Individualismus und Demokratie

Wir werden am Freitag über Alexis de Tocqueville Vorstellungen von der Rolle der Religion in der Demokratie sprechen. Dazu lohnt es sich, etwas zu seinem Hintergrund zu wissen. Da der Text sowohl kurz als auch ausgesprochen gut zu lesen ist, empfehle ich euch heute einmal ein Video einer Vorlesung, die im Rahmen der Open Yale Courses zu Tocqueville gehalten wurde. Der Vortragende ist Steven B. Smith, Professor in Yale in ausgewiesener Kenner der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts.

 

Literaturempfehlung

Michael Hereth 2001: Tocqueville zur Einführung. Hamburg: Junius.

Argula von Grumbach – Frau im politischen Diskurs

Leider war die heutige Sitzung nicht sehr gut besucht, was vermutlich auch daran liegt, dass viele von euch den Text schwierig fanden. Es ist allerdings ausgesprochen schade, denn an diesem Text kann man besonders gut erkennen, wie die von Luther formulierten Gedanken eine solche Sprengkraft enwickeln konnten.

Argula von Grumbachs Brief an die Universität Ingolstadt beginnt mit einem Aufruf an alle gläubigen Christen udn alle verblendeten Pharisäer, sich aufzuraffen und aufzustehen „in diesen letzten Tagen“ (63). Jetzt käme es wirklich darauf an, sich das Seelenheil zu sichern. Eine solche Weltuntergangsvorstellung war damals weit verbreitet. Die grosse Instabilität und die schiere Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Veränderungen, bei denen oft nicht erkennbar war, wie sie positivgewendet werden sollten, liessen den Eindruck entstehen, dass die Welt wie sie war, nicht weiter bestehen könnte (was ja in gewisser Weise auch geschehen ist). Auch Luthers Obrigkeitsverständnis ist in dem Glauben entwickelt worden, dass die Frage, welcher weltlichen Obrigkeit zu gehorchen wäre nur kurzfristig, nicht aber langfristig geklärt werden müsste.

Es folgt eine Rechtfertigung ihres Briefes – also der Einmischung einer Frau in die universitären Angelegenheiten. Und schon hier zeigt sich erstmals die grundlegende Argumentation von Grumbachs. Durch den auf Arsacius ausgeübten Zwang zum Widerruf, hätten die Offiziellen der Universität – deren legitime Einflussbereich sich auf das weltliche bezieht – sich in geistliche Angelegenheiten eingemischt. Was einer glaubt, lässt sich nicht verordnen und Gott allein sieht, ob es der wahre Glaube ist. Wo Luther grosse Zweifel hatte, ob sich je wirklich einschätzen liesse, wann die Grenze zu legitimem Widerstand ereicht ist, sagt Argula von Grumbach klar, dass eine solche Grenzüberschreitung nicht unwidersprochen stehen bleiben könnte.

Public Domain, Wikimedia Commons

Public Domain, Wikimedia Commons

Im ganzen Text betont von Grumbach immer wieder die Bedeutung des Wortes und zeigt deutlich, dass sie die übersetzte Bibel gründlich gelesen hat. Es gehörte in der damaligen Zeit zum Diskurs, die Übereinstimmung einer Argumentation mit der Bibel darzulegen und von Grumbach bedients ich dieser Rhetorik – und wendet sie gegen die Gelehrten. Sie verweist auf die klassische Textstelle bei Paulus, die besagt, die Frau solle in der Gemeinde schweigen. Ihr entgegen stellt sie zahlreiche andere Stellen, an denen die Bibel auf die Offenbarung des Wortes gegenüber all jenen verweist, die nicht traditionell zu den Starken zählen – Frauen, Kinder, Alte [67]. Im Zusammenhang mit der auch von Luther vertretenen Vorstellung, dass jeder Gläubige das Wort auslegen müsse, kommt sie dann zu dem Schluss, dass sie als Frau sehr wohl in der Lage und berechtigt sei, sich eine Meinung dazu zu bilden, ob die Universität hier ihre Kompetenz überschritten habe.

