Nederlands

Beobachtungen zur niederländischen Sprache

Friesisch ohne Schriftsprache?

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In einem Beitrag für die Leeuwarder Courant plädiert Hans Van de Velde, Soziolinguist und Mitarbeiter der Fryske Akademy, für eine Neuorientierung der friesischen Sprachpolitik. Nicht das geschriebene Friesisch, sondern die gesprochene Sprache sollte dabei seiner Meinung nach im Mittelpunkt stehen.

Ausgangspunkt sind die weit verbreiteten Sorgen um die Zukunft des Friesischen. Das Westfriesische ist der Zweig des Friesischen, der in der niederländischen Provinz Fryslân (Friesland) von ca. 500.000 Menschen gesprochen wird. Es hat dort den Status einer zweiten Amtssprache (neben dem Niederländischen), steht aber — wie fast alle Minderheitensprachen — unter ständigem Druck.

Van de Velde meint nun, dass man darauf am besten reagieren kann, indem man die Verwendung des gesprochenen Friesisch fördert. Nur ca. 15% der Friesischsprachigen kann Friesisch auch lesen und schreiben, und Van de Velde ist der Auffassung, dass es „een verloren zaak“ ist (also aussichtslos), das ändern zu wollen. Wenn das Friesische eine Zukunft hat, dann als gesprochene Sprache.

Das ist eine interessante Überlegung, denn in den mir bekannten Untersuchungen zum Status bedrohter Sprachen wird immer betont, dass es für das Überleben einer Sprache von zentraler Wichtigkeit ist, dass sie auch geschrieben und kodifiziert wird, d.h. dass (schriftsprachliche) Normen entwickelt werden, die in Wörterbüchern und Grammatiken festgelegt sind. Die geschriebene Sprache wird auch über die Literatur und die Presse verbreitet, und das Maß, in dem das geschieht, ist nach allgemeiner Auffassung, ein wichtiger Indikator für die Vitalität und die Überlebenschancen einer Sprache.

Nach Van de Velde ist das dagegen von untergeordneter Bedeutung. Viel wichtiger ist es, dass die Sprache in ’nähesprachlichen‘ Kontexten verwendet wird, dass Eltern Ihre Kinder mit und in der Sprache aufwachsen lassen, dass Kinder die Sprache untereinander verwenden und dass die Sprache beispielsweise in WhatsApp-Nachrichten verwendet wird (wo die ‚richtige‘ Schreibung weniger wichtig ist). Es geht darum, dass Menschen sich in der Sprache zuhause fühlen, ohne zu sehr von oft künstlichen schriftsprachlichen Normen und puristischen Bemühungen eingeengt zu werden.

Vergesst die normierte Schriftsprache, ruft Van de Velde den besorgten Friesen zu. Dafür habt ihr das Niederländische (und — kann man ergänzen — das Englische). Sorgt dafür, dass das Friesische zuhause und auf der Straße gesprochen wird, indem ihr es selber tut. Das ist der beste Garant für das Überleben des Friesischen. ‚Das Prestige einer Sprache war in den vergangenen 500 Jahren stark an die Schriftsprache gekoppelt‘, schreibt Van de Velde, ‚aber die Zeiten ändern sich schnell‘.

Ich bin an diesem Punkt eher skeptisch und bezweifle, dass die Verbindung von Status und Prestige mit der geschriebenen Standardsprachen schon der Vergangenheit angehört. Und ich frage mich daher, ob Van de Velde dem Friesischen mit seinem Plädoyer nicht einen Bärendienst erweist. Eine solche sprachpolitische Neuausrichtung kollidiert nämlich mit weit verbreiteten und tief verankerten sprachideologischen Überzeugungen. Die meisten Menschen halten nur normierte Standardsprachen für ‚echte‘ Sprachen. Nur wenn eine Sprache auch geschrieben wird, gilt sie als eine vollwertige Sprache, deren Schutz sich lohnt. Und so kommt man auch in Diskussionen über das Friesische immer sehr schnell an den Punkt, wo jemand (oft mit einem gewissen Stolz) darauf hinweist, dass das Friesische kein Dialekt ist, sondern eine ‚echte Sprache‘ mit einer langen schriftsprachlichen Tradition.

