Spuren in Tausenden Büchern – Podcast Provenienzforschung

Unser dritter Podcast ist da!

In der dritten Folge Geraubte Kultur geht es darum, woher die Bücher für die Bibliothek des Instituts für Judaistik kamen.

Diese Folge widmet sich den Büchern des Instituts für Judaistik, welches 1963 an der Freien Universität Berlin gegründet wurde. Obwohl es sich hierbei um eine Nachkriegsgründung handelt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass auf verschiedenen Wegen NS-Raubgut in den Bibliothekskorpus gelangte. Provenienzforscher Stephan Kummer erzählt von den Anfängen des Fachbereichs, dem Aufbau der Institutsbibliothek und den Besonderheiten bei der Bestandsuntersuchung. Da es sich bei dem Provenienzforschungsprojekt um eine durch Drittmittel finanzierte und befristete Forschungsarbeit handelt, wird das Interview mit Dr. Uwe Hartmann ergänzt. Als Leiter des Fachbereichs Kulturgutverluste im 20. Jahrhundert in Europa beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste berichtet Dr. Hartmann von den Anfängen der zentralen Koordinierung von Provenienzforschung, den wesentlichen Aufgabenbereichen der Stiftung und den umfangreichen Fördermöglichkeiten. Am Ende dieser Folge erfahren wir von einer Restitution nach Polen und lernen, wie Provenienzforschung durch internationales Netzwerken Brücken bauen kann.

Neugierig geworden? Hier geht es zur Folge 3: Geraubte Kultur

https://www.fu-berlin.de/sites/ub/ueber-uns/provenienzforschung/10-jahre/podcast/podcast-folge3/index.html

Zwei Bücher befinden sich wieder im Besitz der Jüdischen Gemeinde zu Berlin

Die Arbeitsstelle für Provenienzforschung war es gelungen, am 17. März 2023 zwei Bücher als Schenkung an die Jüdische Gemeinde zu Berlin (JGzB) zu übergeben. Nach den Novemberpogromen 1938 wurden die Gemeindebibliothek und ihre Außenstellen geschlossen. Die Bibliotheksbestände beschlagnahmten die Nationalsozialisten im Frühjahr 1939. Ein wesentlicher Teil des Bibliothekskorpus ging im Zuge des Krieges verloren. Somit kehren zwei Bücher 84 Jahre nach ihrer Beschlagnahmung zurück in den Besitz der JGzB.

Historischer Bibliotheksstempel der „Bibliothek der jüdischen Gemeinde Berlin“. © Freie Universität Berlin

Die beiden Bücher wurden antiquarisch von der Freien Universität Berlin (FU) erworben. Auf dem inneren Buchdeckel eines der beiden Bücher befindet sich das Exlibris der Jewish Cultural Reconstruction, Inc. (JCR). Die zentrale Aufgabe der JCR bestand zwischen 1947 und 1952 darin, in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands sog. herrenloses Kulturgut aus jüdischem Besitz zu sammeln und weiterzuverteilen. Aus uns unbekannten Gründen gelangte dieser Band auf dem antiquarischen Markt, wurde 1982 von der FU Berlin erworben und in den Geschützten Bestand des Instituts für Judaistik aufgenommen.

Buch: Kayserling, Meyer: Moses Mendelssohn – sein Leben und seine Werke. Verlag: Hermann Mendelssohn, Leipzig. (1862)

