Integration durch europäische Rechtsetzung


Gliederung


A. Die EU als Rechtsunion

Weiterführender Literaturhinweis

Mayer, Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, NJW 2017, 3631 ff.


Die Europäische Union ist eine „Rechtsunion“.1 Sie wurde zum einen durch das Recht geschaffen, sie ist also eine „Schöpfung des Rechts“2. Zum anderen bringt der Begriff zum Ausdruck, dass die EU im Wesentlichen durch die Setzung von Recht handelt und insofern eine umfassende Rechtsordnung mit besonderer Strahlkraft geschaffen hat. Diese Unionsrechtsordnung beeinflusst maßgeblich das Recht der Mitgliedstaaten – durch Harmonisierung, Anwendungsvorrang oder unionsrechtskonforme Auslegung. 

B. Handlungsformen der EU 

Weiterführender Literaturhinweis

Voßkuhle/Heitzer, Rechtsetzungs- und Handlungsformen des Unionsrechts, JuS 2024, 730 ff.


I. Vielfalt möglicher Handlungsformen

Um ihre Ziele und Politiken ins Werk zu setzen, bedient sich die EU unterschiedlicher Rechtsformen. Art. 288 UAbs. 1 AEUV zählt – nicht abschließend3 – Formen auf, in denen die Union tätig werden kann: 

„Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union nehmen die Organe Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an.“

In den UAbs. 2 bis 5 werden diese Handlungsformen näher charakterisiert. Neben verbindlichen Rechtsakten (Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse) werden auch Empfehlungen und Stellungnahmen genannt, die zwar unverbindlich sind (Art. 288 UAbs. 5 AEUV), aber dennoch zum Rechtsquellensystem der EU gehören.4 Die Handlungsformen sind unabhängig von innerstaatlichen Kategorien. So ist etwa eine Verordnung nicht mit der deutschen Rechtsverordnung (Art. 80 GG) zu verwechseln. Zudem ist zu beachten, dass Art. 288 AEUV keine Kompetenz vermittelt, sondern lediglich die Handlungsformen für die Ausübung an anderer Stelle übertragener Kompetenzen normiert.

II. Formenauswahlermessen

Teilweise gibt der Kompetenztitel die Handlungsform bereits vor (z.B. Art. 50 Abs. 1 AEUV: „Richtlinien“ oder Art. 85 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV: „Verordnungen“). In anderen Fällen wird eine Wahlmöglichkeit eröffnet (z.B. Art. 46 AEUV) oder die Handlungsform wird offen gelassen (z.B. Art. 114 Abs. 1 AEUV: „Maßnahmen“). Hier entscheiden – wie Art. 296 Abs. 1 AEUV hervorhebt – die Organe im Einzelfall unter Einhaltung der geltenden Verfahren und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.S.d. Art. 5 Abs. 4 EUV. Sie haben daher darauf zu achten, diejenige Handlungsform zu wählen, die im Hinblick auf die Schonung der Autonomie der Mitgliedstaaten über das zur Erreichung der Ziele Erforderliche nicht hinausgeht. Deshalb ist eine Richtlinie – die einen mitgliedstaatlichen Umsetzungsspielraum belässt – grundsätzlich einer Verordnung vorzuziehen.5 Das Ziel der Schaffung einer einheitlichen Rechtslage streitet freilich für den Rückgriff auf eine Verordnung. So ist auch in der Praxis eine deutliche Zunahme des Anteils an Verordnungen zu beobachten.6

C. Abstrakt-generelle Rechtsakte

Im Folgenden werden die klassischen abstrakt-generellen Handlungsformen der EU, Verordnung und Richtlinie, näher in den Blick genommen. Beide zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine unbestimmte Vielzahl von Fällen erfassen sollen und hierfür eine allgemeine Regelung treffen. 

Hinweis: Das Unionsrecht kennt keine vergleichbar strikte Zuweisung von Handlungsformen zu bestimmten Organen wie das deutsche Recht, wo Gesetze (im formellen Sinne) nur durch den parlamentarischen Gesetzgeber und Rechtsverordnungen nur durch Stellen der Exekutive erlassen werden können. So sehen Art. 290 f. AEUV vor, dass bei entsprechender Ermächtigung auch die Kommission zur Ergänzung der Regelungen (Art. 290 Abs. 1 AEUV) oder zum Erlass von Durchführungsbestimmungen (Art. 291 Abs. 2 AEUV) Verordnungen und Richtlinien erlassen kann. Zur Kennzeichnung der Unterscheidung werden diese als „delegierte“ Verordnungen bzw. „delegierte“ Richtlinien (Art. 290 Abs. 1 AEUV) bzw. „Durchführungsverordnungen“ (Art. 291 Abs. 2 AEUV) bezeichnet. Kenntnisse zu diesem „Tertiärrecht“ dürften für die erste juristische Prüfung kaum zu erwarten sein.7

I. Die Unterscheidung zwischen Verordnungen und Richtlinien

Die Abgrenzung der Verordnung von der Richtlinie ist elementar für die Prüfung der richtigen Handlungsformenauswahl. Insbesondere unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten (Art. 5 Abs. 4 EUV) sind beide Rechtsakte voneinander abzugrenzen. Die Verordnung ist gemäß Art. 288 UAbs. 2 AEUV von allgemeiner Geltung, umfassend verbindlich und gilt in jedem Mitgliedstaat unmittelbar. Die Richtlinie zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass sie lediglich hinsichtlich ihres Zieles verbindlich ist. Den Mitgliedstaaten verbleibt idealtypisch ein Gestaltungsspielraum bei der Erreichung dieses Ziels. Eine Richtlinie enthält dazu stets eine Umsetzungsfrist, bis zu der die Mitgliedstaaten in einem nationalen Rechtsakt die unionsrechtlich niedergelegten Ziele umsetzen müssen. Damit ist die Richtlinie in ihrer Wirkung für die mitgliedstaatliche Autonomie schonender als die Verordnung. 

