Arielle, die Schwarze, dänische Meerjungfrau

Sofia Bucher (SoSe 2021)

Einer meiner liebsten Kinderfilme ist „Arielle, die kleine Meerjungfrau“. In diesem bekannten Disneyfilm geht es um die gleichnamige Protagonistin Arielle, die durch ihre roten Haare und helle Haut auffällt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Unterwasserstadt Atlantica, die irgendwo im Atlantik verortet wird. Ihr größter Wunsch ist es allerdings, an Land zu leben und ein Mensch sein zu dürfen. Nachdem sie sich in einen menschlichen Prinzen verliebt, wagt sie den Schritt ein Leben an Land zu beginnen. Als Kind fand ich die Story sehr rührend. Ich konnte mich mit Arielle gut identifizieren. Die letzte Filmversion von Arielle wurde 1989 veröffentlicht und ist dementsprechend ein wenig veraltet. Als Disney 2019 ankündigte eine Realverfilmung von Arielle zu produzieren, war ich sehr erfreut. Die Schauspielerin und Sängerin Halle Bailey sollte die Rolle der Arielle übernehmen. Die Auswahl sorgte teilweise für Aufruhr, da Halle Bailey Schwarz ist. Insofern verbildlicht sie nicht mehr Arielles roten Haare und ihre blasse Haut. Die Differenz zwischen dem Aussehen von Halle Bailey und dem traditionellen Bild von Arielle führte auch in meinem sozialen Umfeld zu Diskussionen. Die Frage, ob ich Halle Bailey als Besetzung für Arielle angebracht finde, beantwortete ich damals mit „Nein“. Als langer Fan kam es mir nicht richtig vor, in der Realverfilmung auf Arielles roten Haare und die blasse Haut zu verzichten. Meine Argumentation bezog sich vor allem auf ihre Haare, so sei eine blonde oder brünette Arielle genauso unpassend. Während des Gesprächs merkte ich zwar, dass mir die Tiefe für weitere Argumente fehlte, trotzdem blieb ich vorerst bei meiner Meinung. Da das Thema auch im Allgemeinen nicht besonders relevant für mich erschien, dachte ich zunächst nicht weiter darüber nach.

In diesem Essay möchte ich über Halle Bailey als Schwarze Arielle schreiben, und warum diese Besetzung nicht nur passend, sondern auch notwendig ist. Dazu setze ich die Neuverfilmung Arielles in einen Zusammenhang mit alten rassistischen Produktionen Disneys. Zudem möchte ich eine Reflektion über die Entwicklung meines eigenen Standpunkts im Zeitraum der letzten zwei Jahre beschreiben. Dabei thematisiere ich die Aufarbeitung meiner eigenen Rassismen auch im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung.

Die erste wichtige These in diesem Essay lautet also: Halle Bailey ist für Arielle die richtige Besetzung. Unter dem Hashtag #notmyariel sammeln sich im Internet Kritiken, die sich auf die Haut- und Haarfarbe Halle Baileys beziehen. Arielle sei Dänin und somit sei ihre Schwarze Hautfarbe unpassend. Disney gab dazu im Juli 2019 über den Twitteraccount „Freeform“ ein Statement ab: Der Autor sei zwar Däne, aber der fiktive Charakter Arielle lebe in der Unterwasserstadt Atlantica im Atlantik und sei von weltlichen Nationalitäten ungebunden. Zudem gäbe es auch Schwarze Dän:innen und daher seien auch Schwarze dänische Meerjungfrauen in der Fiktion möglich. Weiterhin verwies Disney auf das herausragende Talent Halles und bedeutete den Kritikern auf dieses das Augenmerk zu legen, statt auf die angeblich nicht passende Hautfarbe (Freeform, 2019).

Dass Disney so auf rassistische Anfeindungen an eine ihrer Schauspieler:innen reagiert ist erfreulich, aber nicht unbedingt selbstverständlich. In der Vergangenheit musste Disney selbst mit Rassismusvorwürfen umgehen. In der Kritik standen einige Disneyproduktionen, beispielsweise „das Dschungelbuch“ oder „Dumbo“. Die Darstellung von Kulturen sei in diesen Filmen problematisch. Disney verwendet in seinen Produktionen das stilistische Mittel Anthropomorphismus, indem menschliche Eigenschaften auf Tiere übertragen werden. Die Darstellung der Tiere reproduziert Stereotype von verschiedenen, oft marginalisierten, Kulturen. Ein Beispiel hierfür ist der Affe „King Louis“ aus „das Dschungelbuch“. Der Affe verkörpert typische Eigenschaften eines Schwarzen Menschen. Erkennbar wird dies durch den gesprochenen Slang oder auch King Louis´ Vorliebe zum Jazz. Der Affe als Karikatur eines Schwarzen ist zudem eine leider sehr übliche, rassistische Darstellung. King Louis singt im Film: „I wanna be like you“. Er wäre gerne ein Mensch. Hierbei spielt vor allem der zeitliche Kontext des Films eine Rolle. Das Dschungelbuch erschien 1967 in den USA, zu Zeiten Schwarzer Revolution und Bürgerrechtsbewegung. Die Darstellung des King Louis ist wie eine sehr unangebrachte Satire dieses Strebens nach Gleichberechtigung (Willmann, o. D.).

Der 1941 erschienene Disneyklassiker „Dumbo“ beginnt mit einer Szene, in der Schwarze Männer ein Zirkuszelt aufbauen. Die Schwarzen Männer haben kein Gesicht und somit keinen individuellen Charakter. Während der Arbeit singen sie den „Song of the Roustabouts“:

We work all day, we work all night, we never learned to read or write, we´re happy-hearted roustabouts. […] We slave until we´re almost dead, we´re happy-hearted roustabouts. […] We don´t know when we get our pay, and when we do, we throw our pay away, we get our pay when children say with happy hearts: It´s circus day today. […] Grab that rope, you hairy ape!

Disney, Sharpsteen, 00:13:24-00:15:12

Der Text erweckt den Eindruck, die Hilfsarbeitenden würden die harte Arbeit unter schlechten Bedingungen gerne machen und dabei fröhlich sein. Sie müssen arbeiten, bis sie fast tot umfallen und sie wissen auch nicht, wann sie für ihre Arbeit entlohnt werden. Jedoch mache es ihnen nichts aus, weil glückliche Kinder im Zirkus Lohn genug sind. Dass sie den Lohn direkt wieder „zum Fenster rauswerfen“, bedient weitere abwertende Stereotype von Schwarzen. Zum Ende des Lieds wird ein „haariger Affe“ dazu aufgefordert, ein Seil zu packen. Zum einen wiederholt sich hier das rassistische Symboldbild des Affens, wenn über Schwarze gesprochen wird. Zum anderen werden hier schlechte Arbeitsbedingungen verharmlost. Schwarze seien mit ihrer Position in der Gesellschaft zufrieden, weil die Freude von Weißen (hier weißen Kindern) ihnen genug Lohnt bringt. Später im Film gibt es weitere Formen von Anthropomorphismus. Die Krähen, die dem Protagonisten Dumbo beim Fliegen helfen, symbolisieren erneut stereotypische Eigenschaften von Afroamerikaner:innen. Erkennbar wird dies wieder durch den gesprochenen Slang, einem südlichen Akzent und schlechter Grammatik (Willets, 2013). Der Anführer der Krähen trägt den Namen Jim Crow. Dieser Name verweist auf die Jim-Crow-Ära (ca. 1877- 1965) in den USA. Wichtig für die Zeit waren die Jim-Crow Gesetze. (Triggerwarnung: Sehr menschenverachtende Weltansicht) Die Ideologie hinter den Gesetzen beschreibt Schwarze als minderwertig, und probiert so die „Rassentrennung“ und Ungerechtigkeiten gegenüber der Schwarzen Bevölkerung zu legitimieren. Die Minderwertigkeit Schwarzer zeige sich durch verminderte Intelligenz, schlechter Moralvorstellungen und unzivilisiertem Verhalten. Eine Gleichstellung von Weißen und Schwarzen würde zu ungewollten sexuellen Beziehungen führen. Dies wiederum führe zur „gemischten Rasse“, was in der Zerstörung der USA enden würde. Um dies zu verhindern, bestimmen die Jim-Crow-Gesetze den Umgang mit Schwarzen. Schwarze durften Weißen nicht die Hand anbieten, Frauen nicht zu nahekommen, oder gemeinsam mit Weißen an einem Tisch sitzen. Auch Intimität unter Schwarzen Menschen sei in der Öffentlichkeit verboten, da diese weiße Menschen beleidigen könnte (Pilgrim, 2012). Solche und ähnliche Verhaltensregeln bestimmten das Leben von Schwarzen Menschen. Den Raben in Dumbo nach dieser Ära zu benennen, ist demnach sehr bedeutungsträchtig.

Insgesamt lässt sich zusammenfassen, dass in Disneyfilmen marginalisierte Gruppen und diverse Kulturen sehr stereotypisch dargestellt werden. Die fehlende Repräsentation von Diversität auch innerhalb einer Kultur ist ein Problem. Dabei geht es nicht nur um das Fehlen von BIPoC-Charakteren, sondern um die einseitige Darstellung. BIPoC-Charaktere übernehmen immer wieder dieselben Rollen und bedienen damit immer gleichbleibende Narrative, wodurch die Gefahr einer „Single Story“ entsteht. Der Begriff ist geprägt durch Chimamanda Ngozi Adichie. Adichie ist eine nigerianische Schriftstellerin, die sich selbst als Geschichtenerzählerin beschreibt. Über Single Stories spricht sie 2009 in dem TedTalk „The Danger of a Single Story“. Eine Single Story entstehe, wenn eine gleiche Geschichte immer wieder erzählt werde. Wenn Charakteren mit einer bestimmten Herkunft oder Aussehen in Filmen oder Serien immer dieselben Charaktereigenschaften zugeschrieben werden, entsteht beim Rezipienten ein sehr einseitiges Bild. So wird davon ausgegangen, dass Menschen, die ein bestimmtes Aussehen haben, sich auch dementsprechend verhalten: „So that is how to create a single story, show a people as one thing, as only one thing, over and over again, and that is what they become“ (Adichie, 2009, 09:17). Als Beispiel für eine Single Story erzählt die nigerianische Adichie, wie sie zum Studieren in die USA zieht. Ihre Mitbewohnerin konfrontiert sie dort mit sehr spezifischen Erwartungen. Sie ist überrascht, dass Adichie fließend Englisch spricht, obwohl Englisch die Amtssprache Nigerias ist. Als Musikgeschmack erwartet die Mitbewohnerin traditionelle, nigerianische Musik und ist wieder überrascht, dass Adichie gerne Mariah Carey hört. Adichie merkt, dass die Mitbewohnerin ihr nicht nur voreingenommen gegenübertritt, sondern sogar Mitleid mit ihr hat, bevor das erste Gespräch zustande kommen konnte. Adichie wird in diesem Moment das Opfer einer Single Story. Das Bild von Afrikaner:innen ist vor allem durch westliche Literatur und Medien geprägt, die ein sehr einseitiges Bild präsentieren Menschen, die in Armut und unter schlechten Lebensbedingungen leben und Kriege führen.  Menschen, die nicht für sich selbst sprechen können und einen Weißen brauchen, der sie rettet. Durch diese Voreingenommenheit war es den Beiden unmöglich, sich auf Augenhöhe zu begegnen (Adichie, 2009).

