Die Sozialistische Arbeiter-Jugend (SAJ) war von 1922 bis 1933 ein sozialistischer Jugendverband, der eng mit der SPD verbunden war. Sie richtete sich an Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren und verstand sich als Bildungs- und Erziehungsbewegung. Ihre Hauptaufgabe war es, die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Forderungen der Arbeiterjugend zu vertreten und ihre Mitglieder im Geiste des Sozialismus zu erziehen. Mit dem Niedergang der Weimarer Republik und der zunehmenden Macht der Nationalsozialisten endete die Ära der legalen demokratischen Jugendbewegung. Nachdem die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, wurden alle Arbeiterjugendorganisationen verboten, während viele bürgerliche Jugendverbände sich selbst auflösten oder durch die Nationalsozialisten „gleichgeschaltet“ wurden.“
Bild: Paul Löbe inmitten von Mitgliedern der SAJ beim SPD-Parteitag in Leipzig am 31.05.1931, Bildnachweis an „AdsD der FES, 6/FOTA013771 – mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Friedrich-Ebert-Stiftung
Kürzlich wurde eine seltene Broschüre der SAJ aus dem Jahr 1924 aus dem Bestand der Alfred-Weiland-Sammlung der FU Berlin identifiziert, die einen Einblick in die internationalen Verbindungen und Zielsetzungen der sozialistischen Jugendorganisationen bietet. Die Publikation trägt den Titel „Die Internationale Sozialistische Jugendbewegung. Werdegang und Ziele der Sozialistischen Jugend-Internationale und der ihr angeschlossenen Verbände“. Das Exemplar weist einen Besitzstempel von Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) Barth a. d. Ostsee sowie eine Katalogisierung Nr. 36 auf.
Titelblatt mit diversen Provenienzen: Die Internationale Sozialistische Jugendbewegung, Verlag der Sozialistischen Jugend-Internationale, Berlin 1924
Provenienz: Sozialistische Arbeiter-Jugend Barth a. d. Ostsee
Provenienz: Arbeiterjugend Barth, Nr. 36
In Barth, einer Kleinstadt im Landkreis Vorpommern-Rügen in Mecklenburg-Vorpommern, war die SPD in der Zeit der Weimarer Republik relativ stark. Die Partei erzielte sowohl bei Reichstags- als auch bei Kommunalwahlen gute Ergebnisse, besonders in Arbeiterkreisen. Dies spiegelte sich auch in der Gründung der Barther Ortsgruppe der Sozialistischen Arbeiterjugend wider. Ihre Entstehung ist untrennbar mit dem Namen Max Niemann verbunden, der Anfang der 1930er Jahre dem lokalen Vorstand der SPD angehörte. Niemann war nach dem Ersten Weltkrieg verantwortlicher Geschäftsführer der lokalen Zeitung „Der Vorpommer“ und gründete die Barther Ortsgruppe der Sozialistischen Arbeiterjugend. Nach der Veröffentlichung eines kritischen Artikels über die zunehmenden nationalsozialistischen Aktivitäten kam es zu Angriffen auf die Barther Geschäftsstelle des Vorpommer. In der Folge wurde Max Niemann unter dem Vorwurf eines Boykottaufrufs gegen örtliche Geschäftsleute – in einem politisch motivierten Verfahren – verurteilt. Die Eskalation gipfelte im Verbot des Vorpommer am 28. Februar 1933. An seine Stelle trat kurz darauf die nationalsozialistisch ausgerichtete Zeitung Volkswillen.
Provenienz mit Bleistift: 15
Eine weitere Provenienz, der Bleistiftvermerk ‚15‘, belegt eine von den Nationalsozialisten veranlasste Beschlagnahme und die anschließende Überführung des Exemplars in die Bibliothek des Reichssicherheitshauptamts (RSHA). Die Nummer 15 verweist auf die Bergungsstelle für wissenschaftliche Bibliotheken (Kennziffer 015), die beschlagnahmte Bücher im Rahmen des NS-Literaturraubs sichtete und an Institutionen weitergab. Die Bibliothek befand sich in der Eisenacher Straße 11–13 in Berlin, einem beschlagnahmten früheren Logenhaus, das von der SS genutzt wurde.
Anfang Juni 2025 wurde das Exemplar mit drei weiteren Broschüren, die Provenienzen aus anderen Ortsgruppen der Sozialistischen Arbeiter-Jugend aufweisen, an die Friedrich-Ebert-Stiftung restituiert.