II. Unmittelbare Anwendbarkeit

1. Hinreichende Genauigkeit und inhaltliche Unbedingtheit als Kriterien

Ist nach der unmittelbaren Anwendbarkeit (synonym: unmittelbare Wirkung) eines Unionsrechtsaktes gefragt, wird gerne die Unterscheidung zwischen Verordnung und Richtlinie herangezogen. Während die Verordnung grundsätzlich unmittelbar anwendbar sei, sei dies bei Richtlinien nur in Ausnahmefällen anzunehmen. Dies ist als „Faustformel“ hilfreich, insbesondere sind Bestimmungen einer Richtlinie durch die Notwendigkeit einer Umsetzung grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar. Richtigerweise ist aber die einzelne Bestimmung auch einer Verordnung gesondert auf ihre unmittelbare Anwendbarkeit zu überprüfen.8 Der Wortlaut des Art. 288 UAbs. 2 S. 2 AEUV bezieht sich lediglich auf die unmittelbare Geltung, von der die unmittelbare Anwendbarkeit zu trennen ist. Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendbarkeit eine Norm sind, dass die Regelung 

(1) hinreichend genau gefasst ist und

(2) eine inhaltlich unbedingte Verpflichtung begründet.

Diese Voraussetzungen erfüllen etwa sog. hinkende Verordnungsbestimmungen nicht. Sie müssen durch nationale oder unionale Durchführungsmaßnahmen vervollständigt werden und sind damit nicht unmittelbar anwendbar.9

Fallbeispiel

Die Verordnung (EU) 2022/1854 sieht vor, dass im Erdöl-, Erdgas-, Kohle- und Raffineriebereich tätige Unternehmen einen Solidaritätsbeitrag von „mindestens 33 %“ ihrer Gewinne an die Mitgliedstaaten abzugeben haben („Übergewinnsteuer“). Muss Unternehmen U auf dieser Grundlage die Abgabe leisten? Nein, die Norm lässt einen Gestaltungsspielraum („mindestens“) und bedarf daher der mitgliedstaatlichen Konkretisierung. Sie ist nicht unmittelbar anwendbar. 

2. Unmittelbare Anwendbarkeit nicht (hinreichend) umgesetzter Richtlinien

Ungeachtet der in Art. 288 AEUV getroffenen Unterscheidung hat der EuGH in seiner Rechtsprechung die Figur der unmittelbaren Anwendbarkeit nicht (ordnungsgemäß) umgesetzter Richtlinien entwickelt. Danach können ausnahmsweise auch Richtlinienbestimmungen unmittelbar anwendbar sein. Denn hätte der Mitgliedstaat eine Richtlinie ordnungsgemäß und fristgerecht umgesetzt, so könnte sich ein:e Private:r auf die Bestimmung des nationalen Umsetzungsrechtsakts berufen. Nun soll es Bürger:innen nicht zum Nachteil gereichen, dass ein Mitgliedstaat seiner Umsetzungsverpflichtung nicht umfassend nachgekommen ist. Zudem wird so ermöglicht, dass die einheitliche Wirksamkeit des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten sichergestellt wird.10

Eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen hat letztlich vier Voraussetzungen:

1. Keine oder nicht hinreichende Umsetzung der Richtlinie trotz Fristablauf

2. Inhaltliche Genauigkeit

3. Unbedingtheit der Richtlinie (kein Umsetzungsspielraum)

Bei Vorliegen dieser drei Voraussetzungen ist in einem letzten Schritt (4.) die vorliegende Konstellation zu beachten:

Im vertikalen Verhältnis beruft sich ein:e Bürger:in gegenüber dem Staat auf eine nicht umgesetzte Richtlinie. Die unionsrechtlich vorgesehene Regelung ist dabei von Amts wegen anzuwenden, der Staat wird für seine Untätigkeit „bestraft“ (Sanktionsfunktion). Auf der anderen Seite soll der Staat im umgekehrt vertikalenVerhältnis für seine Untätigkeit nicht „belohnt“ werden. Der Staat kann sich daher auf den Bürger bzw. die Bürgerin belastende Richtlinienbestimmungen nicht berufen. Die Nicht-Umsetzung (bzw. nicht vollständige Umsetzung) geht folglich immer nur zulasten des Staates.

Zur Vertiefung: Der EuGH versteht dabei den Begriff des Staates sehr weit, was die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien ausdehnt. So ist zunächst jedwede staatliche Ebene betroffen, mithin auch Länder und Kommunen. Zudem ist eine Richtlinie auch dann zulasten des Staates unmittelbar anwendbar, wenn dieser als Arbeitgeber auftritt.11 Schließlich will der EuGH auch juristische Personen des öffentlichen Rechts12 und noch weitergehend alle „Organisationen oder Einrichtungen [einbeziehen], die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten“13. Das kann etwa Beliehene betreffen.

Im Bürger-Bürger-Verhältnis entfaltet eine Richtlinie niemals unmittelbare Anwendbarkeit. Dies gilt zunächst für den Fall, dass sich etwa eine Verbraucherin gegenüber einem privaten Unternehmer auf ein Widerrufsrecht aus einer nicht umgesetzten Richtlinie beruft („echte/positive Horizontalwirkung“).14 Ansonsten würde der Einzelne belastet, ohne Einfluss auf Zeitpunkt und Vollständigkeit der mitgliedstaatlichen Umsetzung zu haben.15 Ebenso ist eine unmittelbare Anwendbarkeit abzulehnen, wenn etwa eine Verbraucherin die Unvereinbarkeit eines gegen sie gerichteten Anspruchs eines privaten Unternehmers wegen Verstoßes gegen eine nicht umgesetzte Richtlinie geltend macht („unechte/negative Horizontalwirkung“). Hier werden zwar nicht unmittelbar Rechte aus der Richtlinie abgeleitet, aber auch der anspruchsberechtigte Unternehmer hat keinen Einfluss auf die Umsetzung. Mit der Ablehnung einer unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien unter Privaten wird ferner dem Umstand Rechnung getragen, dass sich Richtlinien nur an den Mitgliedstaat wenden und ansonsten die Unterscheidung zur Verordnung verloren ginge. 

