Wie prägen gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen die Marginalisierung von Menschen mit Behinderung?

Nele Becker (WiSe 2024/25)

1. Einleitung

Die gesellschaftliche Marginalisierung von Menschen mit Behinderungen ist tief in hegemonialen Normvorstellungen verankert und mit Klassismus verbunden. Diese Vorstellungen bestimmen nicht nur den Zugang zu Ressourcen und sozialen Teilhabemöglichkeiten, sondern auch die Wahrnehmung und Behandlung von Behinderung im öffentlichen und privaten Raum. Die vorliegende Arbeit untersucht, wie der Begriff der Normalität strukturell, kulturell und psychologisch geformt wird und auch aus Intersektionalitätsperspektive Konsequenzen für Menschen mit Behinderungen hat.

2. Modelle von Behinderung

Innerhalb des letzten Jahrhunderts haben sich verschiedene Modelle entwickelt, welche erklären sollen, wie Behinderung zu definieren ist und wie dementsprechend damit umgegangen werden soll. Im Folgenden sollen drei Modelle herausgestellt werden, welche sowohl die wissenschaftliche Forschung als auch den gesellschaftlichen Umgang besonders geprägt haben.

2.1 Medizinisches Modell

Das medizinische Modell oder auch das individuelle Modell von Behinderung entwickelte sich im 20. Jahrhundert und gilt nach wie vor als das hegemoniale Modell in der gesellschaftlichen Betrachtungsweise von Behinderung, wodurch es zentral für das Verständnis der ableistischen Normalität ist (Hartwig, 2020). In diesem Modell wird Behinderung als eine individuelle Abweichung von einer gesellschaftlich konstruierten körperlichen, mentalen und kognitiven Norm gesehen, welche oft als ein „persönliches Unglück“ oder „tragisches Schicksal“ geframed wird. Dieses biophysische Verständnis von Behinderung führt hingegen zu einer Naturalisierung von körperlicher Differenz und deren Pathologisierung und hat eine Defizitorientierung zur Folge (Hirschberg, 2022). Denn Behinderung wird hier als ein individuelles Problem angesehen, welches durch rehabilitative und therapeutische Maßnahmen „gelöst“ werden soll. Hierbei ist die Dominanz und Orientierung an dem Wissen von medizinischen Expert*innen elementar, mit der gleichzeitigen Verlagerung der Verantwortung auf das Individuum mit Behinderung sich an gesellschaftliche Normen und Anforderungen anzupassen (Egen & Waldhoff, 2023). Das medizinische Modell konstruiert somit eine hierarchische Ordnung von Körpern, in welchem Menschen mit Behinderung und deren Lebensrealitäten als defizitär und „therapiebedürftig“ angesehen werden. Diese Sichtweise trägt zur Stigmatisierung bei und verstärkt die gesellschaftliche Tendenz, Menschen mit Behinderung als außerhalb der „Normalität“ zu betrachten.

2.2 Soziales Modell

Im Zuge der Behindertenorganisation Union of the Physically Impaired Against Segregation (UPIAS) entstand in den 1970er Jahren in Großbritannien der Grundstein des heutigen sozialen Modells von Behinderung. Diese Gruppe machte in ihrem Grundsatzpapier erstmals den Unterschied zwischen individueller Beeinträchtigung (impairment) und der gesellschaftlich verursachten Behinderung (disability)(UPIAS, 1976).

Während also im medizinischen Modell Behinderung (disability) immer mit Beeinträchtigung (impairment) gleichgesetzt wurde, wird bereits zum Entstehungszeitpunkt des sozialen Modells und im Zuge des Wissenschaftsbereichs der Disability Studies deutlich, dass Behinderung nicht ein Ergebnis einer medizinisch zu definierenden Pathologie, sondern ein Produkt von sozialen Ausschluss- und Unterdrückungsverhältnissen ist (Waldschmidt, 2005). Demnach war dieses Modell bereichernd hinsichtlich des Verständnisses von Kontextfaktoren. Ein prägnantes Beispiel für diese Perspektive ist die Tatsache, dass Kurzsichtigkeit in einer Gesellschaft mit Zugang zu Sehhilfen keine Behinderung darstellt, während sie in einem Umfeld ohne diese Hilfsmittel sehr wohl eine bedeutende Einschränkung der Teilhabe darstellen würde insbesondere auch dadurch, dass Infrastruktur auf sehende Menschen ausgerichtet ist.