Exlibris der Jewish Reconstruction, Inc. © Freie Universität Berlin

Auch der zweite Band hat verschiedene Wege genommen, ehe dieser 1980 ebenfalls antiquarisch erworben und in den Bestand aufgenommen wurde. Auf dem Titelblatt befindet sich der Stempel der JGzB, der wiederum ein oder zweimal überstempelt wurde. Es war zunächst nicht klar, ob dieser Provenienzhinweis mit dem Besitzmerkmal der Bibliothek des Berliner Deutsch-Israelitischen-Gemeindebundes (DIGB) überstempelt wurde. Die Vermutung liegt nahe, dass sich das Buch bis zur Auflösung des DIGB im Jahr 1933 dort befand und im Anschluss in die Gemeindebibliothek eingearbeitet wurde. Ein dritter Stempel wurde genutzt, um diese beiden Stempel erneut zu überstempeln. Anhand dieses dritten Provenienzmerkmal wird deutlich, dass der Band im Antiquariat „ZOHAR“ in Tel Aviv gelandet ist. Dort hat es auch die FU Berlin erworben. Der vierte Stempel, der zu identifizieren war, zeigt, dass sich das Buch bis zu seinem Verkauf an und durch das Antiquariat „ZOHAR“ im Besitz des Kibbutz Oranim befand und Teil des Lehrbetriebs war.

Buch: Formstecher, Salomon: Die Religion des Geistes – Eine wissenschaftliche Darstellung des Judenthums nach seinem Charakter, Entwicklungsgange und Berufe in der Menschheit. Verlag: Hermann, Frankfurt am Main. (1841)

Der rechteckige Stempel gehörte zum DIGB, darüber befindet sich der Stempel der JGzB und des ANtiquariats „Zohar“. © Freie Universität Berlin

Aufgrund der Recherchen sind die beiden Bücher als eindeutiges NS-Raubgut zu bewerten. Deshalb entschied sich die Arbeitsstelle Provenienzforschung an der Freien Universität Berlin dazu, die beiden Exemplare als Schenkung zurückzugeben.

Rechercheergebnis: NS-Raubgut

Weitere Informationen finden Sie unter:

Buch 1 in LCA: https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/281330

Buch 2 in LCA: https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/281516

Adolf Sultan (1861 – 1941)

privat: Portraitzeichnung Adolf Sultan, ca. 1935

Adolf Sultan wurde als Abraham Sultan am 2. Februar 1861 in Thorn/Westpreußen (heute Toruń/Polen) als zweites Kind von Wolff (1832 – 1897) und Johanna (1834 – 1898, geborene Barnass) Sultan geboren. Ihm folgten weitere fünf Geschwister – Laura, Louis, Georg, Gertrud und Curt. Seine älteste Schwester hieß Elise. Sein Vater gründete 1858 die W. Sultan Spirituosenfabrik, später Sultan & Co GmbH Destillation, in Mocker, ab 1869 expandierte die Sultan Spritfabrikation auch nach Thorn. Adolf Sultan wuchs in einer wohlsituierten jüdischen Familie auf.

1879 erlangte er die Hochschulreife und änderte zu diesem Zeitpunkt seinen Vornamen in Adolf . Er trat in die väterliche Firma ein und absolviert eine kaufmännische Lehre. Nach dem Tod seines Vaters übernahm er den Betrieb.

1889 heiratete Adolf Sultan Margarethe Mirjam Victorius (1868 Graudenz/Westpreußen (heute Grudziądz/Polen) – 1902 Berlin), Tochter des Eisenfabrikanten Carl Victorius (1832 – 1906) und seiner Frau Anna, geborene Kadisch (gest. 1880).

Adolf und Margarethe mit Tochter Anna Frieda Sultan
Quelle: Moritz von Bredow, mit freundlicher Genehmigung

Das Paar hatte drei Kinder: Anna Frieda, genannt Ännchen (1889 Thorn – 1899 Berlin) Clara Paula genannt Claire (1891 Thorn – 1943 KZ Auschwitz) und Herbert Siegfried Sultan (1894 Thorn – 1954 Heidelberg). 1901 zog die Familie von Thorn nach Berlin und die Belange der Firma wurden von dort aus geregelt. Margarethe, die gesundheitlich angeschlagen war, starb 1902 im Alter von nur 34 Jahren.

Zwei Jahre später heiratet Adolf Sultan die Witwe seines Schwagers Leo Victorius (1864 – 1902), Ida Rosa „Coba“ Victorius, geborene Lewino (1872 Worms – 1958 USA). Sie brachte drei Kinder mit in die Ehe: Jacob Curt Victorius (1895 Gaudenz – 1972 Greensboro/USA), Anna Victorius, genannt Anni (1897 Gaudenz – 1993 Alameda/USA) und Käte Victorius (1901 – 1986).

