Gliederung
A. Zwei Gerichtssysteme und eine umfassende Rechtsschutzgarantie
B. Rechtsschutz vor den Unionsgerichten
II. Vertragsverletzungsverfahren
C. Rechtsschutz vor den mitgliedstaatlichen Gerichten
I. Mitgliedstaatliche Gerichte als funktionale Unionsgerichte
II. Vorabentscheidungsverfahren als Verkopplungsmechanismus
D. Inkurs: Der EuGH als gesetzlicher Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG
A. Zwei Gerichtssysteme und eine umfassende Rechtsschutzgarantie
Rechtsschutz im Hinblick auf eine Verletzung des Unionsrechts ist auf zwei Ebenen zu erreichen: Auf europäischer Ebene besteht eine eigene Unionsgerichtsbarkeit in Gestalt des Gerichtshofs der Europäischen Union (GHEU) mit Sitz in Luxemburg. Dieser besteht seinerseits aus dem Gerichtshof (EuGH) und dem Gericht (EuG), Art. 19 Abs. 1 S. 1 EUV.
Hinweis: Auf diese feine sprachliche Differenzierung ist Acht zu geben. Wenn etwa Art. 263 UAbs. 1 AEUV vom „Gerichtshof der Europäischen Union“ spricht, so resultiert daraus allein die Zuständigkeit der Unionsgerichtsbarkeit insgesamt. Erst aus Art. 256 AEUV ergibt sich eine genauere Zuständigkeitsabgrenzung zwischen EuGH und EuG.
Vor dem EuG und dem EuGH sind verschiedene Rechtsschutzverfahren für unmittelbare Klagen eingerichtet, am bedeutsamsten (und examensrelevant) sind die Nichtigkeitsklage und das Vertragsverletzungsverfahren. Ist Rechtsschutz vor den Unionsgerichten nicht eröffnet oder ersucht eine Bürgerin oder ein Unternehmen Rechtsschutz gegen mitgliedstaatliches Handeln, sind die nationalen Gerichte zuständig. Diese fungieren insoweit als „funktionale Unionsgerichte“. Grundsätzlich bleiben die beiden Gerichtssysteme getrennt, die Unionsgerichte sind also nicht etwa eine Superrevisionsinstanz, die – vergleichbar dem EGMR – nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs angerufen werden können. Gleichwohl ist die EU offenkundig daran interessiert, dass sich nicht in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Verständnisse des Unionsrechts durch unterschiedliche Gerichtspraktiken etablieren, das Unionsrecht also kohärent ausgelegt wird und in allen Mitgliedstaaten die gleiche Wirkung hat.1 Zur Verkopplung der mitgliedstaatlichen Gerichte mit den Unionsgerichten ist daher ein Vorabentscheidungsverfahren eingerichtet.
Die EU vertraut somit weitgehend auf einen dezentralen Rechtsschutz durch die mitgliedstaatlichen Gerichte. Es ist Aufgabe jedes Mitgliedstaats, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Modalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der der/dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten.2
B. Rechtsschutz vor den Unionsgerichten
Weiterführende Literaturhinweise
Lorenzen, Grundlagen des Europarechts (Teil V): Europäischer Rechtsschutz, JURA 2022, 415 ff.
Mächtle, Die Gerichtsbarkeit der Europäischen Union, JuS 2014, 508 ff.
I. Nichtigkeitsklage
Weiterführende Literaturhinweise
Mächtle, Individualrechtsschutz in der Europäischen Union, JuS 2015, 28 ff.
Frenz/Distelrath, Klagegegenstand und Klagebefugnis von Individualnichtigkeitsklagen nach Art. 263 IV AEUV, NVwZ 2010, 162 ff.
Mit der Nichtigkeitsklage, normiert in Art. 263 AEUV, lassen sich Handlungen der Unionsorgane auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen. Umfasst sind dabei sowohl Gesetzgebungsakte als auch sonstige Handlungen. Versucht man einen Vergleich zum deutschen Recht zu ziehen, erfüllt die Nichtigkeitsklage mithin sowohl die Funktion einer Normenkontrolle als auch einer Anfechtungsklage.