Das soziale Modell fordert demnach eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen (z.B. durch Leitsysteme, Rampen, Nachteilsausgleiche) die Menschen mit Behinderung ausschließen, anstatt den Fokus auf die „Heilung“ der körperlichen oder mentalen Beeinträchtigung zu legen.

2.3 Kulturelles Modell

In den 1980ern entwickelte sich in den USA aus den Kultur-, Sprach- und Literaturwissenschaften als Ergänzung zum sozialen Modell das kulturelle Modell, welches den Analysefokus auf das Zentrum der Gesellschaft und der oft nicht hinterfragten Normalität lenkt. Nach diesem Modell ist es fatal, Behinderung als ein „tragisches Schicksal“ zu verstehen wie nach dem medizinischen Modell, aber es reicht auch nicht, Behinderung lediglich als eine diskriminierte Randgruppenposition zu betrachten wie nach dem sozialen Modell. Nach dem kulturellen Modell ist Behinderung eine Form der Problematisierung von körperlicher Differenz (Waldschmidt, 2005). Ziel ist es, diese Prozesse, welche Behinderung als Differenzkategorie konstituieren zu re- und dekonstruieren (Behrisch, 2016). Hierfür ist die Betrachtung des Normalitätsbegriffs hinreichend.

2.3.1 Der Normalitätsbegriff

Im modernen Zeitalter ist Normalität als eine Kategorie zu verstehen, welche sich durch statistische Durchschnittswerte und einen kontinuierlichen Vergleich einzelner Menschen zur Mitte der Gesellschaft konzipiert. Der Normalitätsbegriff ist nicht nur ein abstraktes Konzept, sondern ein Werkzeug, das aktiv verwendet wird, um Gesellschaften zu strukturieren. Nach Stechow et al. (2019) zwingt die Vorstellung von Normalität zwar alle Körper zur Anpassung, privilegiert und honoriert hierbei aber insbesondere Körper, die sich normieren lassen oder solche, die bereits als „normal“ in gesellschaftlichen Normalitätsgrenzen anerkannt sind. Gerade die „normalen“ Körper können in ableistischen Regimen anders handlungsfähig werden und sind anderen Spielarten von Zwang ausgesetzt als die als „anormal“ markierten.

Nach Foucault wird Normalität durch und in Diskursen konstruiert und durch Verfahren der Disziplinarmacht, wie Vergleich, Differenzierung, Hierarchisierung, Homogenisierung und Ausschließung manifestiert. Diese lassen sich auch auf das Konstrukt der Behinderung übertragen: um Menschen eine Behinderung attestieren zu können, müssen laufend Körper verglichen werden (z.B. Intelligenztests), anschließend werden sie differenziert in unterschiedliche Arten der Leistungs- und Erwerbsminderung, Förder-, Hilfs- und Pflegebedürftigkeit und daraufhin hierarchisiert (z.B. im sozialrechtlich festgelegtem Grad der Behinderung (GdB)) und in Gruppen homogenisiert (z.B. Behinderung hinsichtlich körperlicher, seelischer, kognitiver Art), um dann mit Ausschließungsmaßnahmen (z.B. Förderschulen, Werkstätten) zu reagieren. Mit Foucault wird demzufolge die Perspektive verdeutlicht, dass behinderte Körper disziplinierte und normierte Körper und Regimen der Überwachung und Normalisierung ausgesetzt sind, mit dem Ziel, diese Körper an eine nicht-behinderte Ordnung anzupassen (Waldschmidt, 2008). Diese Normalitätskonstruktionen sind jedoch nicht isoliert zu betrachten, sondern in gesellschaftlichen Machtverhältnissen eingebettet, die auch andere Differenzkategorien wie Klasse, Gender oder Herkunft strukturieren.