Fallbeispiel16

D wurde 2014 im Hauptbahnhof Mailand an einem Stand des K angesprochen, ob sie in seiner Sprachschule einen Englisch-Sprachkurs zum einem einmaligen Sonderpreis buchen wolle. Überrumpelt von der Situation unterschrieb D einen entsprechenden Vertrag. Am nächsten Tag wollte sie ihre Entscheidung revidieren, da sie vom Sprachkurs aus Zeitgründen keinen Gebrauch machen kann. Art. 9 Abs. 1 der Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU sieht vor, dass bei außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Verträgen für 14 Tage ein Widerrufsrecht ohne Angaben von Gründen einzuräumen ist. Die Richtlinie war bis zum Ende des Jahres 2013 in nationales Recht umzusetzen. Italien hatte aber keinerlei Anpassung seines Zivilgesetzbuches vorgenommen. Kann D sich gegenüber K unmittelbar auf ihr Recht aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/83/EU berufen? Nein, zwar ist Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/83/EU hinreichend genau und inhaltlich unbedingt. Im hier vorliegenden horizontalen Verhältnis zwischen zwei Privaten scheidet eine unmittelbare Anwendbarkeit aber aus.

Zur Vertiefung: Über einen Umweg gelangt der EuGH mitunter dazu, dass auch in einem Rechtsstreit zwischen Privaten Vorschriften des nationalen Rechts außer Anwendung zu lassen sind. Denn durch die Regelung durch die Richtlinie ist der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet, damit ist auch die GRCh anwendbar. Deren Grundrechte wirken nach der Rechtsprechung des EuGH teilweise auch unter Privaten. Zur Veranschaulichung ein Beispiel: Vera Egenberger wurde nicht zu einem Vorstellungsgespräch der evangelischen Diakonie eingeladen, wohl weil sie nicht Mitglied der evangelischen Kirche ist. Bei einer Klage auf Entschädigung nach dem AGG stellte sich heraus, dass Deutschland die entsprechende Antidiskriminierungsrichtlinie, die eine Diskriminierung wegen der Religionszugehörigkeit grundsätzlich untersagt, nicht korrekt umgesetzt hat. Da es sich aber um einen Rechtsstreit unter Privaten handelte, konnte sich Frau Egenberger nicht unmittelbar auf die Richtlinie berufen. Der EuGH sah in der Antidiskriminierungsrichtlinie aber letztlich nur eine Konkretisierung des Art. 21 GRCh – und dieser sei unter Privaten anwendbar.17 Die Richtlinie liefert damit letztlich den Anwendungsbereich, das Grundrecht die unmittelbare Anwendbarkeit.18

III. Verhältnis zu anderen Rechtsakten

1. Verhältnis zu anderen europäischen Rechtsakten

Im Verhältnis zu sonstigen europäischen Rechtsakten ist die unionsrechtliche Normenhierarchie zu beachten: Sekundärrechtsakte sind gegenüber dem Primärrecht nachrangig und an diesem zu messen. Eine primärrechtswidrige Bestimmung in einer Verordnung oder einer Richtlinie ist vernichtbar. Dafür sind die Unionsgerichte anzurufen, denen insoweit das Verwerfungsmonopol zukommt (sog. Foto-Frost-Doktrin).19 Eine Hierarchie innerhalb einer „Rechtsschicht“ gibt es nicht: Ebenso wie EUV, AEUV und GRCh (Primärrecht) gleichrangig sind, gilt dies auch für als Gesetzgebungsakte erlassene Verordnungen und Richtlinien. Kollisionen sind insoweit anhand allgemeiner Regeln (lex specialis derogat legi generali, lex posterior derogat legi priori) aufzulösen.20

2. Verhältnis zum deutschen Recht

a) Unionsrechtskonforme Auslegung

Aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) lässt sich ableiten, dass mitgliedstaatliche Stellen das nationale Recht grundsätzlich im Lichte des Unionsrechts auszulegen und fortzubilden haben. Lässt eine Norm Auslegungsspielräume, so müssen sie die Norm so auslegen und anwenden, dass sie so weit wie möglich dem Wortlaut und Zweck des Unionsrechts entspricht. Dies gilt in besonderem Maße, wenn und soweit das nationale Recht in Umsetzung einer Richtlinie ergangen ist. 

Fallbeispiel

Das Verbraucherschutzrecht hat weitreichende Überformung durch europäische Richtlinien erfahren. So kann sich beispielsweise in einer zivilrechtlichen Klausur die Frage stellen, wie weit die Informationspflichten bei einem Fernabsatzgeschäft gemäß § 312d Abs. 1 S. 1 BGB reichen. Gemäß Art. 246a § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 12 EGBGB ist hier auf bestehende Garantien hinzuweisen. Der Wortlaut lässt aber offen, ob der Verkäufer auch auf Garantien eines Dritten, etwa des Herstellers, hinweisen muss und, wenn ja, ob dies stets der Fall ist oder nur, soweit dies für den potenziellen Käufer von besonderem Interesse ist. Insofern ist – soweit in der Klausur abgedruckt – eine Auslegung von Art. 6 Abs. 1 lit. m Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU vorzunehmen, dem die deutsche Regelung wortlautgetreu nachgebildet ist, und sodann die deutsche Vorschrift unionsrechtskonform auszulegen und anzuwenden.21

Auch das Kaufrecht hat vielerorts eine unionsrechtliche Überformungen erfahren, neuerdings insbesondere durch Bestrebungen der EU, Nachhaltigkeit zu fördern.22 Dabei können sich Auslegungsfragen etwa zur Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/771 in Bezug auf die Mangelhaftigkeit einer Kaufsache ergeben. So ist die „Haltbarkeit“ in § 434 Abs. 3 S. 2 BGB in Art. 2 Nr. 3 der Warenkaufrichtlinie definiert als „die Fähigkeit von Waren, ihre erforderlichen Funktionen und ihre Leistung bei normaler Verwendung zu behalten“. 

