The State of American Democracy

Research-based Analysis and Commentary by the Department of Politics at the John-F.-Kennedy Institute

Frank Unger: Populismus und Demokratie in den USA

In seinem in den deutschen Feuilletons viel beredeten, aber inhaltlich wenig diskutierten Buch „Eine kurze Geschichte der Demokratie“erörtert der italienische Philologe und Altertumswissenschaftler Luciano Canfora an einer zentralen Stelle die Frage, „weshalb die angloamerikanischen Revolutionen und die französische Revolution einen so unterschiedlichen Verlauf nahmen“ und zählt einige der dafür üblicherweise genannten Faktoren auf, wie z.B. „jakobinischer Zentralismus“ und „Tugendterror“ auf der einen und „Rechte des Individuums“ auf der anderen Seite, fährt dann aber fort: „Der Hauptunterschied […] wird gern vernachlässigt: dass nämlich die einen in aller Ruhe die Sklaverei bestehen ließen, ja sogar dazu beitrugen, sie zu erhalten (und dass es zu deren endgültiger Abschaffung des längsten und grausamsten Krieges ihrer Geschichte bedurfte), während die anderen recta via zu der Auffassung gelangten, dass die <Menschenrechte> nichts wert waren, wenn sie von der Hautfarbe abhängig gemacht wurden oder wenn es – außerhalb Europas – möglich war, Massen erniedrigter und billiger Zwangsarbeitskräfte in Sklaverei zu halten. Die einen beriefen sich auf die Bibel, die anderen auf die sehr viel ältere und zweifellos verklärte Tradition der Griechen und Römer als Modell für die Werte der Gleichheit und Freiheit, die universelle Gültigkeit besitzen sollten.“

„Freiheit“ und „Demokratie“ sind heute wahrscheinlich die am meisten genannten Antworten auf die Frage nach den höchsten Werten der westlichen Welt, aber wenn genauere Erläuterungen gefragt sind, wird „Demokratie“ in aller Regel schlicht operational verstanden, nämlich als die real existierenden Zustände der westeuropäischen und US-amerikanischen politischen Verfassungen mit begrenzter Amtsperiode für das Staatsoberhaupt, mindestens zwei Parteien, regelmäßig durchgeführten Wahlen auf der Basis des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts und einem von der Regierung und der Legislative unabhängigen Justizsystem, das Ganze selbstverständlich und unverzichtbar sich bewegend auf der politisch-ökonomischen Grundlage eines privatwirtschaftlichen Kapitalismus. „Freiheit“ wird inzwischen überwiegend, wenn nicht ausschließlich, verstanden als Unabhängigkeit von durch Institutionen (Staat, Gesellschaft, Kirche etc.) bedingtem Zwang; ein Verständnis von „Freiheit“, das seinen Auftrag in der Befreiung von durch andere Menschen bedingte Zwänge (ökonomische Ausbeutung, Übervorteilung, Gefährdung oder Benachteiligung aufgrund ethnischer und sozialer Herkunft, geistiger Schwäche oder psychischer Labilität etc.) sieht, wird heute überwiegend als undemokratischer Versuch einer Einschränkung der Freiheit denunziert. Wessen Freiheiten sind es aber, die in unserer modernen Demokratie vor allem zu schützen sind? Es sind, bemerkt Canfora, „diejenigen, die aus dem Konkurrenzkampf als die <Stärkeren> hervorgehen (seien es Staaten, Regionen oder Individuen – jene von Benjamin Constant geforderte und mit der Fabel vom Reichtum, der <stärker ist als alle Regierungen>, verbundene Freiheit, vielleicht aber auch jene Freiheit, für die die Anhänger der neonazistischen New Yorker Vereinigung <Knights of Freedom> kämpfen. Anders könnte es auch nicht sein, denn Freiheit impliziert den beunruhigenden Aspekt, dass sie entweder total herrscht – und zwar in allen Bereichen einschließlich des persönlichen Verhaltens – oder gar nicht; und jede Begrenzung zugunsten der weniger Starken wäre eine Einschränkung der Freiheit der Anderen.“

Canfora beschreibt hier das Freiheitsverständnis des angloamerikanischen Liberalismus, das eher durch das gemächliche englische Wort „liberty“ wiedergegeben wird als durch das emphatische „freedom“. Klassisch auf den Begriff gebracht wurde es von John Locke, anschließend kongenial transferiert in die Neue Welt von den Gründervätern der sich 1776 für unabhängig erklärenden dreizehn nordamerikanischen Siedlerkolonien. John Locke war der anerkannte und hoch geschätzte Legitimationstheoretiker der mit der „Glorreichen Revolution“ 1689 zu guter Letzt auch formell an die Macht gekommenen englischen „Mittelklasse“, oder wie die Kontinentaleuropäer sagen, der Bourgeoisie; er war kein Kämpfer für die Freiheitsträume der Massen. Besitzlose kamen als Subjekte in seiner Theorie nicht einmal vor. Und entsprechend wollten auch die bürgerlichen Gründerväter der Vereinigten Staaten eine „liberale Republik“ und ausdrücklich keine „Demokratie“. Ihre Verfassung von 1787/88 wurde nicht a priori als institutionelles Fundament für eine künftige demokratische Willensbildung aller Bürger imaginiert, sondern ex post als Legitimation für die real bereits existierende Herrschaft der sich klassenintern konstituierenden Ausschüsse der lokalen Privateigentümer konstruiert.

