Fortschritt. Plattenbau in der Potsamder Innenstadt

Potsdam – Der royale Glanz der Prachtbauten und Lustgärten einer barocken Sommerresidenzstadt. Philosophenkönig – Soldatenkönig. Preußen und Militär. Hohenzollern, Hindenburg, die „alten Eliten“. Abgelöst von neuen Eliten, neuen Kriegstreibern, 1933, in Potsdam.

Symbolisch. Der Bombennacht hielten sie trotzdem nicht stand. Stadtschloss, Garnisonkirche: Trümmer. Der royale Glanz dahin. Das Symbol nun ein Symbol der Niederlage, militärisch und moralisch. Und jetzt?

Der Wiederaufbau Potsdams nach Kriegsende 1945 geschieht unter völlig veränderten Vorzeichen: Sozialismus, Fortschritt, Wohnungsbau. Die Spuren des Nationalsozialismus werden abgetragen. Die Spuren Preußens waren nicht so einfach zu entfernen, in einer Stadt, die ein Freilichtmuseum des royalen Preußen und seiner Werte war. Man bemühte sich trotzdem. Mit Preußen hatten die Sozialist:innen sowieso noch alte Rechnungen offen. Am „Wegbereiter des Faschismus“ wurde mit der Sprengung der verkohlten Ruine der Garnisonkirche späte Rache geübt. Auch das Stadtschloss musste dran glauben. Wieder: symbolisch. Auf den Trümmern sollte ein neues, ein sozialistisches Potsdam entstehen, auferstehen aus …. Ruinen, in diesem Fall den Ruinen Preußens, den Ruinen, die die Verbrüderung alter und neuer Eliten zu einem mörderischen Krieg hinterlassen hatte.

Aufgebaut wurde: Der neue, sozialistische Mensch. Die neue, sozialistische, von der Sowjetunion lernende Gesellschaft. Die neue, sozialistische, fortschrittliche Heimat. Heimat und Fortschritt – passt das zusammen? Ja, wenn Heimat kein kleinbürgerlicher Sehnsuchtsort ist, sondern Lebensraum, Stadt, Wohnung, Kita und Kaufhalle. Gestaltet von den Werktätigen, für die Werktätigen. Fortschritt. Bau auf! 

Ein paar Einschränkungen gab es freilich. Finanzielle natürlich, aber auch was Baustoffe anging. Und die Gestaltung. Verzierte Fassaden sind kostspielig, zeitaufwändig und materialintensiv – Engstirnig! Selbstherrlich. Total 30er-Jahre. Das muss alles besser, schneller und billiger gehen! Wissenschaft – Technik – Revolution! Und natürlich auch gern nach Vorbild der Sowjetunion. Ideologische Einschränkungen gab es also auch. Nur bei der Steigerung der Effizienz, da gab es keine. 

Zurück in Potsdam. Der Wiederaufbau der historischen Straßen geht schleppend, ist teuer und mühsam, Stein auf Stein. Wohnraum ist immer noch knapp. Vereinzelt bauen Werktätige für Werktätige, in Genossenschaften, nach Feierabend. Bauen ihre Wohnungen selbst. Nennen sich AWG „Fortschritt“, natürlich. Zentrum Süd. Waldstadt I. Was bauen sie? Platten. Warum? Weil sie es können.

Das war schon fortschrittlich, aber immer noch zu wenig. Also Industrialisieren. Typisieren. WBS70. Bauherren und -damen sind große Kombinate und VEBs, die „Fortschritt“ und Co verwalten nur noch das Endprodukt. Potsdam ist jedoch ein Sonderfall. Hier geht es nicht nur um Wohnraum, der dringend gebraucht wird. Hier geht es auch immer noch darum Preußen zu überschreiben. Darum, aus Alt- und Neubauten ein neues Gesamtbild zu schaffen. Es geht um Politik, Symbole, „sozialistische Baukultur“.

Ab den späten 1960er-Jahren entsteht die Plattenbausiedlung Auf dem Kiewitt. Sie ist eines der ersten industriellen Großbauprojekte in Potsdam. Platten in Luxuslage: Idyllisch Wohnen zwischen Havelufer und Schlosspark. Blick aufs Wasser nach Osten, Blick über Sanssouci nach Westen. Innenstadt in Laufnähe. Wohntraum für 3.000 Menschen. 1977 folgt die Anerkennung: Architekturpreis der DDR.