Die unionsrechtskonforme Auslegung dient der effektiven Wirkung des Unionsrechts. Dabei kommt auch eine richterliche Rechtsfortbildung in Betracht, zumindest soweit damit dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers Rechnung getragen wird, eine Richtlinie vollständig umzusetzen. Eine entscheidende Grenze bildet die innerstaatliche Kompetenzzuweisung in Gestalt der Abgrenzung der Kompetenzsphären zwischen Judikative und Legislative. Eine Auslegung oder richterliche Rechtsfortbildung contra legem, die sich also dem Willen des Gesetzgebers geradezu entgegenstellt, ist – auch wenn dies dem Unionsrecht Rechnung trüge – als kompetenzwidrige Rechtsfortbildung unzulässig, das Unionsrecht fordert sie auch nicht.23

Fallbeispiel: Quelle-Entscheidung

A kaufte beim Versandhandel Quelle ein „Herd-Set“ zum Preis von 524 €, das sich nach anderthalb Jahren als defekt herausstellt. Nach der Rücksendung verlangte Quelle gemäß § 439 Abs. 6 i.V.m. § 346 Abs. 2 BGB Nutzungsersatz von 70 €. A klagte und machte geltend, Art. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie sehe – was zutrifft – vor, dass Verbraucher bei Mängeln keine Kosten für die gezogenen Nutzen in Rechnung gestellt werden dürfen. Der deutsche Gesetzgeber hatte dies, wie der EuGH bestätigt, nicht hinreichend umgesetzt. 

Eine Anwendung der Richtlinie zugunsten der A (kraft Anwendungsvorrang) kam hier nicht in Betracht, da eine Richtlinie unter Privaten auch bei nicht fristgerechter Umsetzung nicht unmittelbar anwendbar ist. Der BGH ging davon aus, dass es sich um eine verdeckte, vom Gesetzgeber nicht gewollte Regelungslücke handele. Diese sei durch eine einschränkende Anwendung des § 439 Abs. 6 BGB für den Fall des Verbrauchsgüterkaufs zu schließen. Nur durch diese richterliche Rechtsfortbildung (entgegen dem Gesetzeswortlaut) könne der Richtlinie Rechnung getragen werden.24 Mittlerweile hat der Gesetzgeber reagiert und in § 475 Abs. 3 BGB für Verbrauchsgüterkäufe eine Ausnahme eingefügt. 

b) Anwendungsvorrang

Ist nach dem zuvor Gesagten eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich, greift der Anwendungsvorrang Platz, der nationalen Rechtsakt wird unanwendbar.25 Dies gilt allerdings nur für abstrakt-generelle Rechtsakte. Verwaltungsakte bleiben – ungeachtet entgegenstehenden Unionsrechts – anzuwenden. Insofern kann freilich ein Anspruch auf Aufhebung geltend gemacht werden.

D. Konkret-individueller Rechtsakt: Der Beschluss

In Abgrenzung zu den abstrakt-generellen Rechtsakten der Richtlinie und Verordnung nennt Art. 288 UAbs. 4 AEUV den Beschluss als konkret-individuellen Rechtsakt. Zu unterscheiden sind insofern adressatenlose und adressatenbezogene Beschlüsse. 

Adressatenlose Beschlüsse binden unmittelbar nur unionale Einrichtungen, wobei die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 EUV der Förderung zur Verwirklichung verpflichtet sind. Obwohl sie daher vor allem intern eingesetzt werden, können sie ausnahmsweise Rechtswirkungen auch für Dritte entfalten.26

Adressatenbezogene Beschlüsse i.S.d. Art. 288 UAbs. 4 S. 2 AEUV sind – unter Inkaufnahme einiger Unschärfen – mit dem Verwaltungsakt im deutschen Recht vergleichbar. Sie können sich an Mitgliedstaaten oder Einzelne richten und treffen eine Einzelfallregelung. Richtet sich der Beschluss gegen den Mitgliedstaat, kann der Einzelne aus ihm Rechte herleiten, sofern die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendbarkeit vorliegen. Diese sind mit denen für die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien vergleichbar: Die getroffene Regelung muss hinreichend genau und inhaltlich unbedingt formuliert und eine Umsetzungsfrist muss verstrichen sein.27

E. Inkurs: Unionsrecht in der verwaltungsrechtlichen Klausur 

Weiterführende Literaturhinweise

Voßkuhle/Schemmel, Grundwissen – Öffentliches Recht: Die Europäisierung des Verwaltungsrechts, JuS 2019, 347 ff.

Ludwigs/Pascher, Die Europäisierung des Verwaltungsrechts in der Fallbearbeitung, JuS 2022, 409 ff. (Teil 1)und 497 ff. (Teil 2)


Von besonderer (Klausur-)Relevanz ist die Einbettung unionsrechtlicher Fragen in eine verwaltungsrechtliche Prüfung. Hier werden insbesondere die aufgezeigten Grundsätze zur unionsrechtskonformen Auslegung und zum Anwendungsvorrang relevant, die im unionsrechtlich überformten Bereich zu beachten sind. Ferner ist bei der Durchführung des Unionsrechts durch mitgliedstaatliche Behörden im Hinblick auf Organisations- und Verfahrensvorschriften zu berücksichtigen, dass die Effektivität des materiellen Unionsrechts nicht (übermäßig) beeinträchtigt wird (Effektivitätsgrundsatz) und Sachverhalte mit Auslandsbezug nicht schlechter gestellt werden (Äquivalenzgrundsatz) und. Darüber hinausgehend sollen im Folgenden drei Fallkonstellationen näher beleuchtet werden, die in verwaltungsrechtlichen Klausuren relevant werden können.