Von Grumbach nimmt sich jedoch im Verlauf des Textes auch immer wieder zurück und betont ihre Role als Frau, die sich nur aus der Not gezwungen sieht, in die Debatte einzugreifen – da kein Mann zugunsten Arsacius eingegriffen hätte. Aus feministischer Sicht ist das sicher keine starke Position. Interessant an dem Text ist jedoch, wie sich aus der theologischen Grundidee Luthers eine neue Sicht auf die Möglichkeit zur Beteiligung an der politischen Auseinandersetzung ableiten lässt. Es ist genau diese Auseinandersetzung darüber, wer am politischen Diskurs teilnehmen darf, der zahlreiche Konflikte bis in die modernen Bürgerbewegungen prägt. Arsacius übrigens hat den Widerruf nicht widerrufen (dürfen) und auch selbst nicht maßgeblich zu den Auseinandersetzungen der Reformation beigetragen. Die vielgelesene Flugschrift Argula von Grumbachs blieb also für den konkreten Fall ohne Wirkung.

 

Webresource

Zu Frauen und Reformation ist anlässlich des Reformationsjubiläums eine Webplattform eingerichtet, die durchaus einen ersten Einstieg ermöglicht (andere, kritische Quellen sind ergänzend zu suchen). Dort finden sich zu verschiedenen Frauen der Reformation auch weitergehende Lesehinweise.

NACHTRAG

Hier noch die Notizen der Diskussion – eine gute Zusammenfassung wesentlicher Punkte.

Argula_von_Grumbach - notizen

 

Argula und Arsacius

Auch wenn wir in den vergangenen Sitzungen Luther kritisch hinterfragt haben, bleibt doch richtig, dass in seinen Argumenten eine grosse Sprengkraft für die mittelalterliche Ordnung lag. Am deutlichsten wird dies vielleicht in seiner Schrift „Von der Freiheit des Christenmenschen…“ auch wenn Luther diese gerade nicht als aufrührerisch verstanden wissen wollte. In dieser Schrift legt Luther dar, dass die Seele und der Leib, also dass Innere und das Äußere des Menschen nicht durch die gleichen Dinge zum Wohle kommen. Soviele gute Taten einer auch äußerlich tut, bleibt er für sein Sellenheil dennoch auf die Gnade Gottes angewiesen. Luther meint es genau so theologisch und keienswegs politisch. Aber die Implikationen sind weitgehend.

So folgt daraus, dass das Befolgen der weltlichen Ordnung zwar geboten ist, aber nicht das Seelenheil ermöglicht. Dieses erhalten nur wahre Christen, deren Pflicht es ist, unabhängig von äußeren Gegebenheiten das Christliche zu tun. So stellt es Luther auch im Hinblick auf das Widerstandsrecht dar – und kommt dort zu dem Schluss, dass es kaum je eine Situation geben könnte, in der das Christliche eindeutig gegen die weltliche Ordnung geht. An diesem schwächsten Glied der Argumentation setzen viele seiner zeitgenössischen Kritiker an und schlussfolgern gerade, dass es manchmal, zum Beispiel in ihrer historischen Situation, doch geboten sei, sich gegen die bestehende Ordnung zu stellen. Wenn jeder Christ in der Lage ist, die Schrift zu interpretieren und unmittelbar nur Gott gehorcht, dann sollte sein Urteil auch etwas bedeuten. Christsein kann dann auch bedeuten für seinen Glauben und gegen die Obrigkeit aufzustehen. So wird was Luther als theologisches Argument für die Wahrung der (weltlichen) Ordnung formuliert hat, zum Kern eines neuen Denkens über politische Ordnung und individuelle Verantwortung.

 