Disneycharaktere wie „King Louis“ aus „das Dschungelbuch“, die Schwarzen Hilfsarbeiter, die in „Dumbo“ nachts ein Zelt aufbauen, oder auch Jim Crow sind ein Teil von der Single Story, die über Schwarze erzählt wird. Indem Kinder diese Filme sehen, werden Rassismen immer weiter reproduziert. Obwohl „Rassentrennung“ offiziell abgeschafft ist und Schwarze Menschen gesetzlich gleichgestellt sind, bleiben abwertende stereotypische Vorstellungen von marginalisierten Gruppen tief in den Köpfen der Menschen, und so in der Gesellschaft erhalten. Disney erkennt dieses Problem an und reagiert mit der „Stories-Matter“ Kampagne. Disney selbst erklärt den Inhalt der Kampagne so:

Stories shape how we see ourselves and everyone around us. So as storytellers, we have the power and responsibility to not only uplift and inspire, but also consciously, purposefully and relentlessly champion the spectrum of voices and perspectives in our world. […] Because happily ever after doesn´t just happen. It takes effort. Effort we are making.

The Walt Disney Company, Stories Matter, o. D

Im Zuge der Kampagne untersucht Disney seine Produktionen auf diskriminierende Inhalte. Anstatt die Filme jedoch zu löschen, versehen sie problematische Inhalte mit einer Warnung: Das nachfolgende Programm enthalte „eine nicht korrekte [Darstellung und] Behandlung von Menschen oder Kulturen“ (The Walt Disney Company, Stories Matter, o. D). Zudem wird auf die Internetseite Disneys verwiesen, die die Kampagne „Stories-Matter“ beschreibt. Dort finden Interessierte detaillierte Ausführungen über problematische Inhalte in exemplarischen Disneyproduktionen. Disney wünsche sich mit dieser Geste Diskussionen anzuregen. Die Geschichte könne im Nachhinein nicht mehr geändert werden. Die Filme zu löschen und so zu tun als sei nie etwas passiert sei die falsche Botschaft. Stattdessen müssen Rassismen aktiv aufgearbeitet, statt vergessen werden. Zur Aufarbeitung seien externe Experten hinzugezogen worden (The Walt Disney Company, Stories Matter, o. D).

Disneys Verpflichtung zu mehr Diversität, Inklusion und Repräsentation kann neben den Warnungen bei alten Filmen besonders gut durch neue Produktionen umgesetzt werden. Neu- und Realverfilmungen von Disneyklassikern sollten hierfür als Chance begriffen werden. In der Originalfassung „Arielle die Meerjungfrau“ von 1989 gibt es zwar keine stereotypische Darstellung von BIPoC-Charakteren, allerdings fehlt hier die Repräsentation komplett. In der Unterwasserstadt „Atlantica“ leben ausschließlich weiße Meermenschen. Auch der Menschenprinz Eric und seine Familie sind weiß. Im Film Arielle werden zwar keine stereotypischen Eigenschaften von Schwarzen reproduziert, jedoch ist die fehlende Repräsentation genauso schädlich. In der Realverfilmung konnte dieses Versäumnis aufgeholt werden, indem Rollen inklusiver besetzt wurden. Eine Schwarze Meerprinzessin, bei der keine üblichen Narrative bedient, oder Rollenklischees ausgefüllt werden.

Um diese Entwicklung als Erfolg anerkennen zu können, braucht es eine Sensibilisierung für gesellschaftlich aufrechterhaltene Rassismen und Diskriminierungen. Zuerst muss das Problem erkannt werden, bevor ein Lösungsschritt seine Relevanz zeigt. Mein Weg dieser Sensibilisierung und Aufarbeitung eigener rassistischer Denkmuster möchte ich an diesem Beispiel reflektieren. Vor zwei Jahren hätte ich Arielle gerne rothaarig und weiß gehabt, da ich wollte, dass sie genauso aussieht wie in dem Originalfilm von 1989. Während meiner Kindheit konnte ich mich mit einigen Disneyprinzessinnen identifizieren, da sie so aussahen wie ich: weiß und blond. Dass diese Identifikationsmöglichkeit ein Privileg ist, habe ich nicht erkannt. Infolgedessen habe ich auch das dahinterliegende Problem nicht realisiert. Auch in meiner Argumentation vor zwei Jahren, habe ich nicht berücksichtigt, dass es ein grundlegendes Inklusions- und Repräsentationsdefizit in Disneys Klassikern gibt. Auch dass ich mich nicht zwangsläufig mit Rassismus auseinandersetzen musste, ist ein Privileg. Dieses Privileg teile ich mir mit anderen weiß-positionierten Menschen. Zuletzt möchte ich in diesem Essay ausführen, wie ich als weiß-positionierter Mensch mit Rassismus umgehen kann und welche Rolle meine Perspektive spielt.

Sowie sich Schwarz nicht unbedingt auf die Hautfarbe bezieht, beschreibt Weißsein eine soziale Position. Die Position sollte immer im Kontext alter kolonialer Machtstrukturen betrachtet werden. Privilegien von Weißen konnten nur entstehen, indem Schwarze Menschen ausgebeutet wurden. Die Legitimierung der Ausbeutung erfolgte über das Herabsetzen von Schwarzen Menschen. Denkweisen und Machtstrukturen wie diese, haben sich bis heute erhalten. Immer noch profitieren weiße Menschen, während BIPoC in vielen Hinsichten benachteiligt sind. Diese Benachteiligung erfolgt oft auf struktureller Ebene und ist somit nicht immer leicht zu erkennen oder zu begreifen. Rassismus ist insofern oft auch kein absichtsvolles Verhalten, sondern etwas, dass unbewusst geschieht. Bei der Bekämpfung von Rassismus spielt diese Erkenntnis eine große Rolle. Menschen mit weißer Positionierung werden in bestimmte Machtstrukturen reingeboren. Sie werden in einer rassistischen Welt sozialisiert und übernehmen automatisch diskriminierende Denkstrukturen. Rassismus wird so auf einer unbewussten Ebene erlernt. Es erfolgt keine bewusste Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Im Gegensatz dazu erfordert die Überwindung ein aktives Verlernen (Bönkost, 2016). Dies stellt weiße Menschen vor eine emotionale Herausforderung: Die einzige Begegnung, die man als weißer Mensch mit Rassismus hat, ist die der Verteufelung. Das Schlechte in Rassismus zu sehen kann jeder. Schwierig ist jedoch die Anerkennung des Mitwirkens am Problem und eigene verinnerlichte Rassismen. Weiße Sozialisierung bedeutet Rassismus zu verleugnen, „farbenblind“ zu werden und so weiße Privilegien aufrecht zu erhalten. Die eigene Position wird nicht mehr als weiß wahrgenommen, da (angeblich) gar keine Position bezogen wird. Diese Sozialisierung erschwert später die Beschäftigung mit Rassismus. Die Konfrontation mit dem Thema ist emotional belastend. Zu diesen Emotionen gehören Scham, Wut, Ängste und vor allem auch Ablehnung. Dies führt zu dem Einnehmen einer Abwehrhaltung und die Beschäftigung mit Rassismus wird zunehmend schwieriger (Engelhardt, 2018).

Als ich über Arielles Besetzung in der Realverfilmung diskutiert habe, habe ich meine eigene Position nicht als eine Weiße erkennen können. Ich habe auch das Rassismusproblem in dieser Debatte nicht erkannt. Die Konfrontation mit der Kritik an meiner Haltung löste bei mir zuerst Unbehagen aus. Ich fühlte mich zu Unrecht beschuldigt, da ich mich selbst nicht als rassistischen Menschen gesehen habe. Infolgedessen verhärtete sich meine Position als Abwehrreaktion. Im folgenden Jahr 2020 wurde es mir allerdings unmöglich, den Rassismus in Deutschland weiter zu ignorieren. Die Black-Lives-Matter-Bewegung gewann nach dem Tod des US-Amerikaners George Floyd auch in Deutschland an Popularität und füllte meinen Social-Media-Feed. Besonders oft begegnete mir der Satz: Wenn du nicht antirassistisch bist, bist du rassistisch. Nachdem ich die anfänglich unbehaglichen Gefühle beiseiteschieben konnte, informierte ich mich über Rassismus in Deutschland. Durch die Beschäftigung mit dem Thema wurde mir die Problematik erst mehr und mehr bewusst. Erst durch das Anerkennen von Rassismus als Problem und meiner eigenen weißen Positionierung konnte ich mir meine eigenen Rassismen eingestehen. Ich habe erkannt, dass antirassistisches Verhalten ein langer Weg ist, an dem aktiv und langfristig gearbeitet werden muss. Auch die Recherche für diesen Essay hat mich erneut motiviert weiter an mir zu arbeiten.

Literaturverzeichnis

Adichie, C. (2009). The danger of a single story. [Video]. Ted. https://www.ted.com/talks/chimamanda_ngozi_adichie_the_danger_of_a_single_story/transcript

Bönkost, J. (2016). Weiße Emotionen – Wenn Hochschullehre Rassismus thematisiert. IDB Paper. No.1, https://diskriminierungsfreie-bildung.de/wp-content/uploads/2016/07/IDB-Paper-No-1_Wei%C3%9Fe-Emotionen.pdf

Disney, W. (Produktion), & Sharpsteen, B. (Regisseur). (1941). Dumbo [Film]. USA.

Engelhardt, A. A. (2018). Raus aus Happyland: Zum Umgang mit Scham in der rassismuskritischen Bildungsarbeit (Masterarbeit, Sigmund Freud Privat Universität Berlin). WUS. https://www.wusgermany.de/de/wus-service/wus-aktuelles/wus-foerderpreis/wus-foerderpreis-2019/raus-aus-happyland-zum-umgang-mit-scham-der-rassismuskritischen-bildungsarbeit-0

Freeform. [FreeformTV]. (2019, 7.Juli). An open letter to the Poor, Unfortunate Souls [Tweet] [Link enthalten]. Twitter. https://twitter.com/FreeformTV/status/1147647797732106240

Pilgrim, D. (2012). What was Jim Crow. Ferris State University. Jim Crow Museum of Racist Memorabilia. https://www.ferris.edu/jimcrow/what.htm

The Walt Disney Company. (o. D.) Stories Matter. https://storiesmatter.thewaltdisneycompany.com/

Willets, K. R. (2013). Cannibals and Coons: Blackness in the Early Days of Walt Disney. In J. Cheu (Hrsg.), Diversity in Disney films : critical essays on race, ethnicity, gender, sexuality and disability (1. Aufl., S. 9-22). London, UK: MacFarland & Company, Inc.

Willmann, T. (o. D.) Das Dschungelbuch. Artechock. https://www.artechock.de/film/text/kritik/d/dschun.htm#oben


Quelle: Sofia Bucher, Arielle, die Schwarze dänische Meerjungfrau, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 10.01.2022, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2022/01/10/arielle-die-schwarze-daenische-meerjungfrau/

Racial Profiling und die Polizei

Eine Überlegung bezüglich institutionellem Rassismus und dessen Überwindung

Vio Beetz (SoSe 2021)

Einleitung

Laut dem Grundgesetz ist Racial Profiling verboten, da es gegen die Menschenwürde verstößt, in dem Menschen nach ihrem Äußeren kategorisiert und sie zusätzlich auch noch direkt staatlichem Agieren unterwirft, denn die Polizei ist Bestandteil der Exekutive und handelt damit als Staatsgewalt.