Wenn das nicht der Fall ist, wenn es ’nur‘ um eine gesprochene Sprache geht, dann — so die weit verbreitete Einstellung — geht es bestenfalls um einen nettes Relikt, das zu bewahren sich aber kaum lohnt. Die Konsequenz dieser sprachideologischen Auffassungen kann man in der Aufgabe der Dialekte zugunsten der Standardsprache beobachten. ‚Language suicide‘ nennen wir das: die eigene Sprache wird freiwillig zugunsten einer vermeintlich ‚besseren‘ aufgegeben, die mehr Funktionen erfüllt, die normiert ist und in der Schule unterrichtet wird (als Schriftsprache), eine ‚echte Sprache‘ eben.

Van de Velde weist auf die Tatsache hin, dass die allermeisten der weltweit ca. 7000 Sprachen nur gesprochen und nicht geschrieben werden. Für ihn ein Beweis, dass eine Sprache auch ohne Schriftsprache überleben kann. Dabei verschweigt er allerdings die düstere Prognose, dass wohl mindestens die Hälfte dieser 7000 Sprachen das Ende des Jahrhunderts nicht erleben werden (Pessimisten sprechen gar von bis zu 90%; vgl. hierzu beispielsweise das ‚Mission Statement‘ der Gesellschaft für bedrohte Sprachen).

Van de Veldes Vorstoß verlangt ein breites Umdenken, eine andere Sicht auf (den Wert von) Sprache(n) und sprachlicher Variation. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist das sehr gut vertretbar und längst überfällig, aber im gesellschaftlichen Diskurs könnte es sich als Bumerang für den Status und die Zukunft des Friesischen erweisen.

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Der Beitrag wurde am Samstag, den 2. Juli 2016 um 10:15 Uhr von Matthias Hüning veröffentlicht und wurde unter Allgemein, Niederlande abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

2 Reaktionen zu “Friesisch ohne Schriftsprache?”

  1. JanZ

    Ein Beispiel dafür, dass eine Sprache auch ohne Schriftnorm lebendig sein kann, ist ja das Schweizerdeutsche. Natürlich wird es nur in informellen Zusammenhängen gesprochen, aber das sind insgesamt doch eine ganze Menge, und in Friesland dürfte man in Gegenwart von Nicht-Friesischsprechern auch zum Niederländischen wechseln. Umgekehrt hat, ebenfalls in der Schweiz, die Einführung eines Schriftstandards (der als Klammer zwischen den Dialekten tatsächlich auch nur geschrieben und nicht gesprochen wird) für das Rätoromanische meines Wissens keinen wirklichen Auftrieb gebracht, im Gegenteil wird er von vielen als „Kunstsprache“ abgelehnt.

  2. Matthias Hüning

    Guter Hinweis, vielen Dank! An unsere Nachbarn im Süden hatte ich gar nicht gedacht. Und ich überlege jetzt schon die ganze Zeit, ob man die Situation in der Schweiz tatsächlich als Vorbild für Friesland sehen könnte.
    Das Scheizerdeutsch hat eine enorme Akzeptanz. Es wird quer durch alle Gesellschaftsschichten von fast allen gesprochen und genießt – als gesprochene Sprache – ein sehr hohes Prestige (nIcht nur in informellen Zusammenhängen). Das Standarddeutsche ist davon im Hinblick auf seine Funktionen (insbesondere als Schriftsprache) deutlich abgegrenzt.
    Könnte man eine vergleichbare Diglossie-Situation auch in Friesland erreichen? Ist das das Ziel des Vorschlags von Van de Velde? Und fänden die Bewohner Frieslands (die ja längst nicht alle Friesisch sprechen) das überhaupt erstrebenswert? Ein Teil würde es wahrscheinlich als Degradierung des Friesischen sehen, und ein anderer Teil hat überhaupt keine Lust, das gesprochene Niederländisch gegen Friesisch einzutauschen. Dennoch: es bleibt ein interessanter Gedanke!