Schreiben als heilige Aufgabe

Tagesspiegelbeilage vom 26. November 2022 von Anne Stiller

Forschende arbeiten zur Frage, wie Torarollen von der Antike bis zur Neuzeit hergestellt wurden und bis heute werden

Rabbiner Shaul Nekrich (r.) hält anlässlich des 76. Jahrestags der Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz am Internationalen Holocaust-Gedenktag die historische Sulzbacher Torarolle von 1792. Links: Rabbiner Elias Dray.
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Auf dem Papier abgebildet sind 188 Zeichen. Es ist etwa einen mal zwei Meter groß und hängt an der Wand hinter dem Schreibtisch – eigentlich ist es Tapetenrolle, in diesem Fall aber ein sehr großer Notizzettel. Die Zeichen sind in Wahrheit die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets und ihre zahlreichen Variationen. „Ich muss immer alles aufschreiben und visualisieren“, sagt Annett Martini. Auf die unterschiedlichen Schreibweisen der Buchstaben ist die promovierte Judaistin von der Freien Universität Berlin in Torarollen und Schreiberhandbüchern aus der Zeit vom 9. bis 15. Jahrhundert gestoßen. Die hebräischen Buchstaben sind verziert mit sogenannten Krönchen, also zusätzlichen Strichen, kleinen Bögen oder Fähnchen. „Die Krönchen stehen für eigene Narrative, die über den eigentlichen Text hinausgehen. Sie wurden nicht einfach gesetzt, weil es schöner aussieht“, erklärt Annett Martini. Dem Glauben nach habe Moses am Berg Sinai die Tora mit den Krönchen offenbart bekommen. Wofür genau die zusätzlichen Zeichen an den Buchstaben stehen, sei aber eine Frage der Auslegung. Mystiker zum Beispiel interpretierten einige der Krönchen aufgrund ihrer Form als Ohren, die bis in die Schöpfungszeit zurückhören könnten und dadurch zeigten, wie Gott die Welt geschaffen habe.

In den kommenden vier Jahren sollen die handschriftlichen Notizen auf Tapetenrolle digitalisiert werden und dann Forschenden und Interessierten online frei zugänglich sein; neben der digitalen Enzyklopädie soll auch eine virtuelle Torarolle erstellt werden. Das Vorhaben ist Teil eines neuen Forschungsprojekts mit dem Titel „ToRoll: Materialisierte Heiligkeit: Torarollen als kodikologisches, theologisches und soziologisches Phänomen der jüdischen Schriftkultur in der Diaspora“, bei dem es um jüdische Schrifttraditionen bei der Herstellung von Torarollen geht.

Eine Torarolle umfasst den Text der fünf Bücher Mose; sie gilt als das wichtigste Schriftwerk des Judentums, auch weil sie als Ritualgegenstand zentral ist für einen jüdischen Gottesdienst. Wieso sollte man sich dafür interessieren, wie eine solche Rolle hergestellt wurde? „Weil die Textanfertigung Teil des kulturellen Erbes des Judentums ist – und damit für Jüdinnen und Juden immens wichtig“, erklärt Annett Martini.

Auch eine virtuelle Torarolle soll neben der digitalen Enzyklopädie erstellt werden

Die Forschungsergebnisse könnten zudem etwas über das historische Verhältnis von Jüdinnen und Juden zu ihren nichtjüdischen Nachbarn aussagen. „Es gibt viele Vorschriften, die bei der Herstellung einer Torarolle einzuhalten sind. So müssen zum Beispiel Pergament und Tinte koscher sein. Das heißt unter anderem, dass beide Materialien möglichst von Angehörigen des Judentums nach alter Rezeptur hergestellt werden müssen“, erläutert Annett Martini. In Europa wurde das aber etwa vom 12. Jahrhundert an zur Herausforderung, als Jüdinnen und Juden in christlich geprägten Gesellschaften zunehmend aus Handwerksberufen verdrängt wurden. „Da wurde dann auch mal Tinte verwendet, die nicht aus jüdischer Herstellung kam. Oder man kaufte Beschreibstoffe wie Pergament aus christlicher Produktion.“ Das Studium von Quellen aus dieser Zeit lässt tief in das jüdisch-christliche Verhältnis blicken und kann dazu beitragen, überholte Sichtweisen von klaren konfessionellen Grenzen und Religionsgemeinschaften, die nur unter sich bleiben, zu hinterfragen.

Die Forschenden des Projekts untersuchen nicht nur die Schreiberliteratur aus der Antike und dem Mittelalter, sondern befassen sich auch mit neuzeitlichen Auffassungen zur Herstellung einer koscheren Torarolle. Hierbei stehen bestimmte Personen ganz besonders im Mittelpunkt: die Schreiber – „und seit einiger Zeit auch die Schreiberinnen“, sagt Annett Martini. In den letzten Jahrzehnten gibt es zunehmend auch Jüdinnen, die sich dem Schreiben einer Torarolle widmen; bis dahin war das ausschließlich Männern vorbehalten. Wie stehen jüdische Gemeinden zu dieser Entwicklung? „Das kommt darauf an. Orthodoxe Gemeinden erkennen Torarollen, die von Frauen geschrieben wurden, nicht als koscher an. Das heißt, sie würden sie nicht im Ritus verwenden. In liberalen Gemeinschaften ist die Akzeptanz deutlich höher“, erklärt Annett Martini.