Nicht nur dieses Verbot, sondern auch die Beachtung der Menschenwürde scheinen aber immer wieder strukturell vernachlässigt zu werden, nett zu umschreiben. Ein Beispiel dafür ist der Fall des Todes von Qusay Khalaf, der am 5. März 2021 nach einer Polizeikontrolle und darauf folgendem Gewahrsam im Krankenhaus verstarb. Qusay wurde 19 Jahre alt. Er war vor einer Kontrolle durch Zivilpolizist*innen geflohen, eingeholt, festgehalten, auf dem Bauch fixiert und dann mitgenommen worden. Hilfe wurde ihm erst zu spät geleistet, sodass er im Krankenhaus verstarb.1 Ein bekannterer Fall von Ingewahrsamnahme und darauf folgendem Tod ist der von Oury Jalloh 2005. Oury Jalloh verbrannte in einer Zelle in der Untersuchungshaft in Dessau nach seiner Festnahme durch die Polizei. Beide Fälle sind bis jetzt nicht ausreichend aufgeklärt, es gibt keine wider-spruchsfreien Tatverläufe, ebenso sind keine Gerichtsverfahren zu für die Betroffenen zufriedenstellenden Urteile gekommen. Bei beiden Fällen ist hervorzuheben, dass es sich bei den Toten um BI_PoC handelte und dass es Geflüchtete waren, also gesellschaftlich Marginalisierte. Beide wurden ohne direkte Grundlage kontrolliert.2

Das folgende Essay soll sich mit dem Thema „Racial Profiling“ auseinandersetzen. Kurz zusammengefasst handelt es sich dabei um Polizeikontrollen, die aufgrund von gesellschaftlicher Positioning bei bestimmten Personen durchgeführt werden. Polizeikontrollen sind nicht zwangsläufig Racial Profiling und von Rassimus Betroffene sind nicht die einzigen Menschen, die unter Polizeikontrollen leiden, auch andere Faktoren spielen eine Rolle. Diese Thematik findet leider keinen Platz im folgenden Text, auch weil die Verbindungen zum Seminar fehlt, in dem vor allem Rassismen und Sexismen im globalen Norden durch weiterhin bestehende koloniale Strukturen auf individueller Ebene besprochen wurden. Die Auseinandersetzung mit der Systematik soll nun hier anschließen.

Als theoretische Basis ist dafür die postkoloniale Theorie gegeben. Wie immer kann keine vollumfängliche Analyse geboten werden, aber es folgt ein Versuch der historischen und politischen Kontextualisierung im Globalen Norden. Wie weit im Anschluss an das Seminar bei dieser Systematik von einer „single story“ (nach Chimamanda Adichie3) innerhalb des Systems gesprochen werden kann, wird sich zeigen. Auch bleiben dabei strukturelle Diskriminierungsmuster wie die Bedeutung von Klasse oder Ableismus auf der Strecke.

Insgesamt geht dieses Essay jedoch nicht nur auf Racial Profiling, dessen Grundlage und die gerade schon gezeigten Folgen ein, sondern es will auch Lösung und Ideen für dessen Überwindung bis hin zur Veränderung des aktuellen Rechtssystems ansprechen. Dabei ist vorab noch wichtig zu sagen: Die folgende Diskussion basiert auch darauf, dass die systematische Verknüpfung von Rassismus und der Polizei dafür sorgt, dass es nur zweitrangig um die Position der Polizist*innen selbst geht, die teilweise ja auch selbst von Rassismus betroffen sein können, sondern dass das gesamte System in sich rassistisch ist.

Die Basis für diese Auseinandersetzung soll durch zwei Essays im Sammelband „Kritik der Polizei“ und ein Essay zu Abolitionismus von Vanessa E. Thompson bilden. Es kommen dabei ebenso aktivistische Stimmen zu Wort, wie in vielen Fällen wird sich hier ebenfalls politisches Plädoyer und wissenschaftliche Arbeit aufgrund der Basis nur bedingt trennen lassen. Der Versuch der Trennung wäre aber auch aufgrund meiner Positionierung und meines Bias heraus nur bedingt sinnvoll und möglich. Mein Bias, also meine Voreinstellung und meine Haltung, basiert auf dem Gedanken der Gleichwertigkeit aller Menschen. Dementsprechend lehne ich Diskriminierungsformen wie Rassismus und Sexismus grundlegend ab und versuche auch persönliche verinnerlichte Formen dieser zu reflektieren und abzulegen.

Dieser Essay ist aus meiner weißen Perspektive geschrieben, das heißt ich bin nicht negativ von Rassismus betroffen und dementsprechend auch nicht von Racial Profiling durch die Polizei.

1. Eine kleine theoretische und historische Einführung

Ich werde hier versuchen, einen kleinen theoretischen Rahmen zu schaffen, von dem aus eine Kritik der Polizei anhand der Praktik des Racial Profiling erst eingeordnet werden kann.

Dabei ist grundlegend erstmal auf die Zusammenhänge von Polizei und Kolonialität einzugehen. Es ist wichtig zu betrachten, dass die Polizei als Institution in der Entstehung eng mit Kolonialität verwoben ist. Polizeistrukturen sind teilweise erst in den Kolonien erprobt um dann auch in den Ländern des globalen Nordens Verwendung zu finden.4 Dabei finden sich Vorlaufsmodelle der Polizei schon im 17. und frühen 18. Jahrhundert direkt innerhalb der Sklavereiwirtschaft und zur Aufrechterhaltung der Sklaverei in den Amerikas, z.B. bei Sklavenpatrouillen, die unter anderem für das Gewaltsame zurückzwingen von Sklav*innen nach ihrer zunächst erfolgreichen Flucht fungierten.5

Wie genau dieses Polizieren6 als Sicherung der rassistischen Unterdrückung in der Zeit der Sklaverei vor allem in den sog. Südstaaten zu Zeiten der britischen Kolonisierung bis hin zur Auflösung der Sklaverei erfolgte, wird im Aufsatz von Sally Hadden dargelegt. Der Aufsatz zeigt vor allem, dass dieses Polizieren anfangs beinahe alleinig der afroamerikanischen Bevölkerung gilt und systematisch allen Weißen dieses Polizieren auferlegt wurde, bis sich dies in Sklavenpatrouillen rechtlich institutionalisierte. Dies wird erst mit der Auflösung der Sklaverei (im Jahr 1865 am Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs) aus dem institutionellen Hintergrund genommen und findet seine direkte Kontinuität im Ku Klux Klan, jedoch finden sich direkte Aspekte ebendieser Praktik auch in der separaten Behandlung Schwarzer Menschen während der Jim-Crow-Gesetze Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts. Diese explizite Kontinuität der sog. „Rassentrennung“ auf Basis rassistischer white supremacy findet sich bis heute.7

Zusammenhänge entstehen bei der Strategie des Polizierens hierbei vor allem „um die Einhegung von Menschen für die Ausbeutung und Produktivmachung“8.

Ebenfalls muss der Umgang der Polizei mit Menschen als Objekte des polizeilichen Wirkens thematisiert werden: Nicht nur sind alle Subjekte in unserer Gesellschaft vergeschlechtlicht und rassifiziert, d.h. diese Merkmale werden durch gesellschaftliche Diskurse zugeschrieben und größtenteils übernommen, sondern sie werden auch dementsprechend poliziert.9

Dies deckt die Subjekttheorie nach Louis Althusser der zu polizierenden Subjekte nicht ab, in der die Ausgangssituation mit dem Anruf „Hey, Sie da!“ von der Polizei im öffentlichen Raum gegenüber einer Position stattfindet, wenn diese sich angesprochen fühlt und sich dem Ansprechenden zuwendet, ist sie Rechtssubjekt. Thompson kritisiert in ihrem Essay mithilfe von Fanon daran, dass dies nur für die privilegierten Teile der Bevölkerung gilt.10 Die von der Vergeschlechtlichung und Rassifizierung nicht privilegierten Positionen (privilegiert sind im Kern vor allem weiße und männliche Subjekte) werde nie als Subjekte, sondern immer als Objekt des polizierens genannt, was sich auch schon daran zeigt, dass Menschen ohne diese Privilegien „durch rassistische und institutionalisierte Arrangements selbst bei den Behörden geduzt [werden].“11 Dieser weiße Blick auf schwarze Subjekte in der Gesellschaft findet durch die weiße Gesellschaft auch außerhalb des direkten Polizierens statt und spiegelt sich im Alltagsrassimus der weißen Gesellschaften des Globalen Nordens.12

2. Racial Profiling als rassistische Polizeipraxis

Racial Profiling soll im Folgenden als Praxis des Polizeiwirkens untersucht werden. Definieren lässt dieses sich wie folgt: „Racial Profiling tritt auf, wenn Polizei und private Sicherheitsdienste Menschen of colour auf Grundlage von zugeschriebener ,Rasse‘, Ethnizität, Herkunftsland oder Religion entwürdigenden und oft furchteinflößenden Verhaftungen, Befragungen und Durchsuchungen unterwirft, ohne dass ein Beweis für eine kriminelle Handlung vorliegt.“13 Dies lässt sich als Form von Institutionellem Rassismus einordnen, da es ein Mittel ist, um die Vorherrschaft weißer Positionierung in der Gesellschaft zu erhalten. Dies mag nicht immer aus persönlichen Intentionen heraus passieren, diese spielen jedoch auch eine wichtige Rolle in ihrer Prägung des Diskurses. Denn die vermehrte Kontrolle von Menschen aufgrund der vorher genannten Merkmale ist nicht nur  rassistisch, sondern schlägt sich auch in den Statistiken der Polizei nieder, die weiterhin die Definitionshoheit über ihre eigene Arbeit besitzt und staatliches Instrument ist.14 Aufgrund von Berichterstattung über die Polizeistatistiken, die Gewalt bei Schwarzen Menschen und Menschen of colour häufiger vermerken, da diese häufiger kontrolliert werden als der Rest der Gesellschaft. Das bedient rassistische Stereotype, vor allem das von Kriminalität und Unzivilisiertheit bei B_PoC.15 Diese rassistischen Stereotype finden sich bei allen weißen Menschen der Gesellschaften des Globalen Nordens, wie Peggy McIntosh aufzeigt.16

Racial Profiling findet dabei vor allem an Orten statt, an denen „Verdachtsunabhängige und anlasslose Kontrollen“ legal durchgeführt werden dürfen, an sog. kriminalitätsbelasteten Orten, oft auch einfach „gefährliche Orte“ genannt.17 In Berlin gibt es sieben solcher Orte, eine der bekanntesten ist der Görlitzer Park, der unlängst auch in einer Dokumentation vom Y-Kollektiv versucht wurde zu charakterisieren.18 Ebenfalls sind diese Kontrollen an Bahnhöfen, Flughäfen und in Grenznähe möglich. Dabei ist es der Polizei juristisch erlaubt, Menschen ohne konkreten Anlass zu befragen, zu kontrollieren oder eine Identitätskontrolle durchzuführen.19 Das mag in dieser Form tendenziell harmlos klingen, jedoch sei hier noch einmal die inhärente Gewalttätigkeit des bereits oben genannten weißen Blickes einerseits als auch die Demütigungen und die Gewalt im öffentlichen Raum und damit die Bloßstellung hervorgehoben. Ein noch wesentlicher Bestandteil ist, dass es dabei immer wieder zu massiver Polizeigewalt und auch regelmäßig zum Tod von vor allem Schwarzen Menschen kommt, sowohl in Deutschland und Frankreich,20 als auch in anderen Ländern des Globalen Nordens wie den USA, wo der Tod von George Floyd massive Proteste auslöste, ähnlich wie schon Jahre zuvor die Kontrolle von Rodney King. Hier könnte eine ewig lange Abfolge an Vorfällen geschildert werden, siehe dafür unter anderem Vanessa Thompson (2018, S. 208 und 209).

Gleichzeitig sind bei den Behörden keinerlei Statistiken über das Ausüben von Racial Profiling vorzufinden, weshalb vor allem auf zivilgesellschaftliche Initiativen Bezug genommen werden muss, wenn es um die Erhebung von Daten geht. Diese gehen oft auf Berichte von Betroffenen ein; dies setzt voraus, dass die Betroffenen ihre traumatische Erfahrungen darlegen, offenlegen, oder in selteneren  Fällen, gegen die Polizei anzeigen, welches selten von Erfolg geprägt ist.21 Als Beispiel für diese zivilgesellschaftlichen Organisationen sei die KOP Berlin genannt.22

3. Ausblick

Wie mit der oben genannten Ungerechtigkeit umzugehen ist, bleibt als Frage offen und dementsprechend sollen hier, um einige Perspektiven und Ausblicke zu ermöglichen, Alternativen  zur momentan stattfindenden Praxis der rassistischen Kontrollen aufgezeigt werden. Dabei gibt es unterschiedliche Ansätze, die oftmals versuchen, das Problem systemisch zu analysieren. Diese Ansätze können dabei von kleinen Verboten bis hin zur Veränderung des Polizierens und Gefängnissystems gehen, genannt sei hier vor allem der Abolitionismus, auf welchen ich später noch genauer eingehe.