1. Zulässigkeit
a) Zuständiges Gericht
Aus Art. 263 UAbs. 1 AEUV ergibt sich nur die allgemeine Zuständigkeit der Unionsgerichtsbarkeit für die Nichtigkeitsklage. Maßgeblich für die Abgrenzung der Zuständigkeiten von EuGH und EuG ist Art. 256 Abs. 1 AEUV. Danach liegt die Zuständigkeit für Nichtigkeitsklagen grundsätzlich beim EuG. In der Satzung des Gerichtshofs (GHEU-Satzung), die als Protokoll zu den Verträgen erlassen wurde (Art. 281 UAbs. 1 AEUV), können allerdings von diesem Grundsatz Ausnahmen vorgesehen werden (Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 a.E. AEUV). Von dieser Möglichkeit wurde durch Art. 51 GHEU-Satzung Gebrauch machen. Danach sind insbesondere die Klagen eines Mitgliedstaats (lit. a) und eines Unionsorgans (lit. b) gegen einen Gesetzgebungsakt direkt dem EuGH zugewiesen.
b) Klageberechtigung
Bezüglich der Klageberechtigten ist zu unterscheiden: Art. 263 UAbs. 2 AEUV normiert die Klageberechtigung der Mitgliedstaaten (Staatennichtigkeitsklage) und des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (Organnichtigkeitsklage). Art. 263 UAbs. 3 AEUV erklärt – kaum klausurrelevant – weitere Organe für klageberechtigt. Nach Art. 263 UAbs. 4 AEUV kann schließlich auch jede natürliche oder juristische Person Klage erheben.
c) Klagegegenstand
Tauglicher Klagegegenstand der Nichtigkeitsklage sind Handlungen von Unionsorganen, die dazu geeignet und bestimmt sind Rechtswirkungen zu erzeugen. Insbesondere sind damit die Rechtsakte des Art. 288 UAbs. 2 – 4 AEUV (Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse; nicht hingegen: Empfehlungen und Stellungnahmen) tauglicher Gegenstand einer Nichtigkeitsklage. Aber auch andere Handlungen sind umfasst, sofern sie Rechtswirkungen nach außen entfalten.
d) Richtiger Beklagter
Die Nichtigkeitsklage ist ein kontradiktorisches Verfahren. Richtiger Beklagter ist das Organ, das für den Klagegegenstand verantwortlich zeichnet. Bei Gesetzgebungsakten, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren verabschiedet werden, bedarf es der Zustimmung sowohl des Europäischen Parlaments als auch des Rates der EU (vgl. Art. 294 AEUV). Entsprechend ist eine Nichtigkeitsklage hier auch gegen beide Organe zu erheben.
e) Klagebefugnis
Die Klagebefugnis richtet sich nach der oben beschriebenen Unterscheidung der Klageberechtigten. Gemäß Art. 263 UAbs. 2 AEUV müssen Mitgliedstaaten und Unionsorgane keine besondere Verletzung in eigenen Rechten geltend machen. Sie sind daher „privilegierte Kläger“. Nicht privilegiert sind – neben den in Art. 263 UAbs. 3 AEUV genannten besonderen Unionsorganen – natürliche und juristische Personen, Art. 263 UAbs. 4 AEUV. Hier tritt zum Vorschein, dass die Nichtigkeitsklage nicht nur das Ziel einer objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle, sondern auch des subjektiven Individualrechtsschutzes verfolgt.3
Eine Individualnichtigkeitsklage ist daher nur zulässig, wenn eine von drei Varianten vorliegt:
1. Die Maßnahme ist an den Kläger gerichtet. Eine solche Adressatenstellung kommt insbesondere bei Beschlüssen in Betracht.
2. Die Maßnahme betrifft den Kläger unmittelbar und individuell. Unmittelbare Betroffenheit setzt eine Beeinträchtigung ipso facto und ohne weitere Durchführungsmaßnahmen voraus. Bei Richtlinien kann dies anzunehmen sein, wenn dem Mitgliedstaat bei der Umsetzung keinerlei Ermessen zusteht.4 Individuelle Betroffenheit ist nach der Plaumann-Formel anzunehmen, wenn die Handlung den Kläger
„wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten [eines individualgerichteten Beschlusses]“5.
Dazu müssen Anzahl und Identität der Adressaten im Moment der Beschlussfassung abschließend feststehen. Allein dass sich aus einer Verordnung Rechtsfolgen für den Kläger ergeben, genügt hingegen nicht. Diese Formel engt den Rechtsschutz stark ein und wird – insbesondere unter Hinweis auf Konflikte mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes – vielfältig kritisiert.6 Der EuGH hält aber an ihr fest.
3. Die Klage wendet sich gegen einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter, also einen delegierten Rechtsakt (Art. 290 Abs. 1 AEUV) oder einen Durchführungsrechtsakt (Art. 291 Abs. 2 AEUV),7 der ihn unmittelbar betrifft und keine Durchführungshandlungen8 nach sich zieht. Diese Konstellation tritt nur sehr selten auf.