Titelblatt der Flugschrift

Titelblatt der Flugschrift

In diesem Sinne ist auch Argula von Grumbachs etwa zweijährige Karriere als Publizistin zu verstehen. Zwischen 1523 und 1524 meldet sich die bayrische Adlige in verschiedenen Flugschriften zu Wort, die die beachtliche Auflage von 30000 Exemplaren erreichten. Sie setzte sich – vordergründig – für die Möglichkeit ein, die Schriften von Luther, Melanchthon und anderen Reformatoren zu lesen und zu verbreiten. Aber allein schon die Tatsache, dass sie als Frau sich in eine bereits so aufgeheizte Debatte einmischte, ist bemerkenswert. Die wohl bekannteste Schrift (von der leider keine modernisierte Fassung zu bekommen ist) trägt den Titel „Wie ein christliche Frau des Adels…“ und ist eigentlich ein Brief an die Theologische Fakultät der Universität Ingolstadt. Ein junger Magister mit dem Namen Arsacius Seehofer hatte unter den Kommilitonen für die Lehren Luthers geworden und war daraufhin unter Androhung von Gewalt von der Fakultät zum Widerruf gezwungen worden. Gegen diese Entscheidung wendet sich Argula von Grumbach und addressiert zunächst nur die Fakultät direkt, sendet den Brief jedoch – nachdem sie keine Antwort erhielt, alsbald auch an verschiedene Regenten in und um Ingolstadt. Erst dadurch erfährt ihre Flugschrift eine solche Prominenz, dass sie mehrfach nachgedruckt und vielfach gelesen wurde.

Argula von Grumbach brach mit diesem Vorgehen gleich mehrere Tabus und ging ein hohes Risiko ein. Wir wollen uns in der kommenden Sitzung mit verschiedenen Fragen beschäftigen, u.a.:

  • Wie nutzte Argula von Grumbach Luther’s Argumente für sich – wo doch Luther gegen Aufruhr war?
  • Welche Schlussfolgerungen zieht Argula von Grumbach, die es ihr erlauben sich als Frau zu Wort zu melden?
  • Zeigt sich hier emanzipatorisches Potential der Reformation?

Um diese Fragen zu diskutieren ist ein genaues Textverständnis wichtig, wir werden also sehr dicht am Text bleiben.  Fragen und Wünsche für die Diskussion gern auch schon vorab hier im Blog.

Literaturempfehlung

Peter Matheson 1996: Breaking the Silence: Women, Censorship, and the Reformation. In: The Sixteenth Century Journal 27:1, 97-109.

Beginn der Sitzung am 25.11. um 9:00!

Dafür sind wir um 10:30 schon fertig!

Die Sitzung am 18.11.2016…

fällt aus und wird am 9.12. von 8-12 nachgeholt.

Wider die Tyrannen?

Wir haben den heutigen Text anhand von vier Fragen diskutiert:

luther 11-11 2luther 11-11 3luther11-11 1

luther 11-11 5

Die Lehre vom Gerechten Krieg

Die Frage, ob ein Krieg gerecht sein kann und, wenn ja, unter welchen Umständen beschäftigt die politische Philosophie seit ihren Anfängen. Auch Luther’s Text reiht sich in diese Literatur ein – und bleibt von seiner ganz eigenen Sichtweise auf die Obrigkeit geprägt. Jede beschäftigt mit der Frage nach einem Gerechten Krieg ist getrieben von der deutlichen Spannung zwischen dem, was weitgehend unumstritten ist, erstrebenswerten Zustand des Friedens und dem wiederholten Auftreten von Kriegen, die als notwendig oder gar gerecht empfunden werden – wie kann etwas gerecht sein, dass moralisch so fragwrdig ist? Es lohnt sich, die Grundlinien der Debatte zum Gerechten Krieg kurz einzuführen.

Magdeburg nach dem 2. Weltkrieg. In der im Hintergrund zu sehenden Johanniskirche hat einst Martin Luther gepredigt. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-26248-0001 / CC-BY-SA 3.0

Magdeburg nach dem 2. Weltkrieg. In der im Hintergrund zu sehenden Johanniskirche hat einst Martin Luther gepredigt. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-26248-0001 / CC-BY-SA 3.0

Es handelt sich um eine rechtsphilosophische Tradition die in der Antike mit Cicero einen ersten Verfechter fand und schliesslich im Mittelalter und der frühen Neuzeit durch Grotius und Vitoria in christlicher Tradition und für eine neue weltpolitische Konstellation neu gedacht wurde. Die Religionskriege der frühen Neuzeit passten sich nur schwer in die vorgegebenen Bedingungen ein, so dass die Gerechtigkeit eines Krieges durchaus als etwas gesehen wurde, was im Auge des Betrachters liegt. Doch die Idee wurde nie ganz verworfen. Im zwanzigstens Jahrhundert ergaben sich auch dazu ganz neue Fragen – und namhafte Philosophen wie Michael Walzer haben dazu Stellung bezogen. Einen regelrechten Schub an Literatur gab es in den letzten 15 Jahren. Will man die Debatte inhaltlich gliedern, so lassen sich drei grosse Themen ausmachen, die wiederkehrend diskutiert werden.