Vorab: Oft wird in der öffentlichen Diskussion gefordert, dass der Handlungsbedarf bei der persönlichen Haltung einzelner Polizist*innen liegt. Dem folgend werden Anti-diskriminierungstrainings gefordert, die interne Veränderung bringen sollen und Handlungs-vorschläge unterbreiten.23 Wie ich aber bereits versucht habe aufzuzeigen, ist Racial Profiling und rassistische Praxis durch die Polizei kein ausschließliches Problem von persönlicher Haltung, sondern vor allem von Systematik der Machtverteilung. Natürlich kann dieser Ansatz zu Fortschritten im Abbau von Rassismus führen, gleichzeitig bleibt es verständlich, dass das Vertrauen in Verantwortlichkeit einzelner Polizeibeamte*r von Aktivist*innen nicht als ausreichend eingeschätzt wird. Darauf geht auch Ulla Jelpke in ihrem Essay kurz ein. Dort wird unter anderem auch argumentiert, dass sich Kontrollen teilweise gar        nicht von Diskriminierung lösen können, sondern dies inhärent ist und dementsprechend Trainings keinen wesentlichen Unterschied schaffen.24

Die direkte Forderung in Bezug auf Racial Profiling ist vielfach die Abschaffung der gefährlichen Orte bzw. ihr Verbot. Dies ist, wie bereits im Namen erkennbar, auch das Ziel der Kampagne Ban! Racial Profiling – Gefährliche Orte Abschaffen. Diese Kampagne greift gezielt das System der Polizeikontrollen an Gefährlichen Orten an, da diese durch die rechtliche Hintertür Racial Profiling ermögliche, während dieses eigentlich verboten ist. Dementsprechend ist das Abschaffen dieser Orte eine Möglichkeit, um der Polizei die Mittel zu nehmen, legal und damit rechtlich nur schwer anfechtbar diese rassistische Praxis aufrechtzuerhalten.25 Die Kampagne bezieht sich dabei vor allem auf Berlin, jedoch kann dieser Ansatz auch auf anlass- und verdachtsunabhängig Kontrollen generell angewandt werden, denn diese finden u.a. auch in Grenzregionen statt.

Dabei muss ich an (weiße) Freund*innen von mir denken, die mir erzählten, dass sie erlebten, dass in einem Grenzort in Deutschland alle BI_PoC im Zug bei dessen Halt kontrolliert wurden. Nachdem diese die Kontrollen der Polizei und ihr Racial Profiling ansprachen und dabei kritisierten, kontrollierte die Polizei daraufhin auch alle weißen Fahrgäste. Dadurch hatte der Zug eine erhebliche Verspätung. Dort zeigt sich bereits: Der Zugfahrplan rechnet fest damit, dass nicht alle, sondern nur bestimmte Gruppen poliziert werden. Des Weiteren zeigt sich auch: In diese Kontrollen einzugreifen kann wirken und die Polizei mit ihrem Rassismus konfrontieren (der wie McIntosh aufweist, gar nicht unbedingt bewusst ist). Ebenfalls schafft dies Aufmerksamkeit und damit eventuell auch öffentlichen Druck. Dies ist eben auch ein Ziel der Kampagne der KOP Berlin Ban! Racial Profiling.26

Ein Ansatz der darüber hinaus geht, ist der des Ressourcenentzugs der Polizei und die Umverteilung hin zu sozialen Projekten. Dieser Ansatz wurde unter dem Schlagwort „Defund the Police!“ im öffentlichen Diskurs vor allem mit den Protesten gegen Polizeigewalt in Reaktion auf den Tod von George Floyd in Minneapolis im Jahr 2020 laut. Dieser kann also ein erster Schritt innerhalb abolitionistischer Praxis gesehen werden. Die Idee hinter dem Ressourcenentzug ist, dass die Polizei die öffentliche Ordnung mit Gewalt aufrechterhält, während die Probleme bleiben, welche Kriminalität und Gewalt hervorrufen: Kapitalismus und Konkurrenzdenken, Armut und Perspektivlosigkeit. Gegen diese mit vermehrter Sozialer Arbeit, Gesundheitsversorgung und weiterer sozialer Sicherheit vorzugehen, senke somit die Kriminalität an sich. Es geht also quasi um die Problemlösung von Menschen in prekären Situationen und nicht um den Erhalt des status quo, auch mit Gewalt.27

Zusätzlich ist ein Punkt für diese nun folgende abolitionistische Perspektive sehr wichtig: Menschen, die so regelmäßig negativ vom Wirken der Polizei und dem Justizsystem eingeschränkt und diskriminiert werden, bleibt meist nicht die Option, selbst die Polizei zu rufen. Das führt letztlich dazu, dass diesen Menschen der Versuch zum Rückgreifen auf das Rechtssystem und damit auf öffentliche, juristische Gerechtigkeit verwehrt bleibt. Das bedeutet gleichzeitig, dass der Schutz, der anderen Gruppen zukommt, nicht gewährt oder in Anspruch genommen werden kann.

Dies hat wiederum dazu geführt, dass Konzepte und Wissen entwickelt und vermittelt wurden und werden, die diese Wege nicht gehen und über anderem Weg nicht nur Schutz, sondern vor allem Tatprävention und Reintegration ohne die Institution Gefängnis schaffen. Diese Konzepte kommen vielfach aus politischen Gruppen, vor allem aber aus Netzwerken von Marginalisierten mit unterschiedlichem Hintergrund, vielfach Mehrfachmarginalisierte, vor allem QTIPoC, also queere, trans* und inter Schwarze Menschen/Personen of Colour.28

Es gibt diese Konzepte aber nicht erst seit kurzem, sondern es finden sich schon solidarische Lebensweisen in früheren abolitionistischen Kontexten, genannt sei zum Beispiel die Maroon Communitys, welche in Teilen der Karibik aus entflohenen und befreiten Sklaven aus der Plantagenwirtschaft bestanden.

Der heutige Fokus auf Gefängnisse und das Strafsystem besteht seit dem 20. Jahrhundert in der abolitionistischen Bewegung. Dabei umfasst die Kritik des heutigen Gefängnissystems oft eine grundlegende Systemkritik, da die oben bereits erwähnte Rassifizierung und Vergeschlechtlichung von Körpern und deren Produktivmachen grundsätzlich als negativ bewertet werden. Das Gefängnis wird hierbei als Funktionalität dieses Produktivmachens begriffen.29 Es wird eine direkte Verbindung zwischen Kolonialismus und modernem Strafsystem hergestellt, da die Gefängnisse, welche zwar als Reformversuche gegenüber massiven körperlichen Strafen eingeführt wurden, aber selbst eine Kriminalität bestrafen, die eng mit dem Kapitalismus verknüpft ist. Dabei ist Landstreicherei, deren Konzept früher vor allem gegen Sinti*zze und Rom*nja und die Arbeiterklasse gewandt war, nicht mehr verboten, so zeigen sich doch ähnliche Strukturen noch immer beim Faktor Drogenhandel und Privilegien.30 Dies lässt sich auch am Beispiel Görlitzer Park belegen, wo vielfach Geflüchtete ohne Arbeitserlaubnis mit illegalisierten Drogen handeln.

Hervorzuheben ist innerhalb dieser Theorie des Abolitionismus der Abolition Feminism, welcher eine lange Tradition hat. Bekannte Vertreterin ist Sojourner Truth, die schon früh (1851) die Intersektion von Sexismus und Rassismus aufzeigt und diese Diskriminierungsformen kritisiert.31 Innerhalb dieses Feminismus wird thematisiert und hervorgehoben, in welchem Rahmen intersektionale Kriminalisierung, vor allem bei BI_PoC Frauen besteht. Hierbei wird Sexarbeit kriminalisiert. Ebenfalls wird davon ausgegangen, dass BI_PoC Eltern ihre Kinder schlecht erziehen, was dazu führt, dass dieser Elternschaft individuell schneller die Kinder entzogen werden. Teilweise findet dies auch systematisch statt, siehe hier die aktuell gefundenen Massengräber neben katholischen Schulen für Kinder der First Nations in Kanada. Dieser Kriminalisierung werden dann Strukturen der gegenseitigen Hilfe entgegengebracht. Diese arbeiten dabei auch den explizit rassistischen Erfahrungswelten innerhalb des Sozialstaats entgegen. Dementsprechend geht es immer auch um eine gesellschaftliche Transformation, welche die Kontinuitäten des gesellschaftlichen Rassismus und der Gewalt vor allem im System der Strafe kritisiert und versucht abzuschaffen.32

Fazit

Innerhalb dieser kurzen Betrachtung des Systems von Racial Profiling und darüber hinaus der antirassistischen Gefängniskritik zeigt sich doch recht deutlich das Ineinandergreifen unterschiedlicher Unterdrückungsmechanismen in der Gesellschaft.

Rassismus wird innerhalb des durch den Kolonialismus geprägten Strafsystems reproduziert und durch ebendieses wiederum aufrechterhalten. Gleichzeitig gibt es seit Jahrhunderten Widerstand gegen dieses System und seine Abwandlungen. Dem Strafsystem wird dabei Solidarität entgegengesetzt, um Gewaltspiralen zu verhindern, die sich trotz des Anspruchs von Gerechtigkeit durch die Justiz immer wieder finden lassen.

In dieser komplexen Gesellschaft mit all ihren Strukturen, in der jede*r rassifiziert und vergeschlechtlicht wird, vor dem Kontext von Racial Profiling nur von einer Single Story, einem einzelnen Narrativ zu sprechen, kommt zu kurz, allein schon deshalb, weil Racial Profiling dazu beiträgt, neue, diskriminierende Narrative zu entwickeln.

In diesem Essay habe ich außerdem aufgezeigt, wie Racial Profiling in ein die komplette Gesellschaft umfassendes System kontextualisiert werden kann. Ebenso zeigt sich, nicht nur durch die unmittelbar in Berlin stattfindende Praxis, die ich mehrfach beschrieben habe, dass es sich bei dem Thema leider um etwas Alltägliches handelt, dessen Zeuge ich auch schon werden musste. Allein dies sollte belegen, dass das Thema direkt an den Seminarinhalt unter dem Aspekt Alltagsrassismus anknüpft, dennoch werden Verbindungslinien explizit und implizit immer wieder im Verlauf des Textes gezogen, genannt seien hier u.a. queere und feministische Anschlusspunkte und somit eine intersektionale Perspektive, als auch die mehrfache Thematisierung von der kolonialen Kontinuität und Geschichte Berlins, wie auch des Strafsystems dieser Gesellschaft.

Zusätzliches möchte   ich   noch   einmal   hervorheben,  über   die   abstrakte   Ebene   der „Reproduktion von Gesellschaftsstrukturen“ hinaus, was die Racial Profiling eigentlich bewirkt: Für Betroffene bleibt es nicht bei einer Art des Vertrauensbruchs, sondern es geht um Schikane bis hin zu Todesfällen. Regelmäßig sterben Schwarze Menschen bei Polizeieinsätzen. In Europa weniger als in Ländern in den Amerikas wie Brasilien oder den USA. Aber auch hier stehen Namen wie Oury Jalloh oder Achidi John. Die geringe Aufklärungsquote spricht dabei für sich. Das Ende von Racial Profiling ist das mindeste, was getan werden könnte.


