentlichkeit und der Jury unter dem Vorsitz des niederländischen Ex-Ministerpräsidenten Dries van Agt. Damit ein allzu fremder Akzent im Niederländischen keine Nachteile mit sich bringt, wird der Text von einem Duo vorgelesen. Für das nördliche Niederländisch steht Fernsehveteran Philip Freriks, für das südliche stand bis zum letzten Jahr Martine Tanghe, deren Ablösung für die kommende Ausgabe einige Spekulationen und Proteste auslöste. Wer dicteetor sein darf, ist ein Politikum.

Nun kann man sich fragen, wozu das alles gut sein soll. Die niederländische Orthographie ist doch an sich relativ schlüssig und nah an der Aussprache. Als 1990 das erste große Diktat geschrieben wurde, damals noch ohne Flandern, hatten fünf Jahre zuvor schon die Franzosen mit ihrem Dico d’Or (‚Goldenes Wörterbuch‘) begonnen. Die französische Orthographie, man muss es leider so hart sagen, ist nichts anderes als ein historisches Unglück, das heute niemand mehr auszuräumen wagt. Damit einen Wettbewerb zu veranstalten, liegt auf der Hand. Wie macht man darauf nun eine Herausforderung auf Niederländisch?
Das Prinzip ist simpel. Zwar verfassen in jedem Jahr anerkannte Figuren der niederländischsprachigen Literatur den jeweils diktierten Text. Aber die poetische Schöpfungskraft als solche ist eher zweitrangig, solange darin ein Maximum an niederfrequenten Lexemen und überdrehten Wortschöpfungen vorkommen. Man reiht also am besten so viele fremdartige Lehnwörter aneinander wie möglich.

Przewalskipferd. (Ala z, CC-BY-SA-3.0)

Der Vorspann zur Sendung vom Dezember 2014 nennt zum Beispiel ein paar Highlights aus den vorherigen Jahren: tseetseevlieg (entlehnt aus dem Tswana), przewalskipaard (Polnisch) oder cisterciënzerklooster (nach dem lateinischen Namen des französischen Ortes Cîteaux). Andere Blüten im Text von 2014 waren etwa kasuaris (aus dem Malaiischen), zeugmata (griechischer Plural der Stilfigur Zeugma) oder das französische Weingebiet Médoc.

Besonders die letzten beiden Schlagwörter zeigen recht deutlich, worum es eigentlich geht. Die Rechtschreibung ist zwar das vordergründige Messinstrument, und bisweilen gibt es natürlich auch ur-niederländische Zweifelsfälle: Wohin mit dem Trema, wann braucht man einen Bindestrich und dergleichen mehr. Satzzeichen werden übrigens immer mit diktiert, man braucht also keine Kommaregeln zu kennen. Was man vor allem braucht, ist ein möglichst breiter Wortschatz – und zwar am besten ein bildungsbürgerlicher. Man muss nicht unbedingt besonders gut mit Rechtschreibregeln umgehen können, um die Schreibweise eines einzelnen Fremdworts auswendig zu beherrschen. Kreatives Sprachgefühl ist auch nicht gefragt, schließlich ist der Text vorgegeben. Man sollte nur besonders viele seltene Wörter kennen und wissen, wie sie im Einzelfall geschrieben werden.

Zisterzienserabtei Sint Bernardus in Bornem, Belgien. (Quesste, CC-BY-SA 3.0)

Ähnlich wie bei Quizsendungen und anderen TV-Formaten, bei denen es vermeintlich oder tatsächlich um Wissen geht, kann man sich zuhause am Wohnzimmertisch selbst versichern: Ich gehöre zu den Gebildeten. Wer etwas falsch macht, schämt sich – und zwar vor sich selbst oder im schlimmsten Fall vor dem gesamten Fernsehpublikum zweier Nationen. Alles in allem eine dick aufgetragene Inszenierung, auf schweren Sesseln und untermalt mit Musik von Bach, mit einer glasklaren Essenz: Wer die Sprachnorm besitzt, hat die Macht in der Hand. Zwischen Richtig und Falsch liegt eine messerscharfe Trennung, und auf welcher Seite man steht, sagt einem das Groene Boekje.

Ob man so eine Fernsehsendung braucht? Inzwischen gibt es auch eine papiamentische Variante nach demselben Prinzip: Bei der Ausgabe im Februar 2015 war das Hauptthema ebenfalls ein exotisches Lehnwort, in dem man sich gut verheddern kann, nämlich chikungunya. Diktate auf Sranan wurden auch schon veranstaltet, im vergangenen Jahr gab es dabei allerdings Konflikte um unklare orthographische Regeln. Frankreich, das Land der fest verriegelten Türen der Eliten, hat sein Fernsehdiktat bereits vor zehn Jahren aufgegeben. Es ist zwar weder zeitgemäß noch unverzichtbar und richtet mit seinem aristokratisch-strengen Sprachbild vielleicht mehr Schaden an als es nützt, aber das Publikum in Flandern und den Niederlanden scheint es weiterhin unterhaltsam zu finden – ganz im Gegensatz zu den Kollegen in der Linguistik.

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Der Beitrag wurde am Freitag, den 18. Dezember 2015 um 10:38 Uhr von Philipp Krämer veröffentlicht und wurde unter Niederlande, Rechtschreibung, Wortschatz abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

Eine Reaktion zu “Przewalskipferde im Zisterzienserkloster”

  1. Philipp Krämer

    Inzwischen hat man anscheinend auch beim niederländischen Fernsehen festgestellt, dass das Diktat etwas altertümlich war: Die Sendung wird voraussichtlich nicht mehr fortgesetzt.