3. Intersektionalität

Durch gesellschaftliche Machtverhältnisse ist Behinderung auch mit anderen Diversitätsmerkmalen und den damit oft einhergehenden Diskriminierungserfahrungen verwoben. Eine Überschneidung, die bei Behinderung häufig zu Tage tritt, ist die mit Klassenzugehörigkeit und/oder Klassenherkunft, welche mit dem Begriff Klassismus betitelt werden kann. Doch warum gibt es insbesondere bei diesen Diversitätsmerkmalen Überschneidungen? Dies liegt insbesondere am Kapitalismus. Denn hier treten Menschen auf dem Arbeitsmarkt in einen Wettbewerb und konkurrieren um Stellen, bei welchen jeweils die „am besten passenden“ Personen bevorzugt werden. Nach dem Gedanken von Unternehmer*innen und dem kapitalismus- und neoliberalorientierten System sind es demnach „funktions- und arbeitsfähige Bürger*innen“ (Maskos, 2015, S.6), die als produktiv, leistungsstark und damit als „wertvoll“ angesehen werden. Behinderung wird demnach nicht nur durch die verschiedenen Modelle von Behinderung verhandelt, sondern auch durch die Struktur der Wirtschaftsweise. Der Mensch wird somit in ein System gezwungen, in dem sein Wert primär über seine ökonomische Nützlichkeit definiert wird.

3.1 Erwerbsarbeit

Der Arbeitsmarkt ist ein Faktor bei dem deutlich wird, dass Menschen mit Behinderung systematisch ausgeschlossen oder in prekäre Arbeitsverhältnisse gezwungen werden. 310.000 Menschen mit Behinderung werden derzeit in deutschen Werkstätten für Menschen mit Behinderung beschäftigt (BAG WfBM, 2024). Werkstätten dienen formal dazu, Menschen mit Behinderungen auf den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten, doch in der Praxis spiegeln sie häufig ein ausbeuterisches System wider. Die Beschäftigten in Werkstätten arbeiten oft unter Bedingungen, die sie stark benachteiligen: sie erhalten für ihre Arbeit meist keinen Mindestlohn, sondern lediglich ein sogenanntes monatliches Arbeitsentgelt von ca. 200€ bei einer 40-Stundenwoche (ca. 1,35€/h). Da dies weit unterhalb der existenzsichernden Löhne liegt, erhalten die Beschäftigten zusätzlich Sozialleistungen, wodurch sie dann auf ein monatliches Gehalt von maximal 920€ gelangen, aber auch in einer abhängigen Position bleiben (Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik & Institut für angewandte Sozialwissenschaft, 2023). Dafür, dass Werkstätten Menschen für den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten sollen, ist die Vermittlungsquote von ca. 0,35% als klare Zielverfehlung einzuschätzen (Engels et al., 2023). Zudem sind die Beschäftigten hierbei keine Arbeitnehmer*innen sondern Rehabilitand*innen, weswegen ihnen Arbeitnehmer*innenrechte wie z.B. Streikrecht fehlen oder das Recht auf Mindestlohn verwehrt werden (Die Neue Norm, 2024). Diese systematische Abwertung ihrer Arbeitskraft und ihres Beitrags zur Gesellschaft zeigt, wie der Kapitalismus Menschen mit Behinderungen nicht nur ökonomisch ausbeutet, sondern auch ihre Position als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft in Frage stellt. Es wird ein Narrativ geschaffen, das ihre vermeintlich geringere Produktivität ins Zentrum stellt, anstatt die Strukturen so zu ändern, dass sie als gleichwertige Akteur*innen in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Allerdings gestaltet sich die Einstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt auch als schwierig. Zwar müssen Unternehmen ab 20 Mitarbeitenden mindestes eine Person mit Behinderung einstellen, wenn diese keine Ausgleichszahlung leisten wollen, allerdings ist diese Zahlung meistens ökonomisch günstiger als inklusivere Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, weswegen zweidrittel aller Unternehmen in Deutschland diese Quote nicht erfüllen (Aktion Mensch e.V., 2024). Außerdem haben Unternehmen zudem die Möglichkeit die zu besetzenden Arbeitsstellen an die beschriebenen Werkstätten für Menschen mit Behinderung auszulagern. Der Staat fordert offiziell Inklusion gemäß der UN-BRK, fördert aber gleichzeitig ein System, das Menschen mit Behinderung in Werkstätten hält.