Ius ad bellum

Die erste und bei weitem am meisten diskutierte Frage ist die nach dem Recht zum Kriege. Wann darf Krieg geführt werden. Dabei kommen zwei Kriterien immer wieder vor. Erstens, es bedarf eines gerechten Grundes. Notwehr oder die Verteidigung gelten immer als angemessene Gründe. Scvhwieriger ist bei Präventivschlägen, die man ja auch als Vorab-Verteidigung verstehen könnte, die aber meist als Angrifsskriege gewertet werden. Warum? Weil es unmöglich ist, sicher zu sein, dass der Gegner überhaupt angreifen würde udn man die Pflicht hat zu warten, bis man sicher ist, ob tatsächlich ein legitimer Kriegsgrund vorliegt. Das zweite immer wiederkehrende Kriterium hat viel mit der modernen Staatlichkeit zu tun: Krieg darf nur führen wer der rechtmässige Herrscher ist. So unterscheidet Grotius Staaten von Räuberbanden. So verhält es sich noch heute, wenn zwischen Krieg und Bürgerkrieg unterschieden wird. (Was ist das in Syrien eigentlich…). Schwierig ist auch die Frage, wenn Interventionen gerechtfertigt sein können. Fest steht, dass ein gerechter Krieg einen gerechten Grund braucht und von legitimierten Instanzen geführt werden muss.

Ius in bello

Gerechter Krieg soll keine Willkür sein, also muss er auch Regeln folgen. Die beziehen sich zum Beispiel auf den Umgang mit der Zivilbevölkerung, den Soldaten und den Ressourcen des Gegners. Vermidenn werden soll habgier, Grausamkeit und alles, was ein Führen des Krieges über das erforderliche Maß hinaus bedeutet. zentral ist hier die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Soldaten. (Was ist eigentlich ein enemy combatant?) Wichtig ist auch, dass der Krieg so geführt werden muss, dass er  den Kriegsgrund berücksichtigt. Wenn der Gegner beispielsweise soweit zerstört ist, dass ein neuer Angriff nicht zu befürchten ist, lassen sich Plünderungen und Besetzungen nicht mehr rechtfertigen. Allerdings ist die Frage, wann dieser Punkt erreicht ist, Einschätzungsache…

Ius post bellum

Das ist der neueste Teil der Debatte und er beschäftigt sich mit der Frage, wie nach dem Ende eines Kriegs zu verfahren sein soll. Sehr lange ist das noch nicht Thema, aber ein Blick nach Afghanistan zeigt, warum das wichtig sein könnte.

In Luthers Ausführungen finden sich einige Elemente dieser Debatte wieder. Welche sind das? Warum ist das interesant? Und welche fehlen? Ich freue mich auf Antworten in den Kommentaren.

Von weltlicher Obrigkeit

161104 Tafelbild

In der Sitzung am vergangenen Freitag haben wir uns ausführlich mit Luthers Argumentation in seinem Text „Von weltlicher Obrigkeit und wieweit man ihr gehorsam schuldig sei“ befasst. Der Text is sicherlich nicht ganz einfach – die darin aufgemachte Argumentation ist jedoch grundlegend und wir werden im Laufe des Seminars immer wieder darauf zurückkommen. Insofern ist es schade, dass nur so wenige dabei sein konnten. Für alle, die nicht da waren, die dringende Empfehlung, den Text zu lesen, soweit das nicht schon geschehen ist. Einen Teil unserer Diskussion habe ich versucht an der Tafel zusammenzufassen – möglichweise hilft das auch denen, die nicht dabei waren.

Wir werden die Diskussion zu Luther in der kommenden Woche mit einem weiteren Text fortsetzen. „Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können“ fragt nach den Bedingungen, unter denen Kriegshandlungen für Christenmenschen zu rechtfertigen sind – und damit mittelbar auch nach der Gehorsamspflicht. Ich denke, es wird eine spannende Diskussion!

