Verkehr in Hangzhou, schüchtern ist hier nicht!

Ich habe mir ein Rad gekauft. Es war so ziemlich die beste Entscheidung, die ich getroffen habe, seit ich in China bin. Aber sie hat mich auch mit dem Verkehr in Hangzhou in Berührung gebracht. Ich bin gleichermaßen fasziniert und genervt. Gestresst und belustigt. Überfordert und überwältigt.

Auf den Straßen Chinas herrschen andere Regeln als auf denen Deutschlands. Hier gilt: Der schnellere gewinnt, dreist kommt weiter und der Klügere gibt nach.
Zusätzlich zu den zwei bis vier Streifen für die Autos gibt es überall einen weiteren Streifen für Fahrräder und Elektroroller. Dieser ist fast immer mit so etwas wie einer Leitplanke aus Plastikpollern abgetrennt und genauso breit wie ein Fahrstreifen für die Autos.
Von den Elektrorollern gibt es mindestens genau so viele, wie Autos. Ok, das ist vielleicht doch ein wenig übertrieben, aber es sind extrem viele! Es gibt sie in jeder erdenklichen Form, Farbe und in jedem erdenklichen Zustand. Hauptsache fährt. Es fahren, soweit ich das sehe, weit mehr Menschen mit etwas, das sie fährt, als mit etwas das sie fahren müssen.
Abgesehen von Rollern, Rädern und Autos gibt es noch so etwas wie kleine Transporter, auf denen genau eine Person sitzen kann, mit etwa anderthalb Quadratmeter Ladefläche. Sie fahren meistens auf dem Streifen für Räder und Roller und manchmal auch auf den Streifen für Autos. Auf diesen Mini-Transportern wird so ziemlich alles transportiert. Ich habe sie mit Pappe gesehen. Mit Kisten. Mit Stühlen, mit Schreibtischstühlen, mit diesen riesigen Flaschen für Wasserspender, mit zusammengepressten Plastikflaschen, mit Bäumen oder Sträuchern, mit Holz und noch mit vielen weiteren Dingen. Genau wie LKWs werden sie so hoch beladen, wie eben möglich und mit so viel, wie sich noch fahren lässt. Es sieht irre aus und auch oft sehr heikel. Ich finde es ganz wunderbar. Überhaupt sind die Chinesen soweit ich das beurteilen darf sehr pragmatisch. Auch im Gebrauch der Hupe. Meine Fahrradklingel gab es gratis dazu. Auf der Straße gibt es jeden nur erdenklichen Ton einer Hupe oder einer Klingel. Die dröhnenden, tiefen Töne der LKWs, die mich immer an Hupen riesiger Dampfer erinnern. Die lauten und manchmal schrillen Autohupen. Die nervtötenden Fahrradklingeln. Die fiepsig hohen Hupen der Roller und Mini-Transporter.
Sie wird für alle möglichen Sachen eingesetzt. Meistens sagt sie etwas aus wie: „Vorsicht. Ich überhole dich.“, manchmal etwas wie: „Du bist im Weg. Ich will da lang.“, manchmal ist es: „Ich fahre schnell und will nicht bremsen, also fahr zur Seite.“. Einmal erlebte ich ein „Mir ist langweilig, ich spiele einfach mal an meiner Fahrradklingel rum“.
Dabei wird sie so oft eingesetzt, dass dies völlig emotionslos geschieht. Den einen Tag saß ich in einem Bus direkt hinter dem Fahrer. Dieser betätigte die Hupe, wie andere den Blinker setzen. Völlig ohne Ärger. Völlig entspannt. „Vielleicht bringt es was, vielleicht muss ich bremsen. Ist auch egal.“ Von meinen Beobachtungen her kann ich sagen, dass erst versucht wird vorbeizukommen, bevor gebremst wird. Meist geschieht dies erst im letzten Moment.
Ich habe das Gefühl, dass irgendwie niemand und irgendwie alle Rücksicht nehmen. Jeder macht was er will, aber es klappt, da jeder völlig flexibel jederzeit bereit ist auszuweichen. Wenn man auf sein Fahrrad steigt und losfährt, ist es überhaupt nicht wichtig zu schauen, ob die Straße überhaupt frei ist. Wenn man jemanden überholt, ist es völlig unnötig zu schauen, ob man seinerseits grad überholt wird. Wenn man von der Straße abfährt ist es doch komplett abwegig nachzusehen, ob jemand den Fußweg langkommt. Dennoch funktioniert es ausgezeichnet. Alle haben im Blick, was vor ihnen geschieht. Der Verkehr fließt, natürlich auch dann, wenn die Ampel rot ist. Die Autos halten sich an die Ampelschaltung, aber alles was kleiner ist, nutzt auch die Rotphase, um ordentlich Gas zu geben. Solange das nahende Auto noch langsam genug ist und man das Gefühl hat, es schaffen zu können, geht das doch. Als Fußgänger muss man sich sein Recht oft ziemlich erkämpfen. Ein Zebrastreifen ist auch eigentlich eine Empfehlung und keine Regel. Aber dreist kommt tatsächlich weiter. Ich habe mir angewöhnt einfach loszulaufen beziehungsweise loszufahren. Der Rest ergibt sich schon.
Je nach Tageslaune bin ich nach einer Radtour völlig am Boden oder völlig wie auf Wolken. All diese Eindrücke sind unglaublich faszinierend und können dann eben auch unglaublich erdrückend werden. Während der Verkehr allein schon genug zu verdauen wäre, kommen noch die Umgebung und die Menschen an sich dazu. Großbaustellen mit schreienden Bauarbeitern, Kränen, übervoll beladenen LKWs, Baggern und anderen Gerätschaften, die ich nie zuvor gesehen habe. Hochhäuser, von denen eigentlich immer mindestens fünf gleiche in einer Gruppe gebaut wurden, mit Unmengen an lärmenden Lüftungen und Balkonen voll mit Wäsche. Menschen, die auf dem Streifchen Erde zwischen den Fahrbahnen hocken und neue Blümchen pflanzen oder Unkraut jäten oder andere, die den ganzen Tag den Gehweg fegen. Blumen am Straßenrand, die ich nie zuvor gesehen habe. Und immer neue Gerüche, von denen einige auch richtige Gestänke sind.
Und dann die Menschen. Die vielen Menschen. Die meisten schenken mir keine Beachtung, aber es kommt jeden Tag mehrmals vor, dass ich angestarrt werde. Meistens die älteren oder die jüngeren Menschen. Einmal bin ich auf dem Rad an einem kleinen Mädchen vorbeigefahren, das mich sah und anfing zu schreien: „Ausländer! Ausländer! AUSLÄNDER! A-U-S-L-Ä-N-D-E-R!“

Naja, immerhin werde ich als Nicht-Chinesin erkannt und somit zwar begafft, aber auf keinen Fall überfahren.
Mein Fazit aus den letzten Wochen: der Verkehr in Hangzhou ist gewöhnungsbedürftig und ganz sicher nichts für schwache Nerven, aber wenn ich es schaffe mich mal von meinen deutschen Werten zu lösen, ist es faszinierend, wie flüssig er doch funktioniert und wie flexibel jeder einzelne Teilnehmer scheint.

Die chaotischsten Grüße in das gesittete Deutschland

Caro

Der Beitrag wurde am Samstag, den 29. Oktober 2016 um 05:44 Uhr von Carolin Becker veröffentlicht und wurde unter Allgemein abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf Ihrer Seite einrichten.

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