I. Schutznormtheorie 

§ 42 Abs. 2 VwGO sieht vor, dass der Kläger geltend machen muss, in seinen Rechten verletzt zu sein. Für eine derartige Verletzung in eigenen Rechten kommen nach überkommener deutscher Doktrin nur solche Rechtsnormen in Betracht, die zumindest auch dem Schutz des Einzelnen zu dienen bestimmt sind (Schutznormtheorie).28 Insbesondere im Umweltrecht war dies vielfach zu verneinen, weil der Schutz von Gewässern, Luft oder Boden eben nicht einem Einzelnen, sondern der Allgemeinheit dient. Hier aber nimmt das Unionsrecht, inspiriert durch die französische Tradition, vielfach Einfluss und erweitert die Einklagbarkeit von Rechtspositionen. So entschied der EuGH 2008, dass Bürger:innen ein individuelles Recht haben, die Aufstellung von Aktionsplänen zur Verminderung von Schadstoffemissionen gerichtlich einzufordern (vgl. § 47 BImSchG). Dies folge aus dem „zwingenden Charakter“ der Luftqualitäts-Richtlinie 96/62/EG und werde gestützt durch den Zweck der Richtlinie, die öffentliche Gesundheit zu schützen.29 Gerade den Schutz eines Allgemeingutes – der nach der deutschen Schutznormtheorie nicht ausreicht – zieht der EuGH also zur Begründung einer Klagebefugnis heran. In einer Klausur finden sich, sollte eine solche unionsrechtlich gebotene Erweiterung des § 42 Abs. 2 VwGO geboten sein, entsprechende Anhaltspunkte im Sachverhalt.

II. Rücknahme bestandskräftiger Verwaltungsakte

Das Unionsrecht ist Bestandteil der deutschen Rechtsordnung. Verstößt ein Verwaltungsakt gegen eine unmittelbar anwendbare Bestimmung des Unionsrechts, so ist er rechtswidrig. Der Adressat kann dies im Wege eines Widerspruchs und einer Anfechtungsklage geltend machen. Der Verwaltungsakt ist dann ggf. aufzuheben.

Problematisch ist der Fall, wenn ein Verwaltungsakt durch Fristablauf bereits bestandskräftig geworden ist, sich aber später seine Unionsrechtswidrigkeit herausstellt ist. Hier stehen sich das Interesse an Rechtssicherheit und das Interesse an Rechtmäßigkeitsrestitution, d.h. an einer (Wieder)Herstellung eines rechtmäßigen Zustands, gegenüber. 

1. Rücknahme belastender Verwaltungsakte

Gemäß § 48 Abs. 1 VwVfG steht die Rücknahme bestandskräftiger Verwaltungsakte im Ermessen der Verwaltung. Der Adressat kann mithin eine Verpflichtungsklage erheben, muss aber bedenken, dass die Gerichte grundsätzlich die Behörde nur zu einer fehlerfreien Ermessensentscheidung verpflichten (sog. Bescheidungsurteil). Fraglich ist nunmehr, ob sich aus dem Unionsrecht ergibt, dass das Rücknahmeermessen auf Null reduziert ist, die Rechtmäßigkeitsrestitution also Vorrang hat. Der EuGH erkannte insoweit an, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit einer Aufhebungsverpflichtung entgegenstehen kann:

„Die Rechtssicherheit gehört zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten ist, trägt zur Rechtssicherheit bei. Daher verlangt das Gemeinschaftsrecht nicht, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen.“30

Die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte verbleibt folglich auch bei Unionsrechtsverstößen im Ermessen der Behörde.31 Der EuGH betont freilich zugleich, dass eine fallbezogene Abwägung zwischen den Interessen an Rechtssicherheit und an Rechtmäßigkeitsrestitution vorzunehmen ist. In spezifischen Fällen kann letzteres überwiegen, die Mitgliedstaaten sind dann unionsrechtlich aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) zur Aufhebung verpflichtet und müssen ggf. ihre nationalen Verfahrensvorschriften entsprechend auslegen.32

Eine spezifische Ausnahme für das Rücknahmeermessen mitgliedstaatlicher Behörden formulierte der EuGH in seiner Rechtsprechung zur Rechtssache Kühne & Heitz. Danach ergibt sich grundsätzlich ein Anspruch auf Überprüfung und Rücknahme eines belastenden Verwaltungsakts bei Vorliegen folgender Bedingungen (sog. Kühne & Heitz-Doktrin)33:

(1) Die Behörde hat die Befugnis zur Aufhebung des Verwaltungsakts. 

(2) Die Bestandskraft ist Folge eines unanfechtbaren (letztinstanzlichen) Urteils, d.h. der Adressat hat alle ihm verfügbaren Rechtsschutzmöglichkeiten gegen den Verwaltungsakt genutzt. 

(3) Das letztinstanzliche Gericht hat in seinem Urteil das Unionsrecht falsch ausgelegt und von der Möglichkeit der Vorlage nach Art. 267 UAbs. 3 AEUV keinen Gebrauch gemacht. 

(4) Zu einem späteren Zeitpunkt ergibt sich in einem anderen Rechtsstreit durch eine Entscheidung des EuGH, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist. 

(5) Der Adressat wendet sich unmittelbar nach Kenntnis von der späteren EuGH-Entscheidung, aus der sich die Unionsrechtswidrigkeit des Verwaltungsakts ergibt, an die zuständige Behörde. 

Bei Vorliegen dieser – offenkundig sehr engen – Voraussetzungen muss die Behörde den bestandskräftigen Verwaltungsakt prüfen und in der Regel aufheben. Sie kann dazu das Verfahren wieder aufgreifen (§ 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 VwVfG).34

Fallbeispiel35

Das Exportunternehmen K&H liefert Geflügelteile in Drittstaaten. Für eine solche Auslieferung ist nach dem EU-Zolltarif (einer EU-Verordnung) eine Ausfuhrsubvention zu gewähren. Die Höhe der Subvention bestimmt sich danach, in welche Zollkategorie die betreffende Ware fällt. Nachdem die Geflügelteile zunächst in einer höher subventionierten Kategorie eingeordnet waren, änderte die zuständige Behörde ihre Einschätzung und stufte die Ware in eine niedrige Kategorie herab. Die aus ihrer Sicht nun zu viel gezahlten Subventionen verlangte die Behörde in einem Rückforderungsbescheid heraus. Hiergegen wendete sich K&H vor den nationalen Gerichten, welche die Einordnung aufrechterhielten und die Frage nicht dem EuGH vorlegten, wodurch der Rückforderungsbescheid rechtskräftig wurde. Nach dem Abschluss des Verfahrens entschied der EuGH in einem vergleichbaren Fall, dass Geflügelteile der von K&H geforderten Kategorie zuzuordnen sein. In der Folge rief K&H erneut die nationalen Gerichte an, woraufhin diese dem EuGH die Frage vorlegten, ob ein rechtskräftiger Verwaltungsakt zur Gewährleistung der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts aufgehoben werden könne. Diese Frage bejahte der EuGH bei Vorliegen der oben genannten Kriterien.

2. Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte 

Die Möglichkeit zur Rücknahme eines unionsrechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts wird insbesondere bei Beihilfen relevant. Darum drehte sich auch die Rechtssache Alcan36: Das Land Rheinland-Pfalz hatte dem Aluminiumhersteller Alcan entgegen den unionsrechtlichen Vorschriften (Art. 107 f. AEUV) eine Subvention bewilligt und ausgezahlt. Die von der Kommission eingeforderte Rückforderung unterließ das Land zunächst. Nach vier Jahren stellte sich schließlich die Frage, ob der Bewilligungsbescheid noch auf Grundlage des § 48 VwVfG zurückgenommen werden kann. 

Grundsätzlich bleibt es auch insoweit bei einem Rücknahmeermessen der Behörden (§ 48 Abs. 1 VwVfG). Bei einem Verstoß gegen zwingende Vorschriften des Unionsrechts, wie dem Beihilferecht, ist zur Effektuierung der Unionsrechtsordnung allerdings der Rechtmäßigkeitsrestitution ein besonderes Gewicht beizumessen. Das Ermessen für die Rücknahme eines Verwaltungsakts ist entsprechend auszuüben, mitunter sogar auf Null reduziert.37 Der Vertrauensschutz nach § 48 Abs. 2 VwVfG kann auch über die in Satz 3 genannten Fälle mitunter zurücktreten, um dem Unionsrecht zur Durchsetzung zur verhelfen. 

Die Rücknahmefrist des § 48 Abs. 4 VwVfG findet auch bei einer Unionsrechtswidrigkeit Anwendung. Etwas anderes soll allerdings gelten, wenn – wie im Fall Alcan – für den Beihilfeempfänger die Unionsrechtswidrigkeit erkennbar war und die nationale Behörde die Frist nach § 48 Abs. 4 VwVfG sehenden Auges verstreichen lässt. Dann ist § 48 Abs. 4 VwVfG unangewendet zu lassen.38 Denn 

„diese Situation [kann] nicht mit derjenigen gleichgesetzt werden, in der ein Wirtschaftsteilnehmer nicht weiß, ob die zuständige Behörde eine Entscheidung treffen wird, und in der der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt, daß diese Ungewißheit nach Ablauf einer bestimmten Frist beendet wird.“39

III. Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch

Weiterführende Literaturhinweise

Ausf. und übersichtlich bei Calliess, Staatsrecht III, 4. Aufl. 2022, § 8 Rn. 68a ff.

Lorenzen/Effinger, Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch in der Klausurbearbeitung, JURA 2024, 247 ff.


Was passiert, wenn ein Privater einen finanziellen Schaden erleidet, weil der Mitgliedstaat es versäumt hat, seinen unionsrechtlichen Pflichten nachzukommen, etwa eine Richtline umzusetzen? Während die Haftung der Organe und Bediensteten der Union in Art. 340 UAbs. 2 AEUV normiert ist, fehlt eine ausdrückliche Bestimmung für die Haftung der Mitgliedstaaten für Unionsrechtsverstöße. Dass eine solche Haftung allerdings notwendig ist, lässt sich aus dem Ziel der Effektuierung der Unionsrechtsordnung begründen, weiter sind die Grundsätze des effektiven Rechtsschutzes (Art. 47 GRCh) und der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) zu bedenken. In der Konsequenz hat der EuGH eine Haftung der Mitgliedstaaten in seinem Francovich-Urteil40 richterrechtlich entwickelt und in der Folgerechtsprechung konkretisiert. Heute ist eine umfassende Haftung aller staatlichen Stellen in Bezug auf die gesamte Unionsrechtsordnung41 anerkannt. Nicht einheitlich beantwortet wird, ob es sich bloß um Maßgaben handelt, nach denen die nationale Anspruchsgrundlage für eine Staatshaftung – in Deutschland Art. 34 S. 1 GG i.V.m. § 839 BGB – ausgelegt und angewandt werden muss.42 Oder aber ob der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch ein eigenständiger Anspruch ist.43 Zumindest für eine Klausurlösung ist letzteres vorzugswürdig. Ein Haftungsanspruch kommt regelmäßig nur in Betracht, soweit ein Primärrechtsschutz nicht erfolgversprechend ist. So wird in einer Klausur regelmäßig zunächst zu prüfen sein, ob hier eine durch einen Mitgliedstaat nicht ordnungsgemäß umgesetzte Richtlinie unmittelbar anwendbar ist. Wenn dies zu verneinen ist, insbesondere im Verhältnis zwischen Privaten (keine horizontale Direktwirkung von Richtlinien), verbleibt nur ein Staatshaftungsanspruch. 

Dann sind die folgenden Haftungsvoraussetzungen zu prüfen:

1. Hinreichend qualifizierter Unionsrechtsverstoß

Zunächst bedarf es der Verletzung einer Unionsrechtsnorm durch eine staatliche Stelle. Dabei kommt es nicht weiter darauf an, ob diese der Exekutive, der Legislative oder der Judikative angehört. 

Der EuGH macht allerdings insoweit eine Einschränkung, als nur eine qualifizierte Verletzung individueller Interessen zur Haftung führen kann.44 Die Intensität der Verletzung ist in einer Gesamtschau zu beurteilen.45 Für eine hohe Intensität spricht insbesondere die Genauigkeit und Unbedingtheit der Vorschrift. Auch kann hier ein Verschulden als Indiz für eine Qualifikation des Unionsrechtsverstoßes angeführt werden, es ist jedoch keine Voraussetzung.46 Darin liegt ein wesentlicher Unterschied des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs zum deutschen Amtshaftungsanspruch (Art. 34 S . 1 GG i.V.m. § 839 BGB). 