Zum Schluss noch einmal die Erinnerung an drei wichtige Dinge:

  • Die Anmeldung für die Postersessions ist noch offen – bitte tragt euch ein! Nur wer eingetragen ist, kann auch ein Poster machen.
  • Die Nachholsitzungen werden NICHT von 12-14 stattfinden sondern von 8:30-10:00, um die Überschneidung mit der VL zu vermeiden. Ich habe den Seminarplan entsprechend geändert.
  • Ich habe außerdem die zu lesenden Text im Block „Glaube und Staat“ geändert – ich denke, die nun vorgesehenen Texte sind etwas zugänglicher. Dafür entfällt das Thema Glaubensfreiheit (ist nur noch als Poster verfügbar) zugunsten einer intensiveren Beschäftigung mit der Frage nach der Zivilreligion.

In vergangenen Semestern habe ich häufig auch mit einem Wiki gearbeitet. Dort haben Studierende im Laufe der Zeit einen recht guten Artikel zu Luther als politischem Denker erstellt, den ich gern als heutigen Literaturtipp mitgebe: Theoriewiki:Luther. [Vorsicht: Das Wiki ist leider ziemlich zugespammt, was allerdings auf den Inhalt der Luther-Seite keinen Einfluss hat.]

Den vorbereitenden Beitrag zur kommenden Sitzung gibt es am Mittwoch.

 

 

Zur Radikalität Martin Luthers

Manchmal scheint es, als sei Martin Luther der Inbegriff der Reformation. Das stimmt historisch sicherlich nicht, gab es doch viel andere, noch würde Luther sich selbst so sehen. Als 1517 mit einem Brief und 95 Thesen gegen den Ablasshandel bei Bischöfen und Theologenkollegen für Aufruhr sorgte, hatte er mitnichten im Sinn, die Kirche, das Papsttum oder gar die bestehende Ordnung in Frage zu stellen. Ihn als „Wutbürger“ zu bezeichnen, stellt ihn in eine Tradition, mit der er wohl eher nichts zu tun haben wollen würde. Trotzdem beeinflusste er das europäische Denken und auch die europäische Geschichte mit seinen Ideen wie kaum ein anderer.

Titel des Spiegel 44/2016

Titel des Spiegel 44/2016

Sein zentrales Anliegen ist ein Theologisches – das Verhältnis des Menschen zu Gott. Das ist es auch, was ihn am Ablasshandel so stört. Für ihn wird hier eine künstliche Barriere zwischen Gott und den Menschen errichtet, indem die Vergebung Gottes als nur durch die Institution der Kirche mediiert konstruiert wird. Martin Luther sieht das anders. Vergebung ist eine Gnade, die von Gott kommt und nicht durch die Zugehörigkeit zu Institutionen, den Gehorsam gegenüber geistlichen Autoritäten oder den Kauf eines Ablasses erreicht werden kann. Nun könnte man vordergründig darauf verweisen, dass die Motivation für den Ablasshandel wohl weniger Motivation für den Ablasshandel war, als Einkommen für die Kirche zu generieren.

Aber das ist genau das bemerkenswerte an Ideen – dass sie manchmal Wirkung über die unmittelbare Debatte zu der sie gehören hinaus entfalten. Wenn ihre Zeit gekommen ist. Und das 16. Jahrhundert war eine solche Zeit, voller  radikaler Umbrüche und neuer Ideen. Luthers oben beschriebene Grundidee birgt mindestens 3 sprengkräftige politische Implikationen.

  • Wenn jeder Mensch eine individuelle Beziehung zu Gott hat, dann ist das Individuum und nicht die Familie, die Gemeinschaft oder die Kirche die Grundlage der Gesellschaft. Diese Idee ist schwerlich Luther allein zuzuordnen, Machiavelli und andere haben ähnlich gedacht und geschrieben. Es war eine Idee, die in der Luft lag, wenn man so möchte. In Luthers Fall wurde sie direkt in einen politischen Konflikt eingebracht, der die Kirche letztlich zerissen hat. Sie bekam eine Prominenz, die ihr vielleicht sonst er später und jedenfalls sehr anders zuteil geworden wäre.
  • Wenn das geistliche Heil Gnade ist, und nicht von der Kirche vermittelt, dann kann es geistliches Heil auch unabhängig von der Kirche geben. Und also auch einen (weltlichen) Bereich, in dem andere Regeln gelten können. Weltliches und geistliches Heil müssen nicht den gleichen Regeln folgen. Luther enfaltet diese Idee – die in moderner Interpretation auch Zwei-Reiche-Lehre genannt wird – in vielen seiner Schriften, unter anderem in „Von weltlicher Obrigkeit…“ (unser Text für Freitag). Luther war nicht der erste, der diese Idee präsentierte. Bereits Augustinus vertrat 1000 Jahre zuvor ähnliche Ideen. Doch mit Luther und in Verbindung mit der beginnenden Neuzeit entwickelte sich eine neue Dynamik.
  • Die dritte Implikation soll im Mittelpunkt unserer Sitzung am Freitag stehen, in der um die Gehorsamspflicht der Christenmenschen gehen wird. Wann und gegenüber wem ist man zum Gehorsam verpflichtet? Und warum?