Die Familie erhielt in den Jahren 1905 und 1906 weiteren Zuwachs: Wolfgang Carl Sultan (1905 Berlin – 1936 Berlin) und Johanna Margarete, kurz Grete Sultan (1906 Berlin – 2005 New York).

Dank des beruflichen Erfolgs von Adolf Sultan lebt die Familie in wohlhabenden großbürgerlichen Verhältnissen. 1906 zieht die Großfamilie aus der Rankestraße 33, in die, von Adolf Sultan bei dem Architekten Richard Riemerschmid 1905 in Auftrag gegebene Villa in der Delbrückstraße 6 am Hubertussee in Berlin-Grunewald (die Villa wurde 1965 abgerissen).

privat: Villa in der Delbrückstraße 6a ca. 1913 mit Familienangehörigen und Personal – Postkarte
Käte, Grete und Wolfgang, ca. 1915
Quelle: Moritz von Bredow, mit freundlicher Genehmigung

Beide Eltern waren musikalisch begabt und haben die Begabung an ihre Kinder weitergegeben. Adolf Sultan erlernte bereits als Kind das Geigenspiel und spielt später auch Bratsche. Seine Frau Coba war vor allem literaturinteressiert und spielt Klavier. Die Kinder wuchsen in einem sehr musikalischen, intellektuell anregenden und aufgeschlossenen Elternhaus auf, in dem viele Künstler und Musiker der Zeit verkehrten.

Herbert, Curt, Käte, Clara und Anni, ca. 1904
Quelle: Moritz von Bredow, mit freundlicher Genehmigung

1908 gibt Adolf Sultan die Geschäftsführung des Unternehmens an seinen Cousin Eugen Barnass ab. Dieser leitete die Firma Sultan bis zum endgültigen Verkauf im Jahre 1919. Der Familiensitz im Berliner Grunewald wurde 1922 verkauft und Adolf und Coba Sultan zogen in das rund 100 Kilometer von Berlin entfernte Kümmernitz/Havelberg. 1927 kehrten sie in ein kleineres Anwesen, in der Ernst-Ring-Straße 2-4 am Nikolassee, nach Berlin zurück. Der Name Adolf Sultan wird 1939 aus dem Grundbuch getilgt.

privat: Adolf und Coba Sultan in Kümmernitz beim Schachspielen, Mitte der 20er Jahre

Mit der Machergreifung der Nationalsozialisten wurde das Leben der Familie Sultan zunehmend schwieriger. Die beiden Pianistinnen Anni und Grete wurden 1935 aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen – dies kam einem Berufsverbot gleich.

privat: Adolf und Coba Sultan (Kind unbekannt) vermutlich im Garten Ernst-Ring-Straße 2-4

Anni verlies im Februar 1936 Deutschland und ging nach Japan. In Nishinomiya unterrichtete sie ab April 1937 am Kobe College.

Im November 1936 erschoss sich der gemeinsame Sohn von Adolf und Coba Sultan, Wolfgang Carl, nachdem er wegen „Rassenschande“ denunziert worden war. Er hatte sich mit der „arischen“ Krankenschwester Marianne Grosser verlobt, die ebenfalls Selbstmord beging.

Die Familie bemühte sich intensiv darum Deutschland verlassen zu können. Käte floh über die Schweiz nach Venezuela. Sohn Jacob Curt (Kurt) kam im April 1938 in New York an und fand eine Anstellung als Professor für Ökonomie and Business Administration am Guilford College in Greensboro/ North Carolina. Sohn Herbert Sultan emigrierte 1939 nach England, er kam als Einziger der Sultankinder 1947 nach Deutschland zurück und lehrte als Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler an der Universität Heidelberg. Der jüngsten Tochter, Grete, gelang im Mai 1941 die Ausreise über Lissabon in die USA. Die meisten der Sultan Kinder und Enkel hatten zu diesem Zeitpunkt bereits das Land verlassen.