Bezüglich der Anforderungen an den Verstoß ist ferner nach dem Urheber zu unterscheiden: Verstöße des Gesetzgebers hängen maßgeblich vom eingeräumten Ermessensspielraum ab. So ist die Nichtumsetzung einer Richtlinie – als besonders klausurrelevanter Fall – stets ein hinreichender Verstoß47, wohingegen bei fehlerhafter Umsetzung der eingeräumte Ermessensspielraum, also die Bestimmtheit der Richtlinie zu untersuchen ist. Fehlverhalten der Verwaltung ist wegen Ermessensreduktionen unter diesem Gesichtspunkt oftmals hinreichend qualifiziert. Zu beachten bleibt dann aber insbesondere, ob der Verstoß vermeidbar war. Auch eine Rechtsverletzung durch die Rechtsprechung ist grundsätzlich möglich. Dies setzt allerdings zum einen voraus, dass es sich um eine letztinstanzliche Entscheidung handelt. Zum anderen muss die gerichtliche Entscheidung offenkundig gegen Unionsrecht verstoßen.48

2. Verletzte Rechtsnorm bezweckt den Schutz subjektiver Rechte

Weitere Voraussetzung ist, dass die verletzte Vorschrift den Schutz subjektiver Rechte bezweckt.49 Das bedeutet noch keine Einengung auf den Verstoß gegen Normen, die subjektive Rechte verleihen. Anderenfalls wäre insbesondere die Nichtumsetzung von Richtlinien kein Haftungsfall, weil diese mangels unmittelbarer Anwendbarkeit noch keine Rechte begründen können.50 Der Zweck der betroffenen Norm ist durch Auslegung zu ermitteln, wobei das Verständnis umfassender ist als nach der deutschen Schutznormlehre. Es genügt, dass dem Mitgliedstaat oder einem Unionsorgan eindeutig eine positive oder negative Verpflichtung gegenüber der/dem Einzelnen auferlegt wird, diese muss nicht als Recht formuliert sein.51

3. Schaden

Die- bzw. derjenige, die/der den Haftungsanspruch geltend macht, muss einen Schaden erlitten haben. 

4. Kausalität zwischen Schädigung und Schaden

Zuletzt ist ein Kausal- und Zurechnungszusammenhang zwischen der Verletzungshandlung und dem Schaden erforderlich. Dabei sind Äquivalenz- und Adäquanztheorie heranzuziehen. Es ist also der Zweck der verletzten Vorschrift zu berücksichtigen, insbesondere ob diese einen Schutz vor dem verwirklichten Risiko vermitteln soll. 

Fallbeispiel52

D hatte im Hauptbahnhof Mailand mit K einen Vertrag über einen Englisch-Sprachkurs abgeschlossen. Erst wenig später merkt sie, dass sie daran aus Zeitgründen nicht teilnehmen kann. Das in Art. 9 Abs. 1 der Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU vorgesehene Widerrufsrecht für solche Verträge hatte Italien bis zum Fristablauf nicht in nationales Recht umgesetzt. Eine unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie unter Privaten scheidet aus (siehe Einheit 2). Bleibt D jetzt auf den Kosten sitzen und gereicht ihr damit das Versäumnis des italienischen Staates zum Nachteil? Der italienische Gesetzgeber hat hier seine Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie verletzt. Im Unterlassen jedweder Umsetzung liegt ein hinreichend qualifizierter Verstoß. Da die Norm auch den Schutz der D bezweckt und D durch die Nicht-Umsetzung ein Schaden entstanden ist, kommt ihr ein Staatshaftungsanspruch gegen Italien zu. 

5. Rechtsfolge: Haftung nach nationalem Recht

Liegen die Voraussetzungen vor, so bestimmt sich die Haftungsfolge – ebenso wie die Verjährung53 – nach nationalem Recht.54 Folglich ist bei Ansprüchen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland auf §§ 249 ff. BGB zurückzugreifen. Auch die gerichtliche Zuständigkeit ist nicht unionsrechtlich vorgegeben und bestimmt sich nach nationalem Recht. Insofern ist für den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch aufgrund der abdrängenden Sonderzuweisung gemäß § 40 Abs. 2 S. 1 Var. 3 VwGO die ordentliche Gerichtsbarkeit (genauer: die Landgerichte, § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG) zuständig.55


