Die Platte in Weißensee-Nord – damals, heute und morgen

Der zwischen dem Weißen See, dem Orankesee und dem Naturschutzgebiet Fauler See gelegene Bezirk Weißensee-Nord hat eine sehr idyllische Umgebung zu bieten. Die fast schon kleinstädtische Ruhe ist dank zahlreicher Straßenbahnlinien gerade einmal 15 Minuten vom Berliner Stadtzentrum entfernt und sorgt damit für stetigen Zuzug sowie regelmäßig entstehende neue Wohnanlageprojekte.  Bei einem Spaziergang durch den Bezirk (seit 1920 Teil Groß-Berlins) fallen vor allem die vielen unterschiedlichen architektonischen Baustile der Wohnhäuser auf, die die verschiedenen Besiedlungswellen im Laufe des 20. Jahrhunderts bezeugen.  

Abbildung 1: Weißensee-Nord, mit der Wohnsiedlung in der Hansastr. im Vordergrund – Luftaufnahme vom Ufer des Orankesees. Quelle: Clémence de Lacour

Als erstes bedeutendes Großprojekt in Weißensee-Nord galten die heute verkehrsreiche Buschallee und ihre viergeschossigen Häuserzeilen, die sich beidseitig auf der Länge von rund einem Kilometer hinziehen. Die für die Berliner Arbeiterfamilien errichteten Wohnzeilen der Buschallee wurden ab 1918 nach Plänen der namhaften Architekten Bruno Taut und Franz Hoffmann errichtet und gelten als bekanntestes Beispiel der umfangreichen Wohnprojekte, die in den 1920er Jahren in Berlin Weißensee, infolge der Ansiedlung zahlreicher Industriebetriebe im Norden Berlins zu Beginn des 20. Jahrhunderts, realisiert wurden. Die Taut-Siedlung der Buschallee steht heute unter Denkmalschutz. Die ursprüngliche Farbgebung der Fassaden (beige, dunkelrot und grün), die während der DDR-Zeit verändert wurde, hat heute ihre ursprüngliche Form wiedererlangt.

Zu DDR-Zeiten wurden infolge der Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg und im Rahmen des Wohnungsbauprogramms von 1973 auch in Weißensee-Nord zahlreiche Neubauwohnkomplexe errichtet, und zwar im schnell umzusetzenden Plattenbaustil. Die unterschiedlichen Wohnbauserien (GP, Q3A, WBS 70), die in dem Bezirk zu beobachten sind, spiegeln die verschiedenen Epochen wider, in denen die Plattenbausiedlungen errichtet wurden. Der für die damalige Zeit moderne Komfort (fließendes Wasser, Zentralheizung, ein Bad mit Toilette und Badewanne) garantierte die Beliebtheit der neuen Wohnungen. Das Vorhandensein von Schulen (wie etwa die Georg-Zacharias-Grundschule), Kinderkrippen – die häufig auch in Plattenbauweise errichtet wurden – und zahlreichen Spielplätzen sowie Kleingartenanlagen sorgte zusätzlich (bis heute) für die hohe Attraktivität Weißensee-Nords für junge Familien. 

Seit der Wiedervereinigung wurden auf den letzten freien Bauflächen moderne Gebäude errichtet, wodurch die architektonische Vielfalt des Bezirks weiter gesteigert wurde. Die kontinuierliche Beliebtheit Weißensee-Nords und die damit verbundenen steigenden Mietpreise zwangen die Bezirksbehörden Lösungen zu finden, um trotz des Platzmangels neue Wohneinheiten zu schaffen. Im Falle der Wohnsiedlung in der Hansastr. (52 – 108 F und 112 – 138), am Ufer des Orankesees, scheint dies gelungen zu sein. Die grau-braunen achtgeschossigen Wohngebäude wurden im Jahr 1988-1989 im WBS 70 Typ – der ab 1970 zum am weitesten verbreiteten Plattenbausystem der DDR wurde – errichtet. Es ist eine Plattenbausiedlung, genau wie man es sich vorstellt. Ein typisches Beispiel einer vergangenen Zeit.