privat: Adolf und Coba Sultan vermutlich im Garten Ernst-Ring-Straße 2-4

Adolf und Coba erhielten ebenfalls 1941 ein Visum für die Schweiz, doch das Schicksal entschied anders für Adolf Sultan. Bereits gesundheitlich angeschlagene, verstarb er am 16. August 1941 in der Konstanzer Straße 59, der letzten Berliner Adresse des Ehepaars Sultan. Laut der Sterbeurkunde erlagt er einem Lungeninfarkt. Mit Hilfe von Freunden, gelang es seiner Frau Coba Sultan in die Schweiz auszureisen. 1946 ging sie von dort zu Grete und Jacob Curt in die USA. Im Mai im 1963 übersiedelte Anni von Japan nach Kalifornien.

Tochter Clara Paula (geschiedene Guttsmann) wurde am 28.09.1943, mit dem 43 Osttransport in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht und mit nur 52 Jahren ermordet. Ihre letzte Adresse in Berlin war die Barbarossastr. 35 in Berlin-Wilmersdorf. Ihr Vermögen ging durch „Einziehung“ auf das Deutsche Reich über. Ihrem geschiedenen Mann und den Söhnen Franz Peter (1915 – 1998) und Ulrich, später Allen (1918 – 1996) gelang die Flucht nach Großbritannien und später in die USA.

Auch einige Kinder von Adolf Sultans Schwestern war das Schicksal nicht gnädig, sie wurden im Holocaust in Riga ermordet – Frieda Berwin (1882 – 1941) Tochter von Adolf Sultans ältester Schwester Elise, Clara (1885 – 1941) und Gertrud Silbermann (1887 – 1941), Töchter seiner Schwester Laura.

Der materiellen Besitzes der Familie wurde für eine spätere Ausreise bzw. Weiterreise in hölzerne Kisten (Lifts) verpackt und nach Hamburg (Hafen) geschickt. Ob die umfangreiche Bibliothek von Adolf Sultan Teil dieser Ausreisekisten war, ist nicht mehr zu klären. Klar ist jedoch, die Lifts haben Hamburg nie verlassen. Der Besitz und etwaiges Vermögen der geflohenen Familienmitglieder, ging an das Deutschen Reich über.

Adolf Sultan war vermutlich ein warmherziger Mensch, der Kinder liebte. Eine Patchworkfamilie dieses Ausmaßes, war sicher auch für seine Zeit etwas Besonderes. Überliefert ist seine Liebe zur Musik und die vielen musikalischen Abende im Hause Sultan. Wie er den NS-Terror und die Angst um seine Familie erlebte oder was seine Vorstellung zu einem Leben außerhalb Deutschlands gewesen sind, kann nur vermutet werden.

Für die meisten überlebenden Familienmitglieder war Deutschland aufgrund der Erfahrungen des NS-Terrors ein Trauma, über das nicht oder kaum geredet wurde. Umso dankbarer sind wir, dass uns eine Erbin aus der Generation der Ur-Enkel über unsere Datenbank Looted Cultural Assets (LCA) kontaktiert hat. Dank ihr, konnten wir im März 2023 ein Buch an die Familie in den USA restituieren.

Spuren in Tausenden Büchern – Podcast Provenienzforschung

Unser zweiter Podcast ist da!

In dieser Folge „Wiederaufbau“ geht es darum, woher die Bücher für die Bibliothek des Botanischen Gartens kamen.