 Dies zeigt, dass durch die Subventionen der Werkstätten durch den Staat die ökonomische Ungleichheit perpetuiert wird und Menschen mit Behinderung wirtschaftlich benachteiligt werden, was ihre Zugehörigkeit zu den unteren sozialen Klassen verstärkt, Aufstiegschancen erschwert und ihre ökonomische Abhängigkeit zementiert. Dem Kapitalismus ist die Abwertung von Menschen mit Behinderung durch seine Verwertungslogik demnach systemimmanent (Solbrig, 2022).

3.2 Bildungswesen

Um auf den Arbeitsmarkt zu gelangen, müssen Qualifikationen wie z.B. ein Schulabschluss vorliegen. Doch auch wenn Deutschland sich 2009 im Zuge der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet hat, Segregation auch im Schulwesen abzuschaffen, stellte das Deutsche Institut für Menschenrechte (2023) fest, dass keine Transformation zu einem inklusiven Schulsystem stattfindet. Tatsächlich ist jede zehnte allgemeinbildende Schule in Deutschland eine Förderschule. Und nach wie vor werden mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderung dort unterrichtet und 72,7% von ihnen verlassen die Förderschule ohne Schulabschluss (Deutsches Institut für Menschenrechte, 2023). Die Exklusionskette von Menschen mit Behinderung beginnt demnach bereits in der Schule, was bereits hier zu unfairen Startvoraussetzungen führt und wird durch einen ableistischen und segregierten Arbeitsmarkt inklusive „Sondereinrichtungen“ fortgeführt, wodurch ein „Klassenaufstieg“ bei durchschnittlich verdienenden Eltern eher negativiert wird.

Zusätzlich konnte herausgestellt werden, dass 73% aller Lehrkräfte an inklusiveren Schulen überzeugt sind, dass Kinder mit Behinderungen oder mit sogenannten „sonderpädagogischem Förderbedarf“ bevorzugt an einer Förderschule unterreichtet werden sollten (Robert Bosch Stiftung, 2023). Hierbei spielen einerseits logistische Rahmenbedingungen eine Rolle wie z.B., dass nur jede zehnte Lehrkraft im Studium auf inklusiven Unterricht vorbereitet wurde. Aber auch implizite ableistische Annahmen, die intrapsychisch formuliert werden, können eine Rolle dabei spielen, warum Inklusion sowohl im Bildungswesen als auch auf dem Arbeitsmarkt bewusst nicht gewollt ist.

4. Psychoanalytische Überlegungen

Laut Statistischem Bundesamt (2024) sind lediglich 3% der Behinderungen in Deutschland angeboren und die restlichen 97% erworbene Behinderungen (91% aufgrund einer Erkrankung, 1% Unfälle, 5% Sonstige). Die Konfrontation mit Behinderung kann bei Menschen ohne Behinderung tiefsitzende Ängste hervorrufen, weswegen die Psyche daraufhin häufig mit Abwehrmechanismen reagiert (Richarz, 2003). Abwehrmechanismen sind meist unbewusste Vorgänge der Psyche, welche dazu dienen, innerseelische als auch zwischenmenschliche Konflikte zu regulieren, um das seelische Gleichgewicht zu bewahren und Entlastung zu schaffen. Dabei sind sie nicht per se als pathologisch zu werten. Ein beispielhafter Abwehrmechanismus in diesem Zusammenhang wäre die Spaltung, welcher eine Reaktionsweise darstellt, um mit widersprüchlichen Gefühlen als auch starken Befürchtungen zurecht zu kommen. Hierbei wird ein Merkmal in zwei klar voneinander getrennte diametral gegenüberstehende Pole (z.B. Behinderung oder nicht-Behinderung) aufgeteilt, bei welchem ein Pol als erstrebenswert gilt, während der andere entwertet werden muss. Der Vorteil, den sich die Psyche hierbei verspricht, ist, dass die Welt als ein sicherer Ort erscheint und es vor den Gefühlen der Überwältigung und Angst schützt (Richarz, 2003). Doch welche Bedrohung erlebt die Psyche als so stark, dass sie beim Thema Behinderung auf Spaltung zurückgreift? Um dies zu verstehen, lohnt sich ein genauerer Blick auf die dahinterliegenden Ängste.