Die Bibliothek der Familie Skórzewski war einst eine der größten privaten Büchersammlungen Polens – rund 70.000 Bände beherbergten die Paläste von Lubostroń und Czerniejewo, ergänzt durch eine bedeutende Kunst- und Münzsammlung. Doch mit dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 begann ihr Untergang: Die Bestände wurden beschlagnahmt, verteilt, geplündert – vieles ging unwiederbringlich verloren.
Heute, über acht Jahrzehnte später, ist von diesem einst imposanten Besitz nur wenig erhalten geblieben. Kunstwerke der Familie Skórzewski gelten bis heute als verschollen. Auf der Plattform Lost Art ist eine Suchmeldung zu einigen beschlagnahmten Kunstgegenständen verzeichnet. Nur noch ein einziges Buch aus der üppigen Bibliothek befindet sich im Besitz der Nachfahren.
Im Zuge der Provenienzerschließung innerhalb der Alfred-Weiland-Sammlung konnte nun ein weiteres Buch aus der dieser Büchersammlung identifiziert werden.
Es handelt sich um das Rara Exemplar: „Über den niederen Adel und dessen politische Stellung in Deutschland“ von Wilhelm Freiherr Schenk zu Schweinsberg, einem hessischen Juristen und Publizisten, das 1842 im Verlag von Beck und Fränkel, Stuttgart & Sigmaringen anonym erschien.
Abb. 1: Titelblatt mit Provenienz 1: roter Stempel
Abb. 2: Buchdeckel mit Provenienz 2, links oben: 1015
Auf dem Titelblatt befindet sich ein markanter roter Stempel: In roten Großbuchstaben ist der Ortsname LUBOSTROŃ zu lesen, darüber kreuzen sich die Initialen L und S, über denen eine stilisierte, neun-zackige Grafenkrone schwebt – ein eindeutiger Hinweis auf die Bibliothek der Adelsfamilie Skórzewski.
Provenienz 1: LS LUBOSTROŃ
Provenienz 2: 1015.
Die Adelsfamilie Skórzewski nahm im 19. Jahrhundert eine prägende Rolle im kulturellen und bildungspolitischen Leben Polens ein. Ihr Stammsitz, der heute denkmalgeschützte klassizistische Palast Lubostroń (im gleichnamigen Dorf der Gemeinde Łabiszyn im Powiat Żnin der Woiwodschaft Kujawien-Pommern im Norden Polens.) beherbergte eine bedeutende Familienbibliothek, deren Grundstock zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Graf Leon Fryderyk Skórzewski (*28.6.1845 Posen, †2.3.1903 Lubostron, auch bekannt als Leon Fryderyk Walenty Hrabia Drogosław Skórzewski) gelegt wurde.
Graf Leon von Skórzewski war Abgeordneter im Deutschen Reichstag für die Polnische Fraktion und galt als großer Förderer polnischer Kultur. Seine Bibliothekssammlung in Lubestroń wuchs bis in die Zwischenkriegszeit auf schätzungsweise 20.000 Bände an. Obwohl sie nie vollständig katalogisiert wurde, dokumentiert ein erhaltenes Inventarbuch aus dem 19. Jahrhundert wesentliche Teile des Bestandes, das von dem polnischen Historiker, Prof. Dr. hab. Ryszard Nowicki untersucht wurde.
Zygmunt Włodzimierz Witold Skórzewski, CC0-Lizenz (Creative Commons Zero)
Ein Nachfahre der Familie war Zygmunt Włodzimierz Skórzewski
(*1894 Czerniejewo–†1974 Korsika). Er war der Nachfolger in der Linie der Haupterben des Familienbesitzes Czerniejewo-Radomice und Łabiszyn-Lubostroń, eines großen, nicht aufteilbaren Gutskomplexes, der als sogenanntes Ordynat geführt wurde – eine damals auch in Polen verbreitete Form des Fideikommisses (Nach 1945 durch die kommunistische Bodenreform abgeschafft.) Als Hauptverwalter dieses Besitzes war er für die Bewahrung und Weitergabe der kulturellen und wirtschaftlichen Werte der Familie verantwortlich. In den Jahren 1932 bis 1938 übergab er rund 11.000 Bände aus seinem Besitz der Raczyński-Bibliothek in Posen, um dieses Kulturgut einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Aber bereits Anfang September 1939, nur wenige Stunden vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht, musste Zygmunt Skórzewski mit seiner Frau Leontyna und den drei Kindern ihr Gut in Czerniejewo verlassen und fliehen. Ihr Weg führte sie zunächst ostwärts nach Ołyka in Wolhynien (heute Ukraine) zu Verwandten seiner Frau. Als am 17. September 1939 auch sowjetische Truppen in Ostpolen einmarschierten, setzte die Familie ihre Flucht fort. Nach einem Aufenthalt in Lemberg (Lwów) flohen sie schließlich im Februar 1940 unter schwierigen Bedingungen – zu Fuß, bei Nacht und mitten im Winter – über den Grenzfluss Czeremosz nach Rumänien. Von dort gelangten sie mit Hilfe französischer Visa in die Schweiz und fuhren mit dem Orient-Express Richtung Italien und erreichten schließlich Rom.