Ausgangspunkt dieser Folge ist die Zerstörung der Bibliothek des Botanischen Gartens Berlin bei einem Luftangriff am 1. März 1943. Nachdem ein Großteil der Sammlungen verbrannt war, begann der Wiederaufbau der Bibliothek noch während des Zweiten Weltkriegs. Provenienzforscherin Lisa Trzaska erläutert im Interview, wie durch solche Wiederaufbauprogramme in der NS-Zeit Raub- und Beutegut in Bibliotheken gelangte. Ergänzt wird sie von Bibliotheksleiter Dr. Norbert Kilian, der auf die Besonderheiten der Bibliothek des Botanischen Gartens hinweist. Historische Briefe veranschaulichen, woher ab 1943 die Bücher für den Wiederaufbau kamen: Aus dem besetzten Paris und aus geplünderten Bibliotheken Osteuropas. Zum Schluss kommen noch Peter Prölß vom Deutschen Technikmuseum und Coralie vom Hofe von der französischen Kommission für die Entschädigung der Opfer von Enteignung (CIVS) zu Wort. Sie erzählen über eine besondere Restitution zweier Bücher nach Frankreich.

Neugierig geworden? Hier geht es zur Folge 2: Wiederaufbau

https://www.fu-berlin.de/sites/ub/ueber-uns/provenienzforschung/10-jahre/podcast/index.html

Spuren in Tausenden Büchern – Podcast Provenienzforschung

Unser erster Podcast ist da! 🎙️ Zum Auftakt des 10-jährigen Jubiläums der Arbeitsstelle Provenienzforschung der Universitätsbibliothek an der FU Berlin starten wir unsere Podcast-Reihe: Spuren in Tausenden Büchern. In der ersten Folge „Anfänge“ geht es darum, wie die Suche nach den geraubten Büchern begann und wie die Spuren aus den Büchern ins Internet kamen.

Von historischen Erinnerungen an die Suche nach geraubten Büchern kurz nach dem Zweiten Weltkrieg führt diese erste Folge im Zickzack bis zum 10-jährigen Jubiläum der Arbeitsstelle Provenienzforschung im Jahr 2023. Auf dem Weg liegen unter anderem die Gründung der Freien Universität Berlin 1948, die Anfänge systematischer NS-Raubgutforschung in den 1990er Jahren und jede Menge Spuren in Büchern – die heute in einer modernen Datenbank
(Looted Cultural Assets) verzeichnet werden.

Ringo Narewski, Leiter der Arbeitsstelle Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der FU, erzählt im Interview mit Lizaveta Wunderwald von Erfahrungen und Schwierigkeiten bei der Suche nach NS-Raubgut in Bibliotheken. Bei diesem Thema ergänzen ihn Dr. Andreas Brandtner, Leitender Direktor der Universitätsbibliothek der FU, sowie die Provenienzforscher Sebastian Finsterwalder und Peter Prölß von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin und dem Deutschen Technikmuseum.    

Neugierig geworden? Hier geht es zur Folge 1: Anfänge

Folge 1: Anfänge

10 Jahre Jubiläum Arbeitsstelle Provenienzforschung

Die Arbeitsstelle Provenienzforschung wird 10!🎉

Zahlreiche Events bieten das ganze Jahr 2023 einen Blick auf die junge Geschichte der Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der FU Berlin. Infos zum Auftakt unseres Jubiläums finden Sie in Kürze auf unserer Webseite und auf Twitter. https://twitter.com/raubgut_books

Rückgabe von NS-Beutegut: zurück in die Bibliothek der Karls-Universität Prag

Im September 2022 wurde ein Buch aus dem Bücherraub der deutschen Wehrmacht an die Karls-Universität Prag zurückgegeben. Die Arbeitsstelle Provenienzforschung hat im Zuge der Provenienzforschung in der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin (FU) das Buch als NS-Beutegut identifiziert.

Nur wenige Monate nach der deutschen Besetzung Tschechiens, errichtete die Wehrmacht das „Protektorat Böhmen und Mähren“. Dabei wurde die älteste Universität Mitteleuropas 1939 in die Berliner Reichsverwaltung übernommen und zur Reichsuniversität unter dem Namen „Deutsche Karls-Universität in Prag“ erklärt.

Im Zuge der so genannten „Arisierung“ verdrängten die Nationalsozialistinnen jüdische Studierende und jüdisches Lehrpersonal aus der Karls-Universität Prag. Gleichzeitig kam es zu Plünderungen und Beschlagnahmungen zahlreicher Fakultätsbibliotheken zur Sicherstellung des sogenannten „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ durch die deutsche Wehrmacht. So wurde das Gebäude der Juristischen Fakultät vom SS-Hauptquartier besetzt und ein Großteil der Bibliotheksbestände beschlagnahmt und später nach Deutschland verbracht.