Der Text für die kommende Sitzung ist eine 1523 erschienene Flugschrift – mit einer Widmung an Johann I., Herzog von Sachsen, der Luther in dieser Frage um Rat gebeten hatte. Flugschriften waren in dieser Zeit ein beliebtes Instrument der politischenn Debatte, enthielten oft Polemiken und versuchten in den politischen Konflikten der Zeit Einfluss zu nehmen. Der Buchdruck hatte sie möglich gemacht – ähnlich wie heute das Internet neue Formen politischer Auseinandersetzung ermöglicht. So ist auch Luthers Text dialogisch gehalten, es geht um die Klarheit des Arguments. Diesem wollen wir am Freitag nachspüren.

Literaturempfehlung

Dieter Korsch 2007: Martin Luther : eine Einführung. Tübingen : Mohr Siebeck.

Aus Krankheitsgründen erscheint dieser Text verspätet – ich bitte um Nachsicht und hoffe, es haben ihn dennoch einige gelesen.

Zur Einführung

In unserer ersten inhaltlichen Sitzung haben wir uns mit unseren persönlichen Fragen und Einstellungen zu Religion (und Staat) auseinandergesetzt. Am Schluss habe wir Fragen gesammelt, die wir im Laufe des Semester intensiver diskutieren wollen.

fragen erste sitzung

Am Ende des Semesters werde ich mir diese Fragen wieder vornehmen und dann können wir gemeinsam diskutieren, welche Antworten wir bekommen haben. Bevor wir nun – mit einem ersten Blogbeitrag zu Luther am Mittwoch und unserer Textdiskussion am Freitag – richtig in das Thema einsteigen, sind noch ein paar organisatorische Dinge zu klären:

  1. Bitte beantwortet die Umfrage zum Seminar! Sie hilft mir dabei, das Seminar so zu gestalten, dass ihr wirklich etwas davon habt. Und sie ist kurz, dauert also gar nicht lange.
  2. Unter Leistungsanforderungen findet ihr alle Hinweise zu den Leistungen für Teilnahme und Benotung. Dazu gehört. dass jede/r ein Poster erstellt. Die Anmeldung dafür ist nun möglich. Jedes Thema wird einmal vergeben. Bitte geht sicher, dass ihr in der betreffenden Sitzung auch persönlich anwesend sein könnt – wie bei einem Referat auch erforderlich! Im ersten Block am 9.12.2016 werden Themen behandelt, die sich auf die Themen Reformation, Glaubensfreiheit etc. beziehen. Im zweiten Block am 10.2.2017 werden Themen behandelt, die sich mit Protestantismus und Politik im 20. und frühen 21. Jahrhundert beschäftigen. Diese thematische Fokussierung ist notwendig, um eine angemessene Diskussion führen zu können. Darum ist eine Verschiebung von Themen auf den anderen Termin NICHT möglich.

Anmeldung für Posterthemen

(Die Eintragung mit Vornamen und ggfls. erstem Buchstaben des Nachnamens reicht aus –> Datenschutz)

Die Themen sind bewusst allgemein gehalten – Teil der Aufgabe ist über eine Forschungsfrage einen Fokus zu definieren. Wer nicht genau weiss, was zu tun ist, kann gern mit mir einen Besprechungstermin vereinbaren.

Der Text für kommenden Freitag ist nicht nur inhaltlich lohnenswert, sondern auch grundlegend für unsere weiteren Diskussionen. Auch diejenigen, die am Freitag nicht da sein können, sollten ihn unbedingt lesen. Bis Freitag!