Fallbeispiel9
In einer EU-Verordnung wird für ein bestimmtes Gebiet festgesetzt, dass Maschenöffnungen der zum Fischen verwendeten Netze eine gewisse Mindestgröße aufweisen müssen. Fischfangreederei A sieht sich dadurch in ihrer unternehmerischen Freiheit gemäß Art. 16 GRCh verletzt und macht dies im Wege der Nichtigkeitsklage geltend. Fraglich ist, ob eine Klagebefugnis besteht. A trägt im Verfahren vor, dass sie gemäß Art. 263 Abs. 4 Var. 2 AEUV unmittelbar und individuell betroffen sei. Sie fische als einzige in großem Stil in der regulierten Zone. Zudem fische sie als einzige nach Fischen, für die eine geringere Maschenöffnungsgröße notwendig sei. Durch die angeordnete Vergrößerung der Maschenöffnungen würde ihr Fang in erheblichem Umfang reduziert. Der EuGH schließt sich der Argumentation der A nicht an: A sei lediglich ein Beispiel der durch die Verordnung generell-abstrakt betroffenen „Wirtschaftsteilnehmer“, von denen es – zumindest potenziell – auch andere geben kann. Sie sei daher nicht individuell betroffen.
f) Geltendmachung eines Nichtigkeitsgrunds
Der Kläger muss, anknüpfend an die französische Tradition, das Vorliegen eines Nichtigkeitsgrunds geltend machen, Art. 263 UAbs. 2 AEUV nennt dazu vier Klagegründe: „Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung der Verträge oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmissbrauchs“. In der Praxis wie in einer Klausur ist zu prüfen, ob die von der Klägerin geltend gemachten Rügen sich unter eine dieser Kategorien subsumieren lassen. Dabei ist ein weites Verständnis zugrunde zu legen: Unter den Klagegrund „Unzuständigkeit“ fallen sowohl die Verbandskompetenz der EU als auch die Organkompetenz des handelnden Organs. „Wesentliche Formvorschriften“ sind alle Verfahrens- und Formvorschriften, die gerade zum Schutz des Klägers bestimmt sind oder deren Verletzung sich zumindest potenziell auf das Verfahrensergebnis auswirkt. Dem Klagegrund „Verletzung der Verträge oder einer bei [ihrer] Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm“ lässt sich letztlich jede Unvereinbarkeit mit höherrangigem (materiellem) Unionsrecht zuordnen. Ermessensmissbrauch meint die Zweckentfremdung einer Kompetenz.
g) Klagefrist und -form
Die Nichtigkeitsklage unterliegt gemäß Art. 263 UAbs. 6 AEUV einer Frist von zwei Monaten ab Bekanntgabe oder Kenntniserlangung. Bei Rechtsakten kommt es insoweit auf den Tag der Veröffentlichung im Amtsblatt an.
Zur Vertiefung: Die EU verpflichtet sich durch Art. 45 UAbs. 1 GHEU-Satzung den großen Entfernungen in einer EU der 27 Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen. Gemäß Art. 59 VerfO EuG bzw. Art. 50 VerfO EuGH beginnt die Frist daher erst 14 Tage nach Veröffentlichung im Amtsblatt. Zudem wird gemäß Art. 60 VerfO EuG bzw. Art. 51 VerfO EuGH bei der Fristberechnung – bei allen Klagegegenständen – pauschal eine Verlängerung von weiteren zehn Tagen gewährt. Da das Amtsblatt mittlerweile in elektronischer Form geführt wird und Klagen seit 2011 elektronisch eingereicht werden können, ist die Begründung für diese Verlängerungen freilich nicht mehr ganz zeitgemäß.
Fällt das Fristende rechnerisch auf einen Samstag oder Sonntag, so wird es – wie im deutschen Recht – auf den darauffolgenden Werktag verschoben (Art. 58 Abs. 2 VerfO EuG bzw. Art. 49 Abs. 2 VerfO EuGH).