Das Zugangsbuch der Universitätsbibliothek aus dem Jahr 1963 weist als Lieferanten das wissenschaftliche Antiquariat Sauer & Keip auf. Das Exemplar enthält zwei Stempel der Juristischen Fakultät der Karls-Universität in Prag.

Die Beschlagnahmeaktion aus der Bibliothek der Juristischen Fakultät der Karls-Universität Prag steht im Zusammenhang mit Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes während des 2. Weltkrieges. Dieses Buch gilt daher als NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut aus den besetzten Territorien. Detaillierte Informationen der Bibliotheksverluste aus dieser Zeit sind nicht vorhanden.

Seminář práva mezinárodního na české práv. fakultě v Praze.
deutsch: Seminar zum Internationalen Recht an der Tchechischen Fakultät für Rechtswissenschaften in Prag

Bewertung: NS-Beutegut

Das zurückgegebene Buch finden Sie in der Datenbank LCA:

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/MultiSearch/Index?search=Urkunden+zur+Geschichte+des+V%C3%B6lkerrechts.

Simon Katzenstein (1868 – 1945)

Quelle: unbekannter Fotograf – Bureau des Reichstages (Hg.):
Handbuch der verfassunggebenden Nationalversammlung, Weimar 1919. Carl Heymanns Verlag, Berlin 1919.

Simon Katzenstein war ein deutscher Sozialdemokrat und Politiker (SPD). Er wurde am 1. Januar 1868 in Gießen geboren. Er war eines von fünf Kindern des jüdischen Ehepaars Sigmund Katzenstein und Sophie Löb. Eine seiner Schwestern war die Sozialpolitikerin und Frauenrechtlerin Henriette Fürth.

Der Vater besaß einen Holzhandel, der der Familie ein gutbürgerliches Dasein bescherte. Sein Elternhaus galt als offen und liberal. Bereits als junger Mann trat Simon aus der jüdischen Gemeinde aus und 1898 in die SPD ein. Er wurde in seiner Familie liebevoll als „Radikaler“ tituliert.

Katzenstein studierte nach dem Abitur in Gießen und Leipzig Geschichte und Philosophie sowie Rechts- und Staatswissenschaft. Ab 1890 war er Rechtsreferendar in Gießen, wurde jedoch vor seiner Staatsprüfung, aus politischen Gründen, entlassen. Da er bereits einige Erfahrungen als Redakteur der Frankfurter Volksstimme gesammelt hatte, arbeitete er nun als politischer Schriftsteller und Redakteur in Leipzig und Mainz. Nebenher war er Arbeitersekretär in Mannheim.

1896 wurde er aufgrund von Verstößen gegen das Pressegesetz in Sachsen zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Ab 1903 arbeitete er in Berlin als Publizist und Lehrer an Arbeiterbildungs-, Gewerkschafts- und Parteischulen. Er gab die Zeitschrift Der Abstinente Arbeiter und das Verbandsblatt des Deutschen Arbeiter-Abstinentenbundes (DAAB) heraus. Im DAAB hatte er verschiedene führende Positionen inne. Seit 1917 war er volkswirtschaftlicher Mitarbeiter des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine.

Von 1915 bis 1918 war er Stadtverordneter in Berlin-Charlottenburg, ab 1925 Bezirksverordneter. Von 1919-1920 war er Mitglied der Weimarer Nationalversammlung.

In den Jahren 1928 bis 1933 gab er die Zeitschrift des „Arbeiter-Abstinentenbundes“ heraus und war sozialpolitischer Mitarbeiter des „Vorwärts“ sowie der Zeitschriften „Deutsche Freiheit“ und „Westland“.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 ging er ins Saargebiet, das zu diesem Zeitpunkt noch unter Völkerbundsmandat stand. Nach dessen Angliederung an Deutschland 1935, floh er nach Schweden. Nach seiner Emigration war er Beisitzer im Vorstand der Gruppe Stockholm der Sozialdemokraten im Exil (Sopade). Die Nationalsozialisten bürgerten ihn 1940 aus.