1 vgl. https://taz.de/Tod-im-Polizeigewahrsam-in-Delmenhorst/!5758990/.

2 vgl. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/oury-jalloh/.

3 vgl. https://www.youtube.com/watch?v=D9Ihs241zeg.

4 Vanessa Eileen Thompson, „There is no justice, there is just us!“: Ansätze zu einer postkolonial-feministischen Kritik der Polizei am Beispiel von Racial Profiling, in: Daniel Loick (Hg.), Kritik der Polizei / Daniel Loick (Hg.), Frankfurt, New York 2018, S. 201.

5 vgl. Vanessa Eileen Thompson, Reformen reichen nicht, in: Missy Magazine. 2021b, S. 50–52.

6 Polizieren beinhaltet im Kern polizeiliches Handel, d.h. Auslegung der gesetzlichen Lage und Einhaltung von Ordnung bzw. des Status quo. Oft geht es dabei um Polizeikontrollen und das Auftreten der Polizei im öffentlichen Raum. Für dieses Polizieren spielt es ebenfalls eine große Rolle, wer Objekt polizeilichen Handelns ist.

7 vgl. Sally E. Hadden, Sklavenpatrouillen und die Polizei: Eine verwobene Geschichte der Rassenkontrolle, in: Daniel Loick (Hg.), Kritik der Polizei / Daniel Loick (Hg.), Frankfurt, New York 2018, S. 77–94.

8 Vanessa Eileen Thompson, S.51.

9 vgl. Vanessa Eileen Thompson, „There is no justice, there is just us!“: Ansätze zu einer postkolonial- feministischen Kritik der Polizei am Beispiel von Racial Profiling, in: Daniel Loick (Hg.), Kritik der Polizei / Daniel Loick (Hg.), Frankfurt, New York 2018a, S. 197–219.

10 vgl. ebenda, S.199, 201f.

11 ebenda, S. 203.

12 vgl. ebenda, S. 203.

13 Autor*innenkollektiv der Berliner Kampagne Ban! Racial Profiling – Gefährliche Orte abschaffen, Ban! Racial Profiling oder Die Lüge von der „anlass- und verdachtsunabhängigen Kontrolle“, in: Daniel Loick (Hg.), Kritik der Polizei / Daniel Loick (Hg.), Frankfurt, New York 2018, S. 183.

14 vgl. Ulla Jelpke, Racial Profiling abschaffen. Das Problem liegt in der Funktion der Polizei, in: Die Rote Hilfe 47. 2021, S. 24–25.

15 vgl. ebenda.

16 vlg. Peggy McIntosh, White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack, in: White Privilege and Male Privilege: A Personal Account of Coming To See Correspondences through Work in Women’s, 1988.

17 vgl. Autor*innenkollektiv der Berliner Kampagne Ban! Racial Profiling – Gefährliche Orte abschaffen, S. 181.

18 https://www.youtube.com/watch?v=aSnETtKrFbU&list=WL&index=19 (dabei handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Darlegung oder eine sachliche Berichterstattung, sondern nur einen Portrait der Nachbarschaft aus Perspektive einer Anwohnerin).

19 vgl. Ulla Jelpke.

20 vgl. Vanessa Eileen Thompson, S. 208f.

21 vgl. ebenda S. 208f.

22 https://kop-berlin.de

23 An dieser Stelle könnte noch weiter über die Grundlage polizeilichen Handelns und die Gesetzgebung gesprochen werden, die essentiell auf dem Grundgesetz basieren, welches in den ersten Paragraphen Werte aus der Aufklärung beinhaltet. Diese wiederum und auch wie westliche Bildung (im Seminar sprachen wir über Hegel) sind selbst von Rassismus nicht frei.

24 vgl. Ulla Jelpke.

25 vgl. Autor*innenkollektiv der Berliner Kampagne Ban! Racial Profiling – Gefährliche Orte abschaffen, S. 194f.

26 vgl. ebenda S.194f.

27 vgl. Ulla Jelpke.

28 vgl. Vanessa Eileen Thompson, S.214f.

29 vgl. Vanessa Eileen Thompson, S.51.

30 vgl. ebenda.

31 vgl. Sojourner Truth. 1851.

32 vgl. Vanessa Eileen Thompson, S. 52.


Literaturverzeichnis

White Privilege and Male Privilege: A Personal Account of Coming To See Correspondences through Work in Women’s (1988).

Autor*innenkollektiv der Berliner Kampagne Ban! Racial Profiling – Gefährliche Orte abschaffen (2018): Ban! Racial Profiling oder Die Lüge von der „anlass- und verdachtsunabhängigen Kontrolle“. In: Daniel Loick (Hg.): Kritik der Polizei / Daniel Loick (Hg.). Frankfurt, New York: Campus Verlag, S. 181–196.

Loick, Daniel (Hg.) (2018): Kritik der Polizei / Daniel Loick (Hg.). Frankfurt, New York: Campus Verlag.

Peggy McIntosh: White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack. In: White Privilege and Male Privilege: A Personal Account of Coming To See Correspondences through Work in Women’s, 1988.

Sally E. Hadden (2018): Sklavenpatrouillen und die Polizei: Eine verwobene Geschichte der Rassenkontrolle. In: Daniel Loick (Hg.): Kritik der Polizei / Daniel Loick (Hg.). Frankfurt, New York: Campus Verlag, S. 77–94.

Sojourner Truth (1851).

Ulla Jelpke (2021): Racial Profiling abschaffen. Das Problem liegt in der Funktion der Polizei. In: Die Rote Hilfe 47 (2), S. 24–25.

Vanessa Eileen Thompson (2018): „There is no justice, there is just us!“: Ansätze zu einer postkolonial-feministischen Kritik der Polizei am Beispiel von Racial Profiling. In: Daniel Loick (Hg.): Kritik der Polizei / Daniel Loick (Hg.). Frankfurt, New York: Campus Verlag, S. 197–219.

Vanessa Eileen Thompson (2021): Reformen reichen nicht. In: Missy Magazine (2), S. 50–52. Online verfügbar unter https://missy-magazine.de/blog/2021/03/08/reformen-reichen-nicht/, zuletzt geprüft am 26.07.2021.


Links

Chimamanda Adichie, the danger of a single story, https://www.youtube.com/watch?v=D9Ihs241zeg, zuletzt abgerufen: 09.08.2021.

https://kop-berlin.de, zuletzt abgerufen: 09.08.2021.

https://www.youtube.com/watch?v=aSnETtKrFbU&list=WL&index=19, zuletzt abgerufen: 7.08.2021

www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/oury-jalloh/

https://taz.de/Tod-im-Polizeigewahrsam-in-Delmenhorst/!5758990/


Quelle: Joris Beetz, Racial Profiling und die Polizei. Eine Überlegung bezüglich institutionellem Rassismus und dessen Überwindung, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 17.11.2o21, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/11/17/racial-profiling-und-die-polizei/

Rassismuskritische Bildung und Aufarbeitung der Kolonialgeschichte an deutschen Schulen

Aktuelle Bestandsaufnahme und Herausforderungen für die Zukunft

Solva Bergmann (SoSe 2021)

Hätte ich vor circa zwei Jahren ehemalige Kolonialmächte aufzählen sollen, wären mir bestimmt Länder wie Frankreich, Spanien und Portugal eingefallen, schließlich habe ich das zumindest aus dem schulischen Geschichtsunterricht mitgenommen: die großen Kolonialmächte, die zahlreiche Länder auf dem afrikanischen und amerikanischen Kontinent besetzten, dessen Bevölkerungen unterdrückten und sie zu ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen ausbeuteten. Allerdings erinnere ich mich kaum an eine aktualisierende Auseinandersetzung zu dem Thema, der Kolonialismus wurde folglich als abgeschlossenes Kapitel der „westlichen“ Geschichte behandelt. Doch welche Rolle spielte Deutschland eigentlich in der Kolonialzeit? Da ich mich im Rahmen des Geschichtsunterrichts nie fundiert mit den Gräueltaten des deutschen Kolonialreichs befasst habe, war mir lediglich bekannt, dass Deutschland selbst Kolonien besaß, diese jedoch im Vergleich zu den anderen Kolonialmächten „vernachlässigbar“ erschienen.

Die intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgte bei mir persönlich erst circa ein Jahr nach meinem Schulabschluss, genauer gesagt kurz nach dem grausamen Mord an George Floyd am 25. Mai 2020. Im Kontext der dadurch ausgelösten Protestbewegungen und Debatten rund um die Themen Polizeigewalt und struktureller Rassismus habe ich erstmalig von dem Genozid an den Herero und Nama gehört. Mindestens so schockiert wie ich über das Ereignis selbst war, war ich überrascht über die Tatsache, dass ich erst jetzt mit dieser dunklen Schattenseite der Geschichte meines eigenen Heimatlandes konfrontiert wurde. Nach dem Austausch mit verschiedenen Freund*innen wurde deutlich, dass das kein individuelles Problem von Desinteresse an bestimmten historischen Ereignissen war, sondern eher von strukturellen Aufklärungslücken an deutschen Schulen zeugt. Aber aus welchen Gründen wird ein solch gesellschaftlich relevantes Thema, gerade anlässlich aktueller Ereignisse wie die späte Anerkennung des Völkermords als solchen, im Lehrplan so unterrepräsentiert? Welche Auswirkungen hat dies auf die Entwicklung eines postkolonialen Bewusstseins? Diese und weitere Fragen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.

Um sich der Beantwortung dieser Fragen zu widmen, ist es notwendig, vorab festzustellen, aus welcher Perspektive die Geschichte des Kolonialismus erzählt wird. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie berichtet in dem TED-Talk „The danger of a single story” wie sie als Kind hauptsächlich britische und amerikanische Kinderbücher las und sich nicht mit den Protagonist*innen identifizieren konnte. Darüber hinaus wurde sie durch die ausländischen Autor*innen sogar in dem Maße geprägt, dass sie in ihren ersten selbstgeschriebenen Geschichten ausschließlich weißnormierte Vorstellungswelten wiedergab. Dies verdeutlicht den ausgeprägten Einfluss, den u.a. Bildungs-ressourcen auf unsere eigene Wahrnehmung haben. Adichie weist hierbei auf den Zusammenhang mit strukturellen Machtverhältnissen hin:

„Wie sie erzählt werden, wer sie erzählt, wann sie erzählt werden, wie viele Geschichten erzählt werden, wird wirklich durch Macht bestimmt. Macht ist die Fähigkeit, die Geschichte einer anderen Person nicht nur zu erzählen, sondern sie zur maßgeblichen Geschichte dieser Person zu machen.“

Adichie, 2009

Adichie zufolge sind einige wenige Personen in der machtvollen Position, über das Schicksal vieler marginalisierter Personen hinweg zu bestimmen. Im Kontext mit der Aufklärungsarbeit zu Rassismus und Kolonialismus stellt sich folglich die Frage, wer hier die Geschichte erzählt und somit die Deutungshoheit über unser historisches Bewusstsein besitzt.

Aus meinen eigenen Erfahrungen im Geschichtsunterricht erinnere ich mich in der Retrospektive an einige fragwürdige Erzählperspektiven, die sogar teilweise zur Legitimation der kolonialen Taten europäischer Großmächte führen. Prägend dabei ist z.B. die Heroisierung von Christoph Kolumbus als „Entdecker Amerikas“, wodurch die gewaltsame Eroberung des amerikanischen Kontinents und die Ausbeutung dessen indigener Bevölkerung auf eine erschreckend verharmlosende Weise ausgeblendet werden. Eine faire Geschichtserzählung würde allen betroffenen Akteur*innen eine Stimme geben, insbesondere den Kolonisierten, die aufgrund einer asymmetrischen Machtverteilung nie die notwendigen Mittel besaßen, um sich erfolgreich gegen die Kolonisation zur Wehr zu setzen. Ein prägnantes Beispiel, das die vorherrschende Erzählperspektive bestätigt, ist das Kinderlied „Ein Mann, der sich Kolumbus nannt“, das u.a. auf dem YouTube-Kanal „Sing mit mir: Kinderlieder“ veröffentlicht wurde. Der folgende Strophenausschnitt schildert die Situation kurz nach der Ankunft Kolumbus auf dem amerikanischen Kontinent.