In Italien war Zygmunt Skórzewski offiziell als Delegierter des Polnischen Roten Kreuzes tätig – de facto agierte er jedoch als Verbindungsmann der polnischen Exilregierung und des militärischen Nachrichtendienstes. 1943 wurde Zygmunt Skórzewski von der italienischen Geheimpolizei unter dem Druck der Deutschen Besatzung verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Seine Frau wurde getrennt inhaftiert, die Kinder kamen in die Obhut der polnischen Botschaft in Rom. Erst 1945, nach 32 Monaten Gefangenschaft, gelang durch Vermittlung von Papst Pius XII. die Freilassung. Nach der Befreiung ließ sich die Familie dauerhaft auf Korsika nieder, wo Zygmunt Skórzewski am 10. Mai 1974 verstarb.
Von der einst reichen Sammlung blieb kaum etwas erhalten, denn nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde das Schloss Lubostroń mitsamt der Bibliothek der Familie Skórzewski beschlagnahmt. Die Bestände von Lubostroń und Czerniejewo, darunter auch Teile der Raczyński-Bibliothek (1938 umfasste die Raczyński-Bibliothek insgesamt mehr als 160.000 Bände) wurden durch Einheiten der deutschen Wehrmacht nach Posen (Poznań) verbracht. Ein Großteil gelangte in das zentrale Bücherlager der Kirche des heiligen Erzengels Michael (Parafia pw. Świętego Michała Archanioła w Poznaniu) in Posen, das als Sammelstelle für von den Nationalsozialsten beschlagnahmte Bücher verschiedenster Herkunft diente. Dieses Lager umfasste nach Schätzungen bis zu drei Millionen geraubter Bände. Darunter befanden sich Werke aus kirchlichem, staatlichem und privatem Besitz.
Kirche des heiligen Erzengels Michael in Posen. Foto: Radomil / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kościół_Michała_Archanioła_Poznań_RB1.JPG
In den folgenden Jahrzehnten konnten vereinzelt Rückgaben erfolgen, die mangels überlieferter Dokumentation ausschließlich anhand erhaltener Provenienzmerkmale identifiziert und zugeordnet werden konnten. Heute sind in der Raczynski-Bibliothek noch ca. 40 Manuskripte und vier Bücher aus der Skórzewski Sammlung erhalten.
Das nun identifizierte Exemplar gelangte aus der ehemaligen Bibliothek des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) in Berlin in den Besitz des ehemaligen Rätekommunisten und Widerstandkämpfers Alfred Weiland (*1906 Berlin – †1978 West-Berlin), der es nach dem Krieg aus den RSHA Beständen übernahm und in seine private Sammlung eingliederte. Diese Sammlung wurde 1979 von seiner Tochter an die Freie Universität Berlin verkauft.
Der eindeutige Nachweis der Herkunft dieses Exemplars ist Prof. Dr. Ryszard Nowicki zu verdanken, der im Rahmen seiner langjährigen Forschungen zur Bibliothek der Familie Skórzewski die Provenienz des Bandes zweifelsfrei belegt hat. Die Überlieferungskette lässt sich heute wie folgt rekonstruieren:
→ Bestandteil der Skórzewski-Bibliothek Lubestroń → 1939 Enteignung durch deutsche Wehrmacht
→ Verlagerung in das Bücherlager der St. Michael Kirche, Posen → Verlagerung nach Berlin durch die deutsche Wehrmacht
→ 1945/46 Übernahme aus den Beständen der Bibliothek RSHA durch Weiland → 1979 Erwerb Weiland-Sammlung durch FU Berlin
Im Juni 2025 wurde das Werk durch die Arbeitsstelle Provenienzforschung der FU Berlin an die Nachfahren der Familie Skórzewski restituiert.