Nederlands

Beobachtungen zur niederländischen Sprache

Das sitzt. (Teil II)

Rietveld_stoel_kleinRoutiniere Pendler und Pendlerinnen im Berufsverkehr kennen das Dilemma: Kein Platz in der U-Bahn frei, aber der Krimi ist so spannend! Die Lösung ist einfach. Man kann zur Not ein Buch auch im Stehen lesen. Auf Niederländisch eröffnet das ganz neue Möglichkeiten für Verlaufsformen. Ik zit een boek te lezen trifft in diesem Fall ganz offenbar nicht zu. Ik sta een boek te lezen dagegen schon.

Wer diesen Satz hört, wird sofort wissen, dass jemand wörtlich aufrecht steht und die Seiten umblättert. Die Aussage dieses Satzes ist ein wenig auffällig. Aber warum eigentlich?

Der Grund liegt darin, dass Verlaufsformen mit zitten eine viel weitere Bedeutung haben als Verlaufsformen mit staan oder liggen. Beispielsweise in den folgenden beiden Sätzen:

Deze twee staan te lezen. (Foto: SLQ, PD)

(1) Ik zit me behoorlijk te vervelen.

(2) Ik lig me behoorlijk te vervelen.

Satz eins könnte zum Beispiel beim Arzt im Wartezimmer sein – aber auch eine Aussage über die zweite Woche der Ferien, wenn man alle Wasserrutschen ausprobiert, alle Cocktails gekostet und alle Aerobic-Kurse mitgemacht hat. Natürlich wird man sich trotzdem nicht nur im Sitzen langweilen. Wenn der Urlaub noch eine Woche länger dauert, steht man auch ab und zu auf. Satz 2 dagegen wäre eine typische Aussage eines Patienten im Krankenhaus, der kaum vom Bett aufstehen kann. Man kann es allerdings, so versichern mir die Muttersprachlerinnen im Hause, mit den Verben nicht auf die Spitze treiben. Die Dame rechts im Bild kniet zwar, aber *zij knielt te lezen ginge zu weit. Die Verben dürfen offenbar nicht zu spezifisch sein.

Eine kleine Zusatzinformation geben sie dennoch. Man kann sich das vielleicht als eine Art Skala vorstellen. Nehmen wir an, jemand fragt Wat ben je aan het doen? (Übrigens auf Deutsch eine Verlaufsform, die im ganz puren Standard noch immer auf Widerstand trifft und als umgangssprachlich oder dialektal gilt: Ich bin am Lesen u.ä.)
Auf diese Frage könnte man Antworten:

(1) Ik ben een boek aan het lezen.
(Ich bin ein Buch am Lesen gilt als noch deutlich weniger standardsprachlich wegen des eingeschobenen Objekts)

(2) Ik zit een boek te lezen.

(3) Ik sta een boek te lezen.

Satz (1) nimmt nur die Dauerhaftigkeit auf. Satz (2) fügt das zitten hinzu, das aber sehr weit metaphorisch oder verallgemeinernd verstanden werden kann. Satz (3) schließlich gibt eine sehr spezifische Information über die Körperhaltung.

Tendenziell sind Formulierungen, die Dauerhaftigkeit mit zitten ausdrücken, verbunden mit Vorgängen, die üblicherweise im Sitzen stattfinden: Warten, Lesen, Schreiben usw. Aber es scheint hier einen gewissen Spielraum zu geben. Ein Twitterer hilft uns wieder mit dem passenden Beispiel:

Waar was je nou? Ik zit al 23 jaar op je te wachten!

Niemand wird annehmen, dass dieser bedauernswerte Mensch 23 Jahre am Stück sitzend verbracht hat. Das Sitzen ist sozusagen die unmarkierte Form des Verlaufs. Das ist recht erstaunlich, denn Ergonomen, Orthopäden und Sportwissenschaftler machen uns Büroarbeitern doch immer wieder deutlich, dass von allen Körperhaltungen das Sitzen am wenigsten der Natur des Menschen entspricht. Der Mensch ist angeblich dazu veranlagt zu gehen, zu stehen oder beim Ausruhen zu liegen. Mit dem Sitzen macht er sich die Wirbelsäule kaputt und bekommt Thrombosen. Wir haben aber in der Menschheitsgeschichte gelernt, uns hinzusetzen um gewisse Kulturtechniken auszuüben, die Ruhe und Konzentration verlangen: Mammuts häuten, Bibeln übersetzen, Websites hacken.

Eines zeigt dieses Beispiel gut: Dass Sprache nicht einfach stumpf mit menschlicher Biologie und Instinkt erklärbar ist, sondern dass sie wie das Sitzen ein seit Jahrtausenden gewachsener Prozess aus biologischen Möglichkeiten und sozialem Acquis ist.

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Der Beitrag wurde am Montag, den 27. April 2015 um 08:46 Uhr von Philipp Krämer veröffentlicht und wurde unter Allgemein, Grammatik, Sprachvergleich abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

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