Das Volk an Land stand stumm und zag,

[…]
Da sagt Kolumbus: „Guten Tag!

[…]
Ist hier vielleicht Amerika?“

Da schrien alle Wilden: „Ja!“

Sing mit mir- Kinderlieder, 2015

Bereits die herabwürdigende und diffamierende Bezeichnung der einheimischen Bevölkerung als die „Wilden“ deutet auf ein kolonialisierungsverherrlichendes Narrativ hin. In keiner Zeile des Lieds lässt sich auch nur die Andeutung auf die tatsächlich stattgefundene gewaltsame Übernahme der Kolonisatoren finden.

Der YouTube-Kanal „Cut“ dagegen veröffentlichte 2015 eine Videoaufnahme, in der indigene Personen vor der Kamera zeigen, was „Christoph Kolumbus“ in ihnen emotional auslöst. Diese Perspektive komplementiert das bestehende dominante Narrativ, indem nicht nur der Blickwinkel der sowieso schon machtvollen Personen beleuchtet wird.

Äquivalent zu der fehlenden Aufklärung über die Kolonisierung des amerikanischen Kontinents charakterisiert sich das in der Schule angeeignete Wissen über die deutsche Kolonialgeschichte als sehr eindimensional und lückenhaft.

Ein Beleg für die Existenz kolonialer Kontinuitäten ist die fehlende Aufarbeitung über den Genozid an den Herero und Nama, der von Historiker*innen als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird (vgl. Conrad, 2008). Die Kolonie Deutsch-Südwestafrika auf dem heutigen Gebiet des Staates Namibia war seit 1884 die erste Kolonie des Deutschen Kaiserreichs. Das Gebiet war sehr trocken, weshalb die Bevölkerung hauptsächlich von der Viehzucht lebte. Die Bevölkerungszahl lag bei circa 200.000 Einwohner*innen, während sich davon etwa 80.000 zu dem Volk der Herero und 20 000 zu den Nama zählten (vgl. Opfer-Klingerl, 2012).

In den 1890er Jahren entstanden zunehmend Probleme aufgrund der grundsätzlichen Gewaltstruktur der kolonialen Situation. Infolge einer schweren Rinderpest und einer langen Dürreperiode geriet besonders das Nomadenvolk der Herero in existenzielle Schwierigkeiten.

1904 erhoben sich die Herero gegen die Kolonialherrschaft, nachdem sie zunehmend rassistisch motivierte gewaltsame Übergriffe ertragen mussten und die deutschen Siedler*innen immer größere Gebiete für sich beanspruchten (vgl. Ullrich, 1994). Am 11. August 1904 spitzte sich der Konflikt zu, als der neu eingesetzte Generalleutnant Lothar von Trotha und etwa 2000 deutsche Soldaten der „Schutztruppe“ die Herero mit unsagbarer Brutalität in der Schlacht am Waterberg angriffen und überwältigten (vgl. segu Geschichte, o. J.).  Die überlebenden Herero flohen in der Nacht in die wasserarme Omaheke-Halbwüste. Im Oktober 1904 erließ von Trotha den sogenannten „Vernichtungsbefehl“, durch den die Herero offiziell nicht länger auf dem deutschen „Schutzgebiet“ geduldet werden sollten und dessen totale Vernichtung angeordnet wurde (vgl. bpb, 2014).

„Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu Ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.“  

von Throtha, 1904 zitiert nach Gewald, 1994

Den Herero wurden in der Folge die Rückwege zu Wasserquellen von der „Schutztruppe“ abgeschnitten, weshalb viele von ihnen in der Wüste verdursteten. Andere Überlebende wurden zur Zwangsarbeit deportiert und starben in den Internierungslagern (vgl. Schaller, 2004). Auch Teile einer anderen Bevölkerungsgruppe, der Nama, lehnten sich gegen die Kolonialherrschaft auf und erlitten ein ähnlich grausames Schicksal. Nach Schätzungen zufolge verloren etwa mindestens 60 000 Herero und 10 000 Nama durch den Völkermord ihr Leben (vgl. bpb, 2014). Neben der Massenermordung wurden menschliche Schädel von Militärärzt*innen nach Deutschland geschickt, um rassistische Theorien zu belegen und koloniale Herrschaftsansprüche zu legitimieren (vgl. Kimmerle, 2018).

Zu dem Massenverbrechen gab es bis vor kurzer Zeit seitens der Bundesrepublik Deutschland keine angemessene Aufarbeitung, erst im Mai dieses Jahres, weit mehr als 100 Jahre später, wurde der Völkermord als solcher anerkannt. Gründe für die so verspätete Aufarbeitung sind einerseits das südafrikanische Apartheidsregime, das in Namibia bis 1990 gegolten hat. Für die Nachfahren der Opfer ist es also erst seit der Unabhängigkeit Namibias 1990 möglich, sich öffentlich zum Ausdruck zu bringen (vgl. Brehl, 2021). Zudem ist aber auch in den ehemaligen Kolonialstaaten das generelle Bewusstsein für vergangene koloniale Verbrechen erst sehr spät aufgekommen, nachdem lange Zeit Gewalttaten an der indigenen Bevölkerung als Kollateralschaden der Besiedlung behandelt wurden.

Doch vor allem seit dem 100. Jahrestag des Genozids fordern immer mehr Nachfolger*innen der Herero und Nama eine offizielle Anerkennung des Genozids, eine Entschuldigung und entsprechend angemessene Entschädigungsleistungen (vgl. Kimmerle, 2018).

Nachdem erste Erfolge aufgezeichnet werden konnten, als z.B. geraubte menschliche Gebeine an Namibia zurückgegeben wurden, warteten die Nachfahren lange vergeblich nach einer respekt- und würdevollen offiziellen Entschuldigung. So beschreibt es auch der Berliner Herero-Aktivist Israel Kaunatjike:

„Wir wollen unsere […] Würde noch mal herstellen. Anerkennung, Würde, Menschenwürde, das ist für uns das Wichtigste überhaupt. Es geht nicht nur um Geld, materiell, es geht um Respekt, von Menschen, 100.000 Menschen, die damals umgekommen sind.“

Kaunatjike, 2018 zitiert nach Baschek, 2018

Doch warum weigerte sich die Bundesrepublik so lange, den Genozid rechtlich offiziell anzuerkennen? Die Betonung liegt hier vor allem auf rechtlich, denn historisch-politisch wurde die Einschätzung als Völkermord seitens der Bundesregierung infolge einer parlamentarischen Anfrage der Linken bestätigt (vgl. Bundesregierung, 2016). Der Hauptgrund für den zurückhaltenden Umgang und die fehlende Aufarbeitung liegt wohl in der Angst, dass die verbleibenden Herero und Nama rechtliche Ansprüche auf Entschädigungszahlungen erheben könnten.

Daher gab es seit 2015 zwischen der deutschen und namibischen Regierung langwierige Verhandlungsgespräche über mögliche Entschädigungsleistungen. Zwar waren in der Delegation aus Namibia auch Vertreter*innen der Herero und Nama, die allerdings von der dortigen Regierung ausgewählt wurden (vgl. bpb, 2021). Der Hintergrund dabei ist, dass die Herero und Nama auch in Namibia bis heute noch als Minderheiten gelten und ihre Sonderanerkennung als Opfer des Völkermords von der Seite der namibischen Regierung aus wenig bis gar nicht gewürdigt wird (vgl. Brehl, 2021). Ebenso problematisch ist daher das Argument der Bundesregierung, dass Namibia von Deutschland das höchste Entwicklungsgeld pro Kopf bekomme, mit welchem die zusätzlichen Entschädigungsleistungen obsolet erscheinen. Doch Vertreter*innen der Herero und Nama kritisierten, dass jenes Geld nicht bei ihnen ankomme und dass sie bis heute in einer finanziell prekären Notlage leben müssen. Erwähnenswert an dieser Stelle ist, dass das Farmland der Herero und Nama nach dem Genozid enteignet und an deutsche Siedler*innen verkauft wurde. Auch heute ist über die Hälfte des kommerziellen Farmlands unter dem Besitz von weißen deutschen Siedler*innen (vgl. Kimmerle, 2018).

Nach über fünfjährigen Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen, teilte Außenminister Heiko Maas mit:

„Als Geste der Anerkennung des unermesslichen Leids, das den Opfern zugefügt wurde, wollen wir Namibia und die Nachkommen der Opfer mit einem substanziellen Programm in Höhe von 1,1 Mrd. Euro zum Wiederaufbau und zur Entwicklung unterstützen. […] Rechtliche Ansprüche auf Entschädigung lassen sich daraus nicht ableiten.“

Maas, 2021

Es bleibt nun abzuwarten, ob bei den betroffenen Personen auch tatsächlich etwas von den versprochenen Projekten und Geldleistungen ankommt.

Mit der offiziellen Anerkennung des Genozids seitens der deutschen Bundesregierung sollte es konsequenterweise auch keinen logischen Grund mehr geben, die deutschen Kolonialverbrechen und dessen Fortwirkungen in die landesweiten Lehrpläne einzuschließen.

Die afroamerikanische Literaturwissenschaftlerin bell hooks schreibt, dass Bildung ein Heilungsprozess ist und mit „Ermächtigung, Befreiung, Transzendenz, Erneuerung des Lebens“ (hooks, 2003, S. 43) zu tun hat. Gleichzeitig kritisiert sie den derzeitigen Status quo im Unterricht, der die bestehenden Macht- und Herrschaftsstrukturen nicht aufbricht, sondern sie noch tiefer verfestigt. Jedoch sollte nach hooks die Priorisierung auf der Entwicklung einer herrschafts- und hierarchiefreien Lernmethodik liegen, wodurch „der Raum des Klassenzimmers zu einem Ort des Widerstands gegen Dominanz- und Herrschaftsstrukturen wird“ (Kazeem & Schaffer, 2012, S. 181). Übertragen auf die vorliegende Problematik heißt das, dass nur mit dem Wissen um die Entstehung des Rassismus in der deutschen Kolonialzeit der heute immer noch vorliegende, teils internalisierte Rassismus, erkannt und bekämpft werden kann.

Aktuell wird die Kolonialgeschichte an deutschen Schulen zwar oft behandelt, allerdings aber meistens lediglich im Zusammenhang mit dem Imperialismus (vgl. Lueg, 2021). Maßgeblich wäre vor allem eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Machtgefälle zwischen den Kolonialmächten und den Kolonisierten und der Frage, inwiefern die Kolonialherrschaft die Entstehung von Rassismus bedingt. Dabei reproduziert bereits die Art und Weise, wie die koloniale Gewalt beispielsweise in Lehrbüchern dargestellt wird, oft schon selbst koloniale Diskurse. Den Angehörigen der Herero und Nama wird häufig eine Opferrolle zugeschrieben und ihre Lebenssituation stark vernachlässigt. Neben einer fehlenden Distanzierung von kolonialem Vokabular wie „Häuptling“ oder „Eingeborene“ wird auch die Vielfalt des afrikanischen Kontinents mittels der Rede von „den Afrikanern“ diffamiert.