  1. Vgl. etwa EuGH, C‑619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 46 – Polen/Kommission. ↩︎
  2. Ikonisch Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 33: „Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist in dreifacher Hinsicht ein Phänomen des Rechts: Sie ist Schöpfung des Rechts, sie ist Rechtsquelle und sie ist Rechtsordnung.“ ↩︎
  3. Überblick über sonstige Rechtshandlungen in Haag/Kotzur, in: Bieber u.a., Die Europäische Union, 15. Aufl. 2023, § 6 Rn. 39 ff. ↩︎
  4. Schröder, Grundkurs Europarecht, 8. Aufl. 2024, § 6 Rn. 74 ff. ↩︎
  5. Vgl. Krajewski/Rösslein, in Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hg.), Das Recht der EU, Art. 296 AEUV Rn. 50 f. (Stand: 2024). ↩︎
  6. Vgl. Börzel, Why Noncompliance, 2021, S. 103. ↩︎
  7. Vertiefend dazu etwa Lange, Exekutive Rechtssetzung in der Europäischen Union, JuS 2019, 759 ff. ↩︎
  8. Vgl. nur Schweitzer/Dederer, Staatsrecht III, 13. Aufl. 2025, Rn. 861. ↩︎
  9. Schroeder, in: Streinz (Hg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 288 AEUV Rn. 45 f. ↩︎
  10. Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 9. Aufl. 2021, § 9 Rn. 100. ↩︎
  11. EuGH, C-429/09, ECLI:EU:C:2010:717 Rn. 39 – Fuß. ↩︎
  12. EuGH, C-688/15 u.a., ECLI:EU:C:2018:209 Rn. 109 – Anisimovienė. ↩︎
  13. EuGH, C‑316/22, ECLI:EU:C:2024:301 Rn. 26 – Gabel Industria Tessile SpA u.a. ↩︎
  14. Vgl. etwa EuGH, C-261/20, ECLI:EU:C:2022:33 Rn. 32 ff. – Thelen Technopark BerlinC-715/20, ECLI:EU:C:2024:139 Rn. 76 – KL. ↩︎
  15. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 13. Aufl. 2023, Rn. 377. ↩︎
  16. Nach EuGH, C-91/02, ECLI:EU:C:1994:292 – Faccini Dori↩︎
  17. EuGH, C-414/16, ECLI:EU:C:2018:257 Rn. 77 – Egenberger. ↩︎
  18. Kokott, Zur unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts, AöR 148 (2023), 496 (511). ↩︎
  19. Vgl. EuGH, 314/85, ECLI:EU:C:1987:452 Rn. 20 – Foto-Frost: „Auf die erste Frage ist somit zu antworten, daß die nationalen Gerichte nicht befugt sind, selbst die Ungültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane festzustellen.“ ↩︎
  20. Zu beachten ist, dass Durchführungsrechtsakte (Art. 291 Abs. 2 AEUV) und delegierte Rechtsakte (Art. 290 Abs. 1 AEUV) als „Tertiärrecht“ grds. im Rang unter dem Sekundärrecht stehen.  ↩︎
  21. Ausf. Falllösung dazu bei Badenhoop, ZR-Examensklausur zur Herstellergarantie im unionsrechtlichen Kontext: Richtlinienkonforme Auslegung, Vorabentscheidungsverfahren und Staatshaftung, JURA 2024, 73 (78 ff.). ↩︎
  22. Ausf. und lesenswert Kirchhefer-Lauber, Nachhaltigkeit im deutschen Kaufrecht zwischen Verbraucherschutz, Ökodesign-VO und Warenreparatur-RL, JuS 2024, 915 ff. ↩︎
  23. Vgl. EuGH, C-268/06, ECLI:EU:C:2008:223 Rn. 100 – Impact. ↩︎
  24. BGHZ 179, 27 Rn. 26. ↩︎
  25. Siehe dazu Einheit 2 C. III., vertiefend Kahl, in: ders./Ludwigs (Hg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2021, § 37 Rn. 51. ↩︎
  26. Vgl. EuGH, C-58/94, ECLI:EU:C:1996:171 Rn. 38 – Niederlande/Rat. ↩︎
  27. Vgl. EuGH, C-156/91, ECLI:EU:C:1992:423 Rn. 19 f. – Hansa Fleisch Ernst Mundt GmbH & Co. KG. ↩︎
  28. Vgl. nur Wahl/Schütz, in: Schoch/Schneider (Hg.), Verwaltungsrecht, § 42 Abs. 2 VwGO Rn. 45 (Stand: 2021) m.w.N. ↩︎
  29. EuGH, C-237/07, ECLI:EU:C:2008:447 Rn. 37 – Janecek. ↩︎
  30. EuGH, C-453/00, ECLI:EU:C:2004:17 Rn. 24 – Kühne & Heitz; auch EuGH, C-249/11, ECLI:EU:C:2012:608 Rn. 76 – Byankov. ↩︎
  31. Müller, in: Bader/Ronellenfitsch (Hg.), BeckOK VwVfG, 64. Ed. 2024, § 48 Rn. 141. ↩︎
  32. Vgl. EuGH, C-249/11, ECLI:EU:C:2012:608 Rn. 82 – Byankov. ↩︎
  33. EuGH, C-453/00, ECLI:EU:C:2004:17 Rn. 28 – Kühne & Heitz. ↩︎
  34. Näher Ludwigs/Pascher, Die Europäisierung des Verwaltungsrechts in der Fallbearbeitung, JuS 2022, 497 (501). ↩︎
  35. Nach EuGH, C-453/00, ECLI:EU:C:2004:17 Rn. 28 – Kühne & Heitz. ↩︎
  36. EuGH, C-24/95, ECLI:EU:C:1997:163 – Alcan. ↩︎
  37. Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hg.), VwVfG, 10. Aufl. 2023, § 48 Rn, 271. ↩︎
  38. Vgl. Ludwigs/Pascher, Die Europäisierung des Verwaltungsrechts in der Fallbearbeitung, JuS 2022, 497 (498). ↩︎
  39. EuGH, C-24/95, ECLI:EU:C:1997:163 Rn. 35 – Alcan. ↩︎
  40. EuGH, C-6/90, ECLI:EU:C:1991:428 – Francovich. ↩︎
  41. Mit Ausnahme des intergouvernementalen Unionsrechts. ↩︎
  42. Frenz/Götkes, Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung, JA 2009, 759 (764); Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 9. Aufl. 2021, § 14 Rn. 13. ↩︎
  43. BGHZ 134, 30 ff.Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 21. Aufl. 2024, § 31 Rn. 10.  ↩︎
  44. Lorenzen/Effinger, Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch in der Klausurbearbeitung, JURA 2024, 247 (252). ↩︎
  45. EuGH, C-620/17, ECLI:EU:C:2019:630 Rn. 42 – Hochtief Solutions. ↩︎
  46. EuGH, C‑571/16, ECLI:EU:C:2018:807 Rn. 127 – Kantarev. ↩︎
  47. EuGH, C-178/94, ECLI:EU:C:1996:375 Rn. 29 – Dillenkofer u.a. ↩︎
  48. EuGH, C-168/15, ECLI:EU:C:2016:602 Rn. 24 – Tomášová. ↩︎
  49. EuGH, C-6/90, ECLI:EU:C:1991:428 Rn. 40 – Francovich. ↩︎
  50. Otto, Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch, Ad Legendum 2019, 116 (118). ↩︎
  51. EuGH, C-61/21, ECLI:EU:C:2022:1015 Rn. 46 – JP. ↩︎
  52. Basierend auf EuGH, C-91/92, ECLI:EU:C:1994:292 – Faccini Dori. ↩︎
  53. BVerwGE 168, 220 Rn. 27. ↩︎
  54. EuGH, C-6/90, ECLI:EU:C:1991:428 Rn. 42 – Francovich. ↩︎
  55. Auch Ehlers/Schneider, in: Schoch/Schneider (Hg.), Verwaltungsrecht, § 40 VwGO Rn. 542 (Stand: 2024). ↩︎