Nederlands

Beobachtungen zur niederländischen Sprache

Vom Shitstorm zum „Pogrom“?

Englische Lehnwörter erregen seit vielen Jahrzehnten Aufregung, in der deutschen Sprachgemeinschaft vielleicht noch etwas mehr als in der niederländischen. Über ein russisches Lehnwort regt sich kaum jemand auf – bis jetzt. Nicht etwa, weil das Russische plötzlich unsere Sprachen mit Fremdausdrücken überfluten würde, wie es dem Englischen gerne vorgeworfen wird. Verglichen mit Anglizismen sind Russizismen bislang echte Raritäten. So rar, dass der Begriff Russizismus selbst schon ungewohnt klingt.

Ein Wort aus dem Russischen ist jedoch fest etabliert, auf Deutsch wie auf Niederländisch, nämlich das Wort Pogrom. Bislang war es in seiner Bedeutung und Verwendung klar begrenzt auf Taten von höchster Gewalt mit einer fanatischen Vernichtungsabsicht. Im Niederländischen scheint sich das nun ein wenig zu ändern:

Ton den Boon, Chefredakteur des Van Dale trägt einige neue Verwendungsweisen zusammen, und zwar in der Regel als Komposita. Belegt ist etwa das twitterpogrom oder auch das toetsenbordpogrom. Gemeint ist damit das, was bisher als Shitstorm bekannt war: Eine überwältigende Welle an Widerspruch, oft durchsetzt mit Beleidigungen oder Drohungen, die auf kontroverse Äußerungen in sozialen Medien folgt.

Den Boon beschreibt das Phänomen zunächst ganz nüchtern als Bedeutungsausdehnung des Wortes, das nun auch im übertragenen Sinne verwendet wird. Im Deutschen wäre eine solche Nüchternheit gerade bei diesem Begriff selbstverständlich nicht denkbar. Das zeigte sich vor wenigen Wochen, als der Comedian Dieter Nuhr behauptete, der Shitstorm in sozialen Medien sei die „humane Variante des Pogroms“. Damit löste er wiederum einen berechtigten Shitstorm aus, denn die Verharmlosung von Massenmord und Genozid kann in der öffentlichen Debatte in Deutschland nicht unwidersprochen stehenbleiben.

Eine Tastatur, aber ganz sicher keine Massenvernichtungswaffe. (TodayTesting, CC-BY-SA 4.0)

Interessant ist, dass der Begriff derart parallel in beiden Sprachen exakt zum gleichen Zeitpunkt in den Diskus über das Verhalten in sozialen Medien einfließt – und mit welchen Hintergründen. Es ist kein Zufall, dass Dieter Nuhr seit einiger Zeit vor allem aus dem rechten Lager viel Zustimmung erfährt für seine Ansicht, die Meinungsfreiheit sei durch so etwas wie ‚Gesinnungskontrolle‘ eingeschränkt. Er ist in Deutschland sicher einer der prominensten Vertreter derjenigen, die sich von cancel culture gegängelt fühlen. Dem rechten Diskurs die Gelegenheit zu bieten, einen mit der historischen Verantwortung derart klar verknüpften Begriff wie Pogrom für Relativierungen zugänglich zu machen, wird dankbar aufgegriffen von all jenen, die sich gegen ‚Sprechverbote‘ wehren möchten. Eines der wichtigsten Mittel dabei ist es, sich selbst als Opfer darstellen zu können – mit der Darstellung, man sei Ziel eines Pogroms, und sei es nur im übertragenen Sinne, erzielt man dabei einen besonders drastischen Effekt. Dass so zugleich auch noch ein Anglizismus ersetzt werden kann (durch ein anderes Lehnwort, was soll’s), ist dabei wohl ein willkommener Nebeneffekt.

Der Begriff toetsenbordpogrom fiel in den Niederlanden im Zusammenhang mit einem Aktivisten, der sich gegen Corona-Schutzmaßnahmen wendet und diese allumfassend als unzulässige Einschränkung seiner Freiheiten bekämpft. Die Überschneidung solcher Haltungen mit dem Milieu, das sich auch sprachlich oder moralisch in den Freiheiten beschnitten sieht, ist unübersehbar und in Deutschland ebenfalls bekannt.

In den Niederlanden scheint man sich an der verharmlosenden Begriffsverwendung an sich bisher nicht allzu sehr zu stören. Der historische Kontext ist ganz bestimmt ein wichtiger Unterschied – schließlich ging weder von den Niederlanden noch von Flandern das grausamste Pogrom der Menschheitsgeschichte aus. Möglicherweise ist die auffällige Entspanntheit gegenüber dieser Verwendungsweise von pogrom aber auch der Tatsache geschuldet, dass in den Niederlanden der Gewöhnungseffekt an rechte Diskurse schon weiter fortgeschritten ist als in Deutschland.

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Der Beitrag wurde am Montag, den 5. Oktober 2020 um 15:50 Uhr von Philipp Krämer veröffentlicht und wurde unter Niederlande, Sprachvergleich, Wortschatz abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

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