Katzenstein war zweimal verheiratet. Mit seiner ersten Ehefrau Pauline (1893-1916) hatte er einen Sohn, Hans (1916-1948). Mit seiner zweiten Ehefrau Henriette (1886-1958) hatte er eine Tochter, Anna Sophie (1918-1994) und einen Sohn, Gershom Gerhard (1920-2010).

Simon Katzenstein verstarb am 28. März 1945 in Solna (Schweden).

Anfang November 2022 konnten wir zwei Bücher aus der Universitätsbibliothek (Sammlung Alfred Weiland) und der Bibliothek für Sozialwissenschaften und Osteuropastudien an die Enkelin restituieren. Sie wurden an seinen Urenkel in Berlin übergeben.

Quelle: Arbeitsstelle Provenienzforschung, Universitätsbibliothek, FU Berlin

Die restituierten Bücher in der Datenbank LCA:

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/243022

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/253721

Zwei Bücher kehren nach Lublin zurück

Am 23. September 2022 fand in der Synagoge der Lubliner Chachmej Jeschiwa (deutsch: Jüdische Jeschiwa der Weisen in Lublin) eine Zeremonie statt. Geladen hatte die Jüdische Gemeinde Lublin. Der Anlass war die Übergabe von zwei Hebraica-Bänden , die im Zuge der Provenienzforschung in der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin (FU) und der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum (CJ) identifiziert worden sind. Die beiden Bücher konnten aufgrund von in ihnen enthaltenen Spuren der ehemaligen Bibliothek der Lubliner Chachmej Jeschiwa zugeordnet werden.

Übergabe an die Jüdische Gemeinde Lublin. © Monika Tarajko

Die Gründung der Chachmej Jeschiwa in Lublin ging auf die Initiative des bekannten Rabbiners Yehuda Meir Shapiro (1887–1933) zurück. Im Jahr 1924 erfolgte die Grundsteinlegung. Neben den Lehrräumen für die Studierenden installierte die jüdische Gemeinde im Gebäude eine kleine Synagoge und eine Mikwe, ein rituelles Tauchbad. Die feierliche Eröffnung erfolgte unter reger Teilnahme im Juni 1930. Das Datum lässt bereits erkennen, dass der Lehrbetrieb nur neun Jahre umfasste, ehe mit dem Überfall der Nationalsozialisten auf Polen 1939 die noch junge Lehranstalt gewaltsam ihre Tore in der Lubartowska Straße schließen musste. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Lublin am 18. September 1939 wurde das Gebäude für militärische Zwecke beschlagnahmt. Über das Schicksal der Jeschiwa und ihres Inventars, vor allem das der Bibliothek, ist wenig bekannt.

Die Bibliothek wurde noch vor dem Aufbau der Jeschiwa mithilfe einer weltweiten Spendenaktion zusammengetragen. Bis 1930 konnte ein etwa 30.000 Bände umfassender Bibliotheksbestand aufgebaut werden. Was das Schicksal der Bibliothek nach dem Einmarsch der Wehrmacht betrifft, ist sich die Forschung bis heute uneinig. Gestützt auf einen Bericht in der offiziellen Zeitschrift der Hitlerjugend (HJ) vom Februar 1940 – und damit fünf Monate nach der Besetzung Lublins – gehen einige Forscher*innen davon aus, dass die Bücher in Form einer Bücherverbrennung öffentlich wirksam vernichtet worden sind. An dieser Darstellung gibt es jedoch mehrere Kritikpunkte: 1.) Der Bericht erschien erst im Frühjahr 1940, 2.) der Zeitungsbericht sprach davon, dass die Wehrmacht bereits am 7. September 1939 das Gebäude stürmte, und 3.) jenseits der Darstellung im besagten Artikel gab es keine offiziellen Berichte unabhängiger Medien über eine initiierte Bücherverbrennung der Jeschiwa-Bibliothek.