Abbildung 1: Postkarte Auf dem Kiewitt, 1977; Quelle: DDR-Postkartenmuseum (J. Hartwig)

Das nächste Bauvorhaben ist komplexer. 17- und 16-Geschosser in der Neustädter Havelbucht. Der Bau in den 1970er-Jahre eingebettet in ein städtebauliches Prestigeprojekt: Die Umgestaltung der Wilhelm-Külz-Straße, Breite Straße, Allee aus kurfürstlichen Zeiten. Hier kommt alles das zusammen, was Potsdam einmal war und was Potsdam zukünftig sein soll. Der Ausbau zur Hauptverkehrsader, mehrspurig. Anstelle des Stadtschlosses ein Parkplatz.

Fritz‘ Aufmarschplatz für seine „langen Kerls“, der Lustgarten – nun Ernst-Thälmann-Stadion und Karl-Liebknecht-Forum. Dazu ein neues Wahrzeichen: das Interhotel Potsdam, eine „städtebauliche Dominante“. Sichtachse auf sozialistisch. Ein paar historische Fassaden werden restauriert, Lücken mit Neubauten geschlossen. Wohnheime für Studierende gebaut. Ein Studentenclub. Der FDGB im Großen Militärwaisenhaus. Ein Datenverarbeitungszentrum anstelle der Garnisonkirche. 1975 steht fest: Die Wilhelm-Külz-Straße wird eine, nein, die „sozialistische Magistrale“. Der krönende Abschluss: Die Wohnsiedlung in der Havelbucht. 

Abbildung 2: Blick auf das Neubaugebiet Neustädter Havelbucht und die Wilhelm-Külz-Straße, 1983; Foto: Horst Sturm; Quelle: Bundesarchiv.

Rechts und links die Hochhäuser wie ein Tor. Dahinter: Lebensraum, sozialistische Heimat. Dort, wo einmal Wasser war. Das neue Wohnen – auf Sand gebaut. Die Wohnscheiben zeichnen das alte Ufer nach. Vor Anker: 1.500 Wohnungen. Markthalle, Cafés, Schulen, Kitas. Sportbootliegeplätze. Eine Platte mit Bootsanleger? Fortschritt. Mittendrin, aus alter Zeit, eine angeschwemmte Flaschenpost: Das Wasserwerk für Sanssouci. Ludwig Persius‘ verkitschte Orientvorstellung, in Stein gemeißelt. Ein Schornstein wie ein Minarett. Ein Gotteshaus als technisches Denkmal. Das ist okay, das bleibt, das wird restauriert. „Sozialistische Baukultur“ – das bedeutet Brüche auszuhalten. Persius und Platte. Dazwischen schwimmt ein Kompromiss: Die Seerose. HO Gaststätte in Schalenbauweise – ein wenig architektonischer Individualismus, aber immerhin aus Beton. Ulrich Müther baut avantgardistisch, organisch. Ein Sonderfall. Das I-Tüpfelchen. 1983. 

Abbildungen 3 +4: Postkarte HO Gaststätte Seerose; Wasserwerk (Moschee),1987
Quellen: DDR-Postkartenmuseum (J. Hartwig)

Man ist stolz auf dieses neue Viertel. Das Internat für die Pädagogische Hochschule. Die Wohnungen für die DEFA-Mitarbeiter:innen, Deutsche Post, Lokomotivbau „Karl Marx“. Querschnitt der Gesellschaft? Oder doch eher Symbol? Allemal: Touristische Attraktion! Die Verbindung von Alt und Neu, der Kontrast wird zum Erlebnis. Und zur Vermarktungsstrategie. Auf Postkarten lockt die Platte. Nach Potsdam – in einen städtebaulichen Hybrid aus Preußentum und Sozialismus. 

Abbildung 5: Plattenbauten in Potsdam; Quelle: DDR Postkartenmuseum (J. Hartwig)

Josephine Eckert

Quellenverzeichnis:

Christian Klusemann (Hg.): Das andere Potsdam. DDR-Architekturführer, Berlin 2016.

Landeshauptstadt Potsdam: Potsdamer Platte … im grünen Bereich. Zur Entstehungsgeschichte, Weiterentwicklung und den Perspektiven der Potsdamer Wohngebiete der 60er bis 80er Jahre, Potsdam 2008, URL: https://www.stadtkontor.de/wp-content/uploads/2013/04/PotsdamerPlatte.pdf

Potsdam Museum: Von der kurfürstlichen Landschaftsallee zur sozialistischen Magistrale – die Wilhelm-KülzStraße, Heft 29, Potsdam 1988.

PWG 1956: 60 Jahre Potsdamer Wohnungsgenossenschaft 1956 eG, Potsdam 2016, URL: https://www.pwg1956.de/images/stories/pdf/abriss_60jahre.pdf .

Waltraud Volk: Potsdam historische Straßen und Plätze heute, Berlin 1988.

Website der Wohnungsgenossenschaft „Karl Marx“, Chronik, URL: https://wgkarlmarx.de/ueber-uns/geschichte .