Welche Stellung eine Schreiberin oder ein Schreiber innerhalb einer Gemeinde hat und was diese Personen auszeichnet, wollen Annett Martini und ihre Kolleginnen und Kollegen mithilfe von qualitativen Interviews herausfinden. Während einer Studienreise durch Israel hat Annett Martini bereits mit einigen Schreiberinnen und Schreibern gesprochen. „Geprägt durch die mittelalterlichen Quellen, hatte ich ein ziemlich romantisches Bild von einem Schreiber. Das wurde komplett auf den Kopf gestellt. Ein Schreiber berichtete mir, dass er erst in einem Jobcenter auf die Möglichkeit aufmerksam wurde, den Beruf des Sofer-STaM – eines professionellen Schreibers – neun Monate zu erlernen und dann in diesem Bereich zu arbeiten. Er war glücklich darüber, dass er nicht mehr trennen musste zwischen einem profanen Teil des Lebens, in dem eben auch für den Lebensunterhalt gesorgt werden müsse, und dem religiösen Leben“, erzählt Annett Martini. „Ein anderer Schreiber hingegen erzählte, dass er sich nur noch der Kalligraphie widmete, da er sich von den zahlreichen Schreibregeln, die es für eine Torarolle gibt, in seiner Kreativität eingeschränkt fühlte.“ Überraschend und beeindruckend seien für die Judaistin auch Unterhaltungen mit Schreiberinnen gewesen. Trotz der Kritik aus einigen orthodoxen Gemeinden und der Schwierigkeit, Lehrer zu finden, die auch Frauen in der Schreibkunst unterrichten, seien sie fest entschlossen, sich ganz dem Schreiben der heiligen Schriftrollen zu widmen.

„Die Textanfertigung ist Teil des kulturellen Erbes – und damit immens wichtig“

Annett Martini und ihre Kolleginnen und Kollegen haben bis 2026 – bis dahin läuft das Projekt – viel vor: „Uns interessiert die komplette Entstehungsgeschichte insbesondere mittelalterlicher Torarollen. Wann und unter welchen Bedingungen wurden sie geschrieben? Wie viele Personen waren an dem Prozess beteiligt? Welche Materialen kamen dabei zum Einsatz? Und was ist ihre Geschichte in den meist christlichen Bibliotheken?“ Die Judaistik, die sich vor allem mit der Geschichte und Literatur des Judentums befasst, würde jedoch irgendwann an ihre Fachgrenzen stoßen, wenn sie versuchte, diese Fragen im Alleingang zu beantworten. Darum sind neben den Instituten für Judaistik und Kunstgeschichte der Freien Universität Berlin auch die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) sowie das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) an dem Forschungsprojekt beteiligt.

Geschichts- und kulturwissenschaftliche Fächer könnten von technischen und naturwissenschaftlichen Ansätzen profitieren, meint Annett Martini. „Mit computergestützten Methoden können wir sehr große Textmengen analysieren und miteinander verknüpfen. So können zum Beispiel in der geplanten virtuellen Torarolle nicht nur paläographische Traditionen vergleichend erfasst werden. Die digitale Edition von Texten aus unterschiedlichen Zeiten und Regionen ermöglicht uns darzustellen, wie sich der Wissensschatz zur Herstellung von Torarollen entwickelt hat und auf welchen Wegen er weitergegeben wurde.“ Informationen zum Hintergrund von jüdischen Religionsschriften – etwa wie die Buchstabenformen und -krönchen innerhalb der jüdischen Schriftauslegung aufgefasst und bearbeitet wurden – könnten visuell besser erfasst und zugänglich gemacht werden.

Finanziert wird das Projekt mit 2,4 Millionen Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen einer Förderlinie, deren Ziel es ist, sogenannte Kleine Fächer wie die Judaistik zu stärken. Als Kleine Fächer gelten wissenschaftliche Disziplinen, die über nur wenige Professuren verfügen. „Für das Fach Judaistik ist das eine Riesenchance, sich für andere Fachrichtungen und die Öffentlichkeit gleichermaßen zu öffnen“, sagt Annett Martini. Dafür sind zwei weitere Einrichtungen in das Projekt eingebunden: die Mainzer Akademie der Wissenschaft und Literatur sowie die Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. „Zusammen mit der Staatsbibliothek etwa wollen wir am Ende eine Ausstellung zeigen, in der es um heilige Schriften geht. Nicht nur aus dem Judentum, sondern auch aus dem Christentum und dem Islam sowie aus dem ostasiatischen Raum sollen religiöse Texte ausgestellt werden. Kurz: aus verschiedenen Religionen, Regionen und Epochen“, sagt Annett Martini. Vielleicht erhält dann der große Notizzettel mit den 188 Buchstabenvarianten in der Ausstellung einen Ehrenplatz.