Die Ängste von nichtbehinderten Menschen könnten z.B. darum kreisen, dass der Körper oder die Seele irgendwann nicht mehr Mittel zum Zweck sind, in einer Gesellschaft die v.a. auf neoliberalen Kapitalismus setzt, bei dem der „Wert“ eines (nicht-kapitalbesitzenden) Menschen von dessen Arbeitskraft und -fähigkeit abhängig gemacht wird. Was damit einhergeht ist auch die Angst, dass der eigene Körper oder die Seele einem selbst Grenzen setzt bzw. Schmerzen bereitet oder im Körper und der Seele Prozesse ablaufen, welche sich trotz aller Bemühungen nicht beherrschen lassen. Diese Angst über fehlende Handlungsfähigkeit geht wiederum mit Angst vor Abhängigkeit von Anderen einher (Langnickel & Link, 2019; Schönwiese, 2003). Dies kann zur Folge haben, dass auf individueller Ebene Gefühle des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht und Hilflosigkeit entstehen aufgrund der Angst vor dem Unkontrollierbaren, vor der eigenen Begrenztheit im Handeln und der Konfrontation mit der als Bedrohung wahrgenommen eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit (Egen & Waldhoff, 2023). Um all diese Ängste nicht zulassen zu müssen, wird also auf Spaltung gesetzt, welche auf Dauer aber immer mehr Aufwand bedarf und die dahinterliegenden Ängste nicht verschwinden lässt.

Spaltung geht deswegen häufig mit Rationalisierungen einher. Dies ist ein Abwehrmechanismus, den die Psyche verwendet, um einem vordergründig „sinnvolle“ Erklärungen und Begründungen aufzutischen, warum in diesem Fall Menschen mit Behinderungen abgewertet oder ferngehalten werden müssen und Inklusion auf allen Ebenen verhindert werden muss. Da Inklusion die Grenzen verwischen würde und die Konfrontation mit Ängsten schafft, weswegen dann z.B. öffentliche Räume, Schulen oder Arbeitsplätze so geschaffen werden, dass die Wahrscheinlichkeit der Begegnung sinkt.

5. Fazit

Bei der Analyse der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Behinderung hat sich gezeigt, dass insbesondere das medizinische Modell ableistische hegemoniale Normalitätsvorstellungen geprägt hat. Umso bereichernder ist es daher, dass in Behindertenorganisationen und den Disability Studies nach neuen Wegen gesucht wurde, die Konstruktion von (Nicht-)Behinderung und die dahinterstehenden Machtstrukturen zu verstehen, welche Behinderung zu einem Produkt sozialer, kultureller und politischer Prozesse macht. Denn durch institutionelle, strukturelle und psychologische Prozesse werden Normalitätsgrenzen gezogen, die bestimmte Körper und Lebensrealitäten ausschließen und eine hegemoniale Ordnung der Norm stabilisieren.

Eine intersektionale Betrachtung macht zudem deutlich, dass Behinderung in kapitalistischen Gesellschaften häufig mit anderen Differenzkategorien wie Klasse verwoben ist. Die ökonomische Abwertung von Menschen mit Behinderung ist nicht zufällig, sondern systemimmanent. Die Analyse verdeutlicht daher, dass eine inklusive Gesellschaft nicht allein durch den Abbau physischer Barrieren erreicht werden kann, sondern eine tiefgreifende Kritik an den bestehenden Machtverhältnissen und den dahinterliegenden Normalitätsvorstellungen erfordert.

Literaturverzeichnis

Aktion Mensch e.V. (2024). Inklusionsbarometer Arbeit 2024. https://www.aktion-mensch.de/inklusion/arbeit/zahlen-daten-fakten

Behrisch, B. (2016). Anerkennung von Menschen mit Behinderung als Thema von Diversity. In P. Genkova & T. Ringeisen (Eds.), Handbuch Diversity Kompetenz: Band 2: Gegenstandsbereiche (pp. 437-448). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-08853-8_34

Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V. (2024). 