Zum Zeitpunkt des Unabhängigkeitskrieges war einer von fünf Amerikanern ein schwarzer Sklave, die ebenfalls im Lande lebenden Ureinwohner galten von vornherein nicht als amerikanische Bürger. Sie galten stattdessen als eigene „Nationen“, was ihre rechtliche Situation auf längere Sicht aber auch nicht besser machte. Immerhin waren sie faktisch geschützt vor Sklavenarbeit. Zwar gab es während des Unabhängigkeitskriegs und während der Phase der Konstituierung der neuen Nation auch Kräfte, die mit den Führern und Theoretikern der Französischen Revolution in Verbindung standen und für das neue Staatswesen eine demokratische Verfassung auf der Basis der universalen Menschenrechte forderten, aber unter den Verhältnissen der bald einsetzenden Konsolidierung wurden sie von den Herren des nunmehr „freien“ Amerika unverzüglich als Atheisten und Unruhestifter geschmäht.

Die Sklaverei, die zum Zeitpunkt des Unabhängigkeitskrieges bereits seit über hundert Jahren in allen Kolonien etabliert war, wurde in der Verfassung von 1788/89 zwar nicht ausdrücklich sanktioniert, wohl aber implizit anerkannt.

Nun darf man den Gründervätern der amerikanischen Republik, allen voran Washington und Jefferson, nicht etwa unterstellen, dass sie sich des Widerspruchs zwischen den proklamierten Idealen der Revolution und der Praxis der Sklaverei nicht bewusst gewesen wären. Ein Indiz dafür ist die Wortwahl im ursprünglichen Verfassungstext: Man benutzt keine garstigen Wörter wie „Negersklaven“ oder „Sklaverei“, sondern spricht von other Persons oder Persons held to Service or Labour. In dieser verschleiernden Wortwahl drückte sich die Tatsache aus, dass unter den 55 Männern in der Verfassungsgebenden Versammlung von 1787 sowohl eine erhebliche Zahl von Sklavenhaltern als auch eine Reihe von Gegnern der Sklaverei waren; man suchte einen verbalen Kompromiss, mit dem die realen Interessen eines gewichtigen Teils der Nation konstitutionell gesichert werden konnten, ohne die humanistischen Überzeugungen eines anderen Teils (oder vielleicht auch das Über-Ich der jungen Nation!) dabei rhetorisch zu verletzen oder zu provozieren. Aber darin einen echten Ausdruck von Ambiguität oder gar eines inneren Widerspruchs im Denken und Fühlen der Gründerväter erkennen zu wollen, verkennt schlicht die zentrale Bedeutung der Sklaverei für die ökonomische Verfassung der damaligen Vereinigten Staaten. Schließlich galt den Gründervätern das Privateigentum als die Basis der individuellen Freiheit, und the pursuit of happiness in Jeffersons Unabhängigkeitserklärung war als Apotheose des Bemühens um optimale Nutzung des (naturrechtlich garantierten) Privateigentums gemeint; es steht damit auch theoretisch schon in einem Spannungsverhältnis zu den französischen Ideen von Freiheit und Gleichheit.Die Sklaverei war eine vielleicht moralisch fragwürdige, nichtsdestoweniger jedoch juristisch anerkannte Form des Privateigentums.

Ein solches Verständnis hegte im Übrigen in gleicher Weise die Mehrzahl der besitzenden Weißen im Norden, bloß dass im Norden die Sklaverei nur eine marginale ökonomische Bedeutung hatte. In der großen Industrie spielte sie keine Rolle. Niemand hatte ein ökonomisches Interesse daran, sie entschlossen zu verteidigen. Deshalb konnten die überzeugten moralischen Gegner der Sklaverei dort frühzeitig gewisse gesetzgeberische Erfolge erringen, die allerdings hauptsächlich symbolisch-demonstrativen Charakter hatten und an die Beschlüsse der deutschen rot-grünen Bundesregierung über den „Atomausstieg“ zweihundert Jahre später erinnern. So gab z. B. das vom Staat New York 1799 auf Druck von Gegnern der Sklaverei verabschiedete Emanzipationsgesetz keinem einzigen aktuellen Sklaven die Freiheit; es bestimmte allein, dass die Kinder von Sklavenmüttern freizulassen seien, allerdings erst nach dem Erreichen des Erwachsenenalters. Bis dahin hatten sie noch dem Herrn der Mutter für den gesetzlich ihm zugemuteten Eigentumsverlust kompensatorische Dienste zu leisten.

Eine Vollversion dieses Texts erscheint demnächst im Sammelband „Populismus in Geschichte und Gegenwart“, herausgegeben von Frank Unger und Richard Faber.

Der Beitrag wurde am Sonntag, den 21. Oktober 2007 um 23:05 Uhr von Nikolas Rathert veröffentlicht und wurde unter The State of American Democracy: Innenpolitik abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

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