Abbildung 2: Wohnsiedlung Hansastraße; Quelle: Clémence de Lacour

Jedoch wird es nicht mehr lange eine „typische Platte“ bleiben. Ab 2022 werden 90 neue Wohneinheiten dort errichtet werden. Die Mehrheit davon soll an die schon existierenden Wohnblöcke angeschlossen werden. Laut Bekanntmachung der beauftragten Firma ist eine harmonische Anpassung der Fassaden vorgesehen. Selbst für den Fall, dass diese Harmonisierung nicht ganz gelingen sollte, würde das bei der architektonischen Vielfalt des Bezirks ohnehin nicht weiter auffallen.

Ausgehend von meinen Weißenseer Impressionen, stelle ich mir die Frage: Bietet die Platte auch Lösungen für die Zukunft? Wie viel Zukunft steckt in der Platte? Die Platte und Plattenbausiedlungen generell werden oft – zu Unrecht – als eine geschlossene Einheit wahrgenommen, wo außer Sanierung oder Abriss nichts vorstellbar ist.

In der Tat zeichnet sich das Fertigteilsystem der Platte nicht nur durch eine schnelle Bauweise aus, sondern bietet darüber hinaus unendliche Umwandlungsmöglichkeiten und Aufwertungsstrategien an. Deshalb heißt es auf dem Plattenbaukulturportal „jeder-qm-du.de“, dass kein Gebäudetyp so flexibel sei wie die Platte.  Dank der soliden Grundsubstanz der Platte und der nicht tragenden Wänden, lassen sich die Grundrisse der Platte individuell gestalten. Dementsprechend kann der Innenraum relativ einfach eine vollkommen andere Gestalt bekommen.

Als eines der inspirierenden Beispiele gilt die Botschaft Belgiens in Berlin. Nach der politischen Wende 1989, zog die Botschaft auf dem Grundstück ein, auf dem seit 1966 ein fünfgeschossiger Plattenbau steht. Anstatt den Plattenbau abzureißen, wurde das Potenzial des Gebäudes genutzt. Ab 1999 gestaltete das zuständige Architekturbüro (Rüthnick Architekten Ingenieure) das Haus völlig um. Die Innenraumgestaltung wurde an die Erfordernisse der Botschaft angepasst. Vor allem das lichtdurchflutete Foyer, welches sich über zwei Stockwerke erstreckt steht für den Erfolg des Projekts.

Aber lässt sich die Platte auch äußerlich umwandeln? Früher noch als non plus ultra des Neubaus betrachtet, leidet die Platte heute leider unter ihrem pejorativen Klischee, vor allem unter ihrer grauen Eintönigkeit. Dabei zeigen innovative Ideen, dass nicht nur das Bestreichen der Fassade mit „fröhlichen“ Farben, sondern vor allem das Renovieren mit hochwertigem Material, wie etwa mit Fassadenpanelen aus Holz, der Platte ein ganz neues Antlitz verleiht und ihre Attraktivität deutlich steigert.  

(Ost-)deutschlandweit gibt es mehrere Projekte, die das hier kurz beschriebene Potenzial der Platte erfolgreich und kreativ ausgenutzt haben. Leider erblicken nicht alle Umbauprojekte das Licht der Welt. 2007 wurde in Leipzig, trotz eines ambitionierten Projektes mit attraktiven Einzelhandelsflächen und Sozialbauwohnungen nebeneinander, das Wohnensemble am Brühl schließlich doch abgerissen.  Dennoch gilt, dass wegen der vielen sozialen und umweltfreundlichen Ansätze, das Potenzial der Platte immer häufiger gesehen wird.   

In diesem Sinne gilt es zu hoffen, dass das Umgestaltungsprojekt des Wohnviertels in der Hansastraße nicht das letzte derartige Vorhaben in Weißensee-Nord bleibt.    

Clémence de Lacour