Die Kölnerin Abigail Fugah startete daher eine Petition zur Überarbeitung der Lehrbücher und Lehrpläne in Nordrhein-Westfalen und begründet dies wie folgt:

 „Wenn schwarze Kinder alt genug sind, Rassismus zu erfahren, dann sind weiße Kinder auch alt genug, um etwas darüber zu lernen.“

Fugah, 2020 zitiert nach Hilfe, 2020

Da Bildung im Kompetenzbereich der Bundesländer liegt, variieren dementsprechend auch die jeweiligen Geschichtslehrpläne. In Niedersachsen z.B. ist lediglich die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Formen des Imperialismus festgeschrieben, wohingegen in Bayern auch die „Auswirkungen auf die betroffenen Völker an einem Beispiel“ thematisiert werden sollen. Selbst innerhalb eines Bundeslandes herrschen je nach Schulform hochgradige Unterschiede. In Sachsen-Anhalt wird in der neuesten Geschichtsbuchausgabe für die gymnasiale Oberstufe der aktuelle Diskurs über die Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama aufgegriffen, in dem Buch für die Realschüler*innen lässt sich dagegen kein einziger Satz zur Kolonialzeit finden (vgl. Kniestedt, 2020). Inwiefern dann das Thema behandelt wird, liegt folglich in der Verantwortung der einzelnen Lehrpersonen. Ob und wie sich die Lehrkräfte Zeit nehmen, Kolonialismus und dessen Auswirkungen in ihrem Unterricht zu behandeln, ist auch von ihrer eigenen rassismuskritischen Einstellung abhängig (vgl. Kniestedt, 2020). Vorschläge für eine differenziertere Behandlung der Kolonialgeschichte beinhalten neben der Fortbildung für Lehrer*innen Lernkooperationen, die die Interessensvertretung von marginalisierten und rassismuskritischen Gruppen berücksichtigen würde.

Denn nur mit dem Bewusstsein um unsere koloniale Vergangenheit, können wir heute rassistische Strukturen in uns und unserer Gesellschaft überhaupt erkennen. Deswegen sollten wir eine postkoloniale Perspektivenerweiterung in allen Schulen anvisieren, sodass zukünftige Generationen bereits so früh wie möglich für rassismuskritische Themen sensibilisiert werden. Auf diese Weise kann auch zu einer diskriminierungsfreieren Gesellschaft beigetragen werden, in der Schwarze Menschen, bzw. People of Color nicht mehr Opfer von rassistischen Gewalttaten werden müssen.

Literaturverzeichnis

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Ullrich, V. (1994, 14. Januar). „… deutsches Blut zu rächen“, DIE ZEIT. Zugriff am 24.09.2021. Verfügbar unter: https://www.zeit.de/zeitlaeufte/herero


Quelle: Solva Bergmann, Rassismuskritische Bildung und Aufarbeitung der Kolonialgeschichte an deutschen Schulen: Aktuelle Bestandsaufnahme und Herausforderungen für die Zukunft, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 27.10.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/?p=130

Die Grenze. Ein Versuch der Reflektion

Zuzanna Krysta (SoSe 2020)


1.     Einleitung

Wir sitzen in der Küche, es wird durcheinander diskutiert und Reis mit Maffé gegessen. Männer* aus Kamerun, Nigeria, Gambia, Senegal, Angola und ich, als weiße, deutsch-polnische Cis-Frau verbringen diesen Moment gemeinsam. Die Menschen um mich herum fangen an sich darüber auszutauschen, wieviel die jeweiligen Reisepässe `wert´ sind und in welchen Nationalstaaten des globalen Nordens sie ein Visum beantragen können. Ich bin mir meiner privilegierten Situation, eine deutsche Staatsbürgerschaft zu haben, bewusst und bin mir unsicher wie ich mich in diesem Gespräch klar positionieren soll. Meine Gesprächspartner machen mich bald darauf aufmerksam, dass der deutsche Reisepass einer der `besten´ der Welt ist. Ich bemerke, dass ich Argumente verwende, wie der Zufälligkeit in welchem Land man geboren ist oder der kolonialen Kontinuität der Reisepässe, jedoch kann ich zweiteres nicht konkret erläutern, um meinen Gesprächspartnern meine Haltung näher zu bringen.

Aufgrund dessen möchte ich in dem vorliegenden Essay, mit stetigen Einschüben meiner Gedanken bezüglich des Gelesenen, die Konstruktion der Grenzen und der damit einhergehenden Staatsbürgerschaften historisch, sowie theoretisch tiefer ergründen, um in zukünftigen Gesprächen bei dieser Thematik mich klarer positionieren zu können.  Ich werde betrachten, wie Grenzen in Europa entstanden sind (vgl. Tilly 1985)  und diese im kolonialen Kontext im globalen Süden aufgezwungen wurden und bis heute in neokolonialer Form andauern, dabei lege ich den Fokus auf den afrikanischen Kontext (vgl. Marx 2010). Anschließend betrachte ich die symbolische Konstruktion der Grenzen und wie diese auf unsere Gesellschaft wirken und sie in Privilegierte und Nicht-Privilegierte aufspaltet (vgl. Castro Varela 2018; Charim 2018), um abschließend einen Ausblick auf Möglichkeiten der Dekonstruktion von Grenzen zu geben. Im zweiten Teil des Essays werde ich meine persönlichen Erfahrungen mit Grenzen und Staatsangehörigkeit darstellen, dabei mein Privileg als deutsche Staatsbürgerin reflektieren und Handlungsmöglichkeiten erläutern, wie man als weiße Person damit umgehen kann (vgl. Ogette 2018; McIntosh 1992).

2.     Die Grenzen und ihre Konstruktion

Die Idee der Grenzen ist in unserer (westlichen[1]) Gesellschaft fest verankert und wirkt oft unumstößlich. Im öffentlich dominanten Diskurs wird weniger ihre Konstruiertheit diskutiert, sondern es wird, meiner Wahrnehmung nach, als `natürlich gegeben´ angesehen. Man hört oft das Argument, dass Nationalstaaten und Grenzen notwendig sind, um die politische Organisierung an eine angebbare Gruppe innerhalb eines Territoriums zu definieren und sie somit zu kontrollieren (vgl. Weber 2006).  Wenn man jedoch die Geschichte anschaut, bemerkt man, dass Grenzen keine Voraussetzungen sind und die Welt lange ohne nationalstaatliche Grenzen ausgekommen ist.

2.1 Die historische Konstruktion der Grenzen

Tilly (1985) beschreibt in seinem Artikel, wie am Ende des 18. Jahrhunderts die Anfänge der Bildung der Nationalstaaten in Europa, wie wir sie heute kennen, vonstattenging. „War makes state“ (ibid.: 170) ist der vielzitierte Satz, der die Nationalstaatenbildung in Europa zusammenfasst. Die Herausbildung der Staaten basiert auf Kriegen, in dem eine zentralisierte Macht ihre Herrschaftsansprüche in den lokalen Regionen ausgeweitet hat, sie eine staatliche Streitmacht aufgebaut haben, staatliche Institution gegründet haben, für die politische Organisierung und die Organisierung der Steuereinnahmen und bestimmte Elemente der Kultur symbolisch aufgeladen haben, damit die Bevölkerung sich zugehörig fühlt und sich gewissermaßen mit der `Nationalkultur´ identifizieren kann. In diesem Prozess ist ein wichtiger Aspekt die Entstehung der konkret gesetzten Grenzen, die in den Kriegen, ausgehandelt wurden (ibid.).

Anderen Teilen der Welt wurde dieses europäische Konzept im Zuge der Kolonialisierung aufgezwungen (vgl. Kolonialismus und heutige Staatenwelt 2012), in dem die europäischen Staaten die Welt unter sich aufteilten und diese mit Grenzen markierten. Vor der europäischen Kolonialisierung wurde die politische Organisation im afrikanischen Kontext weitgehend durch Personenverbände definiert und nicht aufgrund des Territoriums, somit gab es zum Beispiel Nomad*innengemeinschaften die sich auf ihre Gruppe bezogen und dabei ihren Lebensumfeld immer wieder wechselten. Die meisten Grenzen existieren nach der Entkolonialisierung weiter und bestehen bis heute fort. Im afrikanischen Kontext wurde 1963 in der Charta der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) entschieden, dass diese Grenzen unverrückbar sind. Das Weiterbestehen der kolonialen Grenzen beinhaltet einige Schwierigkeiten. Die `künstliche´ Grenzziehung durchtrennt Gemeinschaften und drängte afrikanische Länder nach der Entkolonialisierung dazu, Nationalstaaten im `europäischen Sinne´ zu errichten, was manche Nationalstaaten zu failed states werden ließ (Marx 2010). Außerdem wurden die staatlichen Institutionen im globalen Norden, welche Reisepässe und -beschränkungen etablierten, kurz nach der Beendigung des Sklav*innenhandels gegründet, um neue Formen der „legacy of slavery, apartheid, and diverse forms of  unfree labour“ (Anderson, Sharma, and Wright 2009, 6) zu bilden.

Meiner Ansicht nach belegt die europäische Kolonialgeschichte die Absurdität und Konstruiertheit der Grenzthematik, ohne sich auf kritische Weise damit auseinanderzusetzen; in der kollektiven Erinnerung unserer Gesellschaft wird das Thema nicht reflektiert. Ein Beispiel dafür ist die mangelnde Thematisierung von Kolonialgeschichte in deutschen Schulen – hier wird Schüler*innen die Chance genommen, Grenzen als Konstrukt in Frage zu stellen. Die Entscheidung, keine kritische Auseinandersetzung zu fördern, ist eine politische und dient dem Zweck, die Basis unseres politischen Systems zu stabilisieren. Jedoch wird die Gesellschaft somit daran gehindert, eigene Vorstellungen von Organisation zu entwickeln, die nicht auf Ein- und Ausgrenzung basieren. Auch stellt sich mir die Frage, inwieweit die Errichtung von staatlichen Institutionen in einem Kriegskontext dazu führt, dass Mechanismen und Strukturen auf Krieg ausgerichtet sind. Die Regierung `verkauft´ an uns als Gesellschaft die Idee von Sicherheit und treibt somit die Identifikation mit dem eigenen Nationalstaat voran, was zu nationalistischen Strömungen innerhalb der Gesellschaft führt.

Auf der anderen Seite sieht man im afrikanischen Kontext, dass das Fortbestehen der kolonialen Grenzen nach der Entkolonialisierung eine eindeutige Kontinuität des Kolonialismus beinhaltet und somit den Neokolonialismus des globalen Nordens stabilisiert. Durch die jahrelange und bis heute andauernde gewaltvolle Ausbeutung des globalen Südens durch den globalen Norden und das Nicht-Benennen dieser Geschichte und heutigen Situation, fällt es uns als Gesellschaft schwer, uns Utopien vorzustellen, in denen Menschen ihr Dasein in Würde leben und sich frei bewegen können, basierend auf ihren eigenen Entscheidungen.