Neueste Erkenntnisse stützen die These, dass der Großteil der Bücher in die Lubliner Staatsbibliothek gelangte. Von da an verliert sich ihre Spur. Weltweit sind bisher nur vereinzelt Exemplare in privaten Sammlungen oder bei Auktionen aufgetaucht – und nun die beiden Bände aus der Universitätsbibliothek der Freien Universität und dem Centrum Judaicum in Berlin.

Sieben Bücher sind bisher nach Lublin zurückgekerht. © Monika Tarajko

Im Bibliotheksbestand des Instituts für Judaistik an der Freien Universität Berlin konnte im Rahmen eines Provenienzforschungsprojekts das Buch Megale Amukot (deutsch: Offenbarer der Tiefen) identifiziert werden, das auf dem Titelblatt der hebräische Stempel ישיבת חכמי לובלין (translit.: Yeshivat Ḥakhmey Lublin) ziert. Neben dem Stempel enthält der 1858 in Lemberg (heute Lwiw) publizierte Band noch weitere Provenienzmerkmale: Dazu zählt auch eine handschriftliche Eintragung „2154“. Hierbei muss es sich um die Zugangsnummer des Buches in der Bibliothek gehandelt haben.

Mithilfe des Zugangsbuches in der Campusbibliothek konnte herausgefunden werden, dass die FU das Exemplar am 4. Oktober 1966 im Londoner Antiquariat B. Hirschler erworben hatte. Weitere Hintergründe, primär über den Weg des Buches, lassen sich mithilfe der Provenienzen nicht eindeutig aufklären. Vor dem geschilderten historischen Hintergrund war das Buch als Raubgut anzusehen, das an seine heutigen Eigentümer zurückzugeben ist. Beim zweiten Band, der im Bibliotheksbestand des Centrum Judaicum identifiziert wurde, gestaltete sich die Erforschung etwas schwieriger. Lediglich ein Brief in jiddischer Sprache, dessen Briefkopf auf die Lubliner Chachmej Jeschiwa verweist, lag dem stark beschädigten Exemplar שלחן שלומו (translit.: Shulḥan Shlomo, Warschau 1882) bei.

Blick auf den Toraschrein in der Synagoge der Chachmej Jeschiwa Lublin.
© Monika Tarajko

Dank dieser Restitution befinden sich nach mehr als 80 Jahren nun sieben Bücher der Jeschiwa im (Wieder-)Besitz der Jüdischen Gemeinde Lublin. In Lublin besteht die Hoffnung, dass sich dieser Bestand noch vergrößern wird. Die Provenienzforschung von deutscher Seite hat mit der Restitution der Bücher durch die FU Berlin und dem Centrum Judaicum einen Beitrag dazu geleistet.

Bewertung: NS-Raubgut

Die restituierten Bände in der Datenbank LCA:

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/226191

https://db.lootedculturalassets.de/index.php/Detail/objects/241498

Lisa Trzaska: Ein Bibliotheksbrand und ein Raubzug durch Europa

Einblicke in die Provenienzforschung nach NS-Raubgut in der Bibliothek des Botanischen Gartens Berlin

Zusammenfassung: Während des Zweiten Weltkriegs erworbene Bestände in der Bibliothek des Botanischen Gartens Berlin werden in einem aktuellen Projekt auf NS-Raubgut untersucht. Der Artikel erläutert, wie nach dem Verlust der Biblio­thek durch einen Bombentreffer 1943 unmittelbar große Mengen botanischer Fachliteratur als Ersatz beschafft werden konnten, die teils mit Raubgut durch­setzt sind. Dabei geraten nicht nur die am Raub beteiligten staatlichen und politi­schen Institutionen in den Blick, sondern mehr und mehr auch der antiquarische Buchmarkt in der NS-Zeit.

Erschienen in: Bibliotheksdienst, Bd. 56, 9, 2022; S. 538–54

https://doi.org/10.1515/bd-2022-0084