Jahresbericht der BAG WfBM 2023.Abgerufen am 21. Februar 2025, von https://www.bagwfbm.de/category/104

Deutsches Institut für Menschenrechte. (2023). Parallelbericht an den UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zum 2./3. Staatenprüfverfahren Deutschlands.  https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/parallelbericht-an-den-un-ausschuss-fuer-die-rechte-von-menschen-mit-behinderungen-zum-23-staatenpruefverfahren-deutschlands

Die Neue Norm. (2024). Acht Punkte: Kritik an Werkstätten für behinderte Menschenhttps://dieneuenorm.de/arbeit/acht-punkte-kritik-an-werkstaetten-fuer-behinderte-menschen/

Dobusch, L., & Wechuli, Y. (2022). Disability Studies. In A. M. Biele Mefebue, A. D. Bührmann, S. Grenz, B. En, & K. Jäntschi (Hrsg.), Handbuch Intersektionalitätsforschung (S. 51-64). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26292-1

Egen, C., & Waldhoff, H.-P. (2023). Modelle von Behinderung und historische Entwicklungslinien von Behinderungsprozessen. Ein prozesssoziologischer Versuch. Zeitschrift für Soziologie, 52(2), 191-212.

Engels, D., Deremetz, A., Schütz, H., Eibelshäuser, S., Pracht, A., Welti, F., & Drygalski, C. v. (2023). Studie zu einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen und deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt: Abschlussbericht.

Hartwig, S. (2020). Behinderung: Kulturwissenschaftliches Handbuch (1st Aufl 2020 edition ed.). J.B. Metzler.

Hirschberg, M. (2022). Modelle von Behinderung in den Disability Studies. In Handbuch Disability Studies (pp. 93-108). Springer.

Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik & Institut für angewandte Sozialwissenschaft (2023). BMAS – Studie zu einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen und deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Abschlussbericht. Bundesministerium für Arbeit und Soziales https://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/Forschungsberichte/fb626-entgeltsystem-wfbm.html     

Langnickel, R., & Link, P.-C. (2019). Strukturale Psychoanalyse und Inklusion: Zur Frage der Inkludierbarkeit eines gespaltenen Subjekts. Inklusion im Spannungsfeld von Normalität und Diversität, 83-90.

Maskos, R. (2015). Ableism und das Ideal des autonomen Fähig-Seins in der kapitalistischen Gesellschaft. Zeitschrift für Inklusion.

Robert Bosch Stiftung. (2023). Das Deutsche Schulbarometer: Aktuelle Herausforderungen aus Sicht der Lehrkräfte. Ergebnisse einer Befragung von Lehrkräften allgemein- und berufsbildender Schulen. https://www.boschstiftung.de/sites/default/files/publications/pdf/2023-11/Schulbarometer_Lehrkraefte_2023_FACTSHEET.pdf

Schönwiese, V. (2003). Angstabwehr und die Produktion von Behinderung. Gisela Hermes & Swantje Köbsell (Hg.), Disability Studies in Deutschland–Behinderung neu Denken. Dokumentation der Sommeruni, Kassel: bifos Schriftenreihe. S, 175-181.

Statistisches Bundesamt. (2024, 19. Juli). 7,9 Millionen schwerbehinderte Menschen leben in Deutschland. Destatis. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/07/PD24_281_227.html

Stechow, E. v., Hackstein, P., Müller, K., Esefeld, M., & Klocke, B. (2019). Inklusion im Spannungsfeld von Normalität und Diversität: Band I: Grundfragen der Bildung und Erziehung. Verlag Julius Klinkhardt.

Steven Solbrig. (2022). Wo wir stehen: Behinderung im Fokus. Diversity Arts Culture. https://diversity-arts-culture.berlin/magazin/wo-wir-stehen-behinderung-im-fokus

UPIAS [Union of the Physically Impaired Against Segregation] & The Disability Alliance. (1976). Fundamental principles of disability. UPIAS.

Waldschmidt, A. (2005). Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung? Psychologie und Gesellschaftskritik, 29(1), 9-31.

Waldschmidt, A. (2008). ‚Wir Normalen‘ – ‚Die Behinderten‘? Erving Goffman meets Michel Foucault. In: Rehberg, Karl-Siegbert (Hrsg.). Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Frankfurt am Main (Campus). S. 1-11.


Quelle: Nele Becker, Wie prägen gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen die Marginalisierung von Menschen mit Behinderung? in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 26.05.2025, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=505

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Captcha
Refresh
Hilfe
Hinweis / Hint
Das Captcha kann Kleinbuchstaben, Ziffern und die Sonderzeichzeichen »?!#%&« enthalten.
The captcha could contain lower case, numeric characters and special characters as »!#%&«.