2.2 Die symbolische Konstruktion der Grenzen

Grenzen sind keine objektiven Tatsachen, sondern sie „bestimmen die Wahrnehmung unserer Welt. Grenzen symbolisieren, begründen und stabilisieren Macht und sind daher Herrschaftsinstrumente. Es ist eine begrenzte Welt, die wir bewohnen“ (Castro Varela 2018, 23). Sie produzieren zwei unterschiedliche Subjektivitäten, in welchen jede*r sich auf verschiedene konstruierte Räume bezieht. Charim (2018) verwendet dafür die Begriffe des paradoxen Raumes und der Festung. Den paradoxen Raum bewohnen die Menschen, die das Privileg haben, einen Reisepass zu besitzen, der viel `wert´ ist, wie der deutsche Reisepass (vgl. Kaelin and Kochenov 2018). „Diese [sogenannten] Vernetzten leben nur mit symbolischen Grenzen, also gewissermaßen ohne Grenze. Für sie bedeutet das Überschreiten einer Grenze nur eine Anerkennung ihres Status“ (Charim 2018, 18–19). Hingegen bewohnen die Menschen, deren Reisepass weniger `wert´ ist, wie Migrant*innen des globalen Südens, die Festung. Sie haben nicht die Möglichkeit sich zwischen Ländergrenzen frei zu bewegen, sondern müssen sich entweder in einem komplizierten, oft auch erfolglosen Verfahren auf ein Visum bewerben oder illegalisiert reisen. Auch innerhalb der Grenzen, zum Beispiel im Schengen-Raum, sind für diesen Bevölkerungsteil Grenzen allgegenwärtig, in Form von Asylgesetzen, Verwehrung des Zugangs zum Arbeits- oder Wohnungsmarkt und vielen anderen neokolonialen Exklusionsmechanismen (ibd.). Dieser theoretische Ansatz verdeutlicht die stetige (Re-) Produktion der Konstruktion der Grenzen, die die Menschheit in zwei Gruppierungen teilt: Der eine Bevölkerungsteil, der bis zu einem sehr hohen Grade das Privileg der Bewegungsfreiheit genießen darf und der andere -teil nicht.

Diese Problematik lässt mich an Bruno Latour (vgl. 1993) denken, der in seiner Modernitätskritik aufzeigt, wie die sogenannte `Moderne´ die Welt immer stärker dichotomisiert und alles in Gegensätzen ordnet. Somit ist die politische und rechtliche Praktik der dichotomisierenden Grenzen existent, um die Vorherrschaft des globalen Nordens zu stabilisieren. Dieser Prozess, den Latour Work of Purification nennt, wird stetig vom globalen Norden aus versucht, aufrecht zu erhalten. Ich denke, dass es wichtig ist, die agency der jeweiligen Menschen in Betracht zu ziehen, die trotz der Schwierigkeiten und Beschränkungen ihr Recht auf Bewegungsfreiheit als Menschenrecht in Realität umsetzen, auch wenn ich mir bewusst bin, dass die Gründe unterschiedlich sind und manche Migrant*innen aufgrund von prekären Lebensverhältnissen fliehen.

In diesem Abschnitt möchte ich abschließend Bewegungen und Gedanken aufzeigen, die gegen Grenzen arbeiten und aufzeigen, dass eine andere Welt möglich ist. Die No-Border-Bewegung ist eine lose und heterogene Zusammensetzung von verschiedenen Organisationen und Einzelpersonen auf der ganzen Welt, die durch unterschiedliches und selbstorganisiertes Engagement versuchen, eine Welt ohne Grenzen für alle zu gestalten, sei es durch politische Arbeit und Widerstand gegen Abschiebungen, ärztliche Versorgung für illegalisierte Personen oder offene Küchen für alle (vgl. Anderson, Sharma, and Wright 2009). Die Ebene der konkreten Handlungen ist äußerst wichtig, doch erscheint es mir genauso notwendig, uns im Verstehen und Träumen zu üben, denn man muss die jetzige Situation erst verstehen, um sich Utopien vorzustellen. Vor ein paar Tagen las ich das Essay Nadie la tiene von Morales (1998, 97–109), in welchem sie das Konstrukt des privaten Eigentums von Land kritisiert. Privates Eigentum ist zwar eine andere Thematik, jedoch beinhaltet sie genauso Grenzen, inkludierende und exkludierende Mechanismen, sowie Menschen, die die Macht über ein Gebiet für sich beanspruchen. Morales beschreibt wie Land außerhalb dieser Grenzen lebt, sich darüber hinwegbewegt und seinen eigenen Regeln befolgt, zwar immer in Reziprozität mit den Bewohner*innen dieses Gebietes, jedoch ohne auf menschlich gemachte Grenzen achtend. Dies lies mich daran denken, dass Menschen immer migrieren werden, so wie sie es schon immer gemacht haben, egal ob bedingt durch Prekarität im Herkunftsland oder weil sie einfach in einem anderen Land leben möchten und Grenzen sind in der Realität nicht fähig, Migration zu verhindern und werden dies auch nicht mit den bestausgerüsteten Sicherheitstechnologien von Grenzstreitkräften tun. Aufgrund dessen sehe ich keine andere Möglichkeit, als Grenzen abzuschaffen, wenn wir in einer besseren Welt leben möchten.

3.      Meine persönliche Grenzerfahrungen

Mein Vater migrierte kurz vor dem Ende des Kalten Krieges aus Polen nach Deutschland. Die Geschichten, die er mir darüber erzählte, klingen für mich nach einer sehr schwierigen Realität, jedoch nahm ich sie als Kind wie Abenteuergeschichten aus einer fernen Zeit wahr, welche entkoppelt waren aus der Realität, in die ich hineingeboren wurde. Er erzählte von prekären Verhältnissen aus seiner Herkunftsstadt. Laut ihm war die Migration in das damalige Westdeutschland die einzige Möglichkeit Perspektiven für die Zukunft zu erlangen. Er reiste gegen Bezahlung illegalisiert nach Deutschland ein und bekam aufgrund der damaligen politischen Situation sehr bald den deutschen Aufenthaltsstatus. Einige Jahre später kam meine Mutter aufgrund der Heirat mit meinem Vater problemlos nach Deutschland. Beide lebten damals in prekären Verhältnissen in Köln. Als meine Schwester und ich geboren wurden, hatte sich die Situation jedoch verändert und wir konnten in einer gewissen Stabilität aufwachsen. Somit hat dieser Teil der Migration nie zu meiner Gegenwart dazugehört, sondern war stets ein Teil der Vergangenheit, dort wo ich herkam.

Als ich klein war, sind wir jeden Sommer nach Polen gefahren, um die dortigen Familienmitglieder zu besuchen. Ich erinnere mich an die stundenlangen Wartezeiten im Stau an der deutsch-polnischen Grenze, die prüfenden und unangenehmen Blicke der Grenzpolizist*innen, als wir am Grenzposten ankamen. Als im Jahr 2007 die Grenze zwischen Deutschland und Polen aufgrund des Schengen-Abkommens aufgelöst wurde, war es eine Erleichterung auf der langen Fahrt, nicht eine bewachte Grenze zu passieren. Als ich immer älter wurde, genoss ich die Reisefreiheit innerhalb Europas, die ich ausgiebig auskostete. Ich machte mir damals nicht viel Gedanken darüber, da es mir in meiner europäischen Welt normal erschien, mich frei bewegen zu können.

Das Privileg wurde mit erst bewusst, als ich nach Mexiko ging. Mein problemloses Einreisen in dieses Land und der späteren Möglichkeit des Erkaufens eines Touristenvisums, um mich dort `legalisiert´ zwei Jahre aufhalten zu können, standen im Kontrast zu dem sehr präsenten Thematik der Migrant*innen aus Lateinamerika, welche Mexiko durchreisten, um in die Vereinigten Staaten von Amerika einzureisen und dabei oft ihr Leben riskierten. Zur gleichen Zeit drangen die Nachrichten der sogenannten europäischen `Flüchtlingskrise´ zu mir durch, welche gezeichnet waren von inhumanen Reisekonditionen von Menschen, die den Wunsch hatten, nach Europa zu gelangen.

Auch wenn es viele BIPoC gibt, die zum Beispiel eine deutsche Staatsbürgerschaft haben oder weiße Menschen, die dieses Privileg nicht innehaben, denke ich, dass der `Wert´ eines Reisepasses stark mit rassistischen Strukturen verschränkt ist, und wie oben aufgezeigt, koloniale Kontinuität beinhaltet. Es wird oft angenommen, dass BIPoC aufgrund von Rassismus in vielen Bereichen benachteiligt werden, jedoch wird seltener darüber reflektiert, welche Vorteile eine weiße Person[2] aufgrund der Konstruktion und Ideologie rund um ihre Hautfarbe hat und dies wird dem weißen Bevölkerungsteil in seiner Sozialisation beigebracht (vgl. McIntosh 1992). Bis zu meiner Reise nach Mexiko war mir dies auch nicht bewusst. Erst durch die direkte Konfrontation bemerkte ich, was es bedeutet, einen deutschen Reisepass zu besitzen. Dies zeigt auf, dass eine weiße Person sich frei entscheiden kann, ob sie sich mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen will oder nicht (Ogette 2018, 60). Ich denke, es ist wichtig, in Gesprächen mit weißen Personen darauf hinzuweisen, was es bedeutet, in den Karibikurlaub für zwei Wochen zu fliegen oder entscheiden zu können, nach Madagaskar zu ziehen[3].

Die persönlichen Erfahrungen zu teilen und dem Gegenüber diese Thematik zur Reflektion zu überlassen. Auch denke ich, dass wir uns als weißer, im globalen Norden geborener Bevölkerungsteil im größeren Umfang mit unserer eigenen Geschichte auseinandersetzen müssen. Ich bin mir sicher, dass man in fast jeder Familie eine Migrationsgeschichte entdecken würde. Was bedeutet es, seinen Wohnort zu wechseln? Was für Gründe sind die Motivation dafür und wie waren die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu der Zeit? Wenn wir diese Fragen in unserer eigenen Geschichte ergründen würden, würde es uns als Gesellschaft vielleicht leichter fallen, dieses Privileg anzuerkennen und dies für alle zu fordern.

Jedoch ist es in diesem beschriebenen Fall kein individueller Rassismus, den man einfach reflektieren kann, um seine Handlungsweise zu verändern, sondern ein institutioneller Rassismus, welchen man als Person aktiv kritisieren muss. Gleichermaßen ist es ein Privileg, seine politische Meinung frei äußern zu können, ohne dafür aufgrund seiner Hautfarbe verurteilt oder nicht ernstgenommen zu werden (McIntosh 1992, 32). Bewegungen wie die Black-Lives-Matter-Bewegung oder No-Border-Bewegungen können für weiße Personen eine Möglichkeit bieten, sich dem Widerstand gegen den institutionellen Rassismus anzuschließen, jedoch denke ich, dass es als weiße Person wichtig ist, keine öffentliche Rolle einzunehmen oder den Diskurs innerhalb der Gruppe zu leiten, sondern auf die Bedürfnisse der Gruppierung einzugehen und sie in den `hinteren Reihen´ zu unterstützen. Die Motivation des Engagements sollte nicht aus Altruismus resultieren, sondern

„[s]olidarity comes from the inability to tolerate the affront to our own integrity of passive or active collaboration in the oppresion of others (…). From the recognition that, like it or not, our liberation is bound up with that of every other beings on the planet, and that politically (…) we know anything else is unaffordable“

Levins Morales 1998, 125

Denn letztendlich sind alle unsere Leben miteinander verflochten und bedingen sich gegenseitig und für ein würdevolles Leben für alle sollten wir uns verbünden.


[1] Im darauffolgenden Text kann ich mich nur auf meine Wahrnehmungen der Gesellschaft beziehen, in der ich aufgewachsen bin, auch wenn es innerhalb dieser Gesellschaft auch subjektive Unterschiede gibt, die ich nicht alle wiedergeben kann. Bei diesem Beispiel bin ich mir sicher, dass es Gemeinschaften gibt, die in ihrem Lebensumfeld Grenzen weniger präsent haben wie wir, auch wenn heutzutage, global gesehen, alle Menschen in einem Nationalstaatensystem eingebunden sind.

[2] Mit einer Staatsbürgerschaft aus dem globalen Norden.

[3] Auch wenn dieses Thema mit der Diskriminierungsform des Klassismus verschränkt ist, auf welches ich in diesem Text nicht eingehen werde.


Quelle: Zuzanna Krysta, Die Grenze. Ein Versuch der Reflektion, in: Blog ABV Gender- und Diversitykompetenz FU Berlin, 22.04.2021, https://blogs.fu-berlin.de/abv-gender-diversity/2021/04/22/die-grenze-ein-versuch-der-reflektion/