Formerfordernisse, die in einer Klausur kaum einmal zu thematisieren sein dürften, ergeben sich aus Art. 21 GHEU-Satzung und Art. 120 VerfO EuGH.
h) Rechtsschutzbedürfnis
Das Rechtsschutzbedürfnis ist nur bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte zu prüfen. Es entfällt grundsätzlich, soweit der Klagegegenstand aufgehoben oder der Mangel beseitigt ist. Ausnahmen hiervon sind jedoch anzunehmen, wenn Wiederholungsgefahr besteht, die Rechtsfrage von grundlegender Bedeutung ist oder die Verurteilung des Unionsorgans die Grundlage eines Amtshaftungsanspruchs des Klägers begründet.10
2. Begründetheit
Eine Nichtigkeitsklage ist begründet, soweit für den angefochtenen Rechtsakt einer der in Art. 263 UAbs. 2 AEUV genannten Nichtigkeitsgründe vorliegt. Entsprechend ist auch in der Begründetheit ein Aufbausachgerecht, der sich an diesen vier Nichtigkeitsgründen orientiert: Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung der Verträge oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm, Ermessensmissbrauch. Im Unterschied zu deutschen Gerichten prüft der GHEU nicht umfänglich. Er beschränkt sich insbesondere bei den letzten beiden Klagegründen (Verletzung der Verträge und Ermessensmissbrauch) auf die Überprüfung der vorgebrachten Rügen im Hinblick auf die in der Klageschrift benannten Rechtsnormen,11 es gilt insofern ein Beibringungsgrundsatz. So ist es auch in einer Klausur zu handhaben. In der ersten juristischen Prüfung dürften allerdings stets alle Rechtsprobleme im Sachverhalt angelegt sein. Für die Begründetheit nicht notwendig ist der Nachweis einer individuellen Rechtsverletzung. Sie ist daher nicht zu prüfen.
Soweit die Klage nicht nur zulässig, sondern auch begründet ist, erklärt das Gericht die angefochtene Handlung gemäß Art. 264 UAbs. 1 AEUV für nichtig. Für Verordnungen und Richtlinien bedeutet dies, dass diesen nicht nur ex tunc, sondern auch gegenüber jedermann (erga omnes) keine Rechtswirkung mehr zukommt.
II. Vertragsverletzungsverfahren
Weiterführender Literaturhinweis
Gurreck/Otto, Das Vertragsverletzungsverfahren, JuS 2015, 1079 ff.
Während sich die Nichtigkeitsklage gegen das Handeln der Union richtet, stehen beim Vertragsverletzungsverfahren die Mitgliedstaaten im Fokus: Mit dem in den Art. 258 f. AEUV normierten Verfahren kann der Verstoß eines Mitgliedstaates gegen das Unionsrecht geltend gemacht werden. Prüfungsmaßstab ist, anders als der Begriff „Vertragsverletzungsverfahren“ vermuten lässt, das gesamte Primär- und Sekundärrecht.12
1. Zulässigkeit
a) Zuständiges Gericht
Für Vertragsverletzungsverfahren ist gemäß Art. 258 UAbs. 2, 259 UAbs. 1 AEUV wiederum der „Gerichtshof der Europäischen Union“ zuständig. Die spezifische Zuständigkeit des EuGH folgt aus einem Umkehrschluss aus Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV, der diese Verfahren gerade nicht dem EuG zuweist.
b) Beteiligtenfähigkeit
Ein Vertragsverletzungsverfahren kann zum einen die Kommission einleiten (sog. Aufsichtsklage, Art. 258 AEUV). Zum anderen sieht das Unionsrecht die Möglichkeit vor, dass ein Mitgliedstaat die Unionsrechtswidrigkeit des Handelns eines anderen Mitgliedstaats geltend macht. Eine solche Staatenklage (Art. 259 AEUV) hat etwa Österreich im Hinblick auf die Einführung einer PKW-Maut in Deutschland erhoben.13 Passiv beteiligtenfähig sind nur Mitgliedstaaten, denn bei unionsrechtswidrigem Handeln von Stellen der Union ist die Nichtigkeitsklage statthaft.
c) Ordnungsgemäßes Vorverfahren
Um eine „Anprangerung“ des vertragsbrüchigen Mitgliedstaates und die übermäßige Belastung der Gerichte zu vermeiden, ist für das Vertragsverletzungsverfahren stets die Durchführung eines Vorverfahrens vorgesehen. Dessen ordnungsgemäße Durchführung ist in einer Klausur zu prüfen. Bei der Aufsichtsklagehat die Kommission dazu zunächst ein Mahnschreiben an den Mitgliedstaat zu senden, in dem sie diesem den Vorwurf unionsrechtswidrigen Verhaltens eröffnet. Stellt der Mitgliedstaat den potenziellen Verstoß nicht ab, muss die Kommission im weiteren eine begründete Stellungnahme abgeben (Art. 258 UAbs. 1 Hs. 1 AEUV), die mit einer Fristsetzung für den Mitgliedstaat verbunden ist. Erst soweit diese Frist fruchtlos verstrichen ist, kann die Kommission gemäß Art. 258 UAbs. 2 AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten.
Bei der deutlich selteneren Staatenklage muss ein Mitgliedstaat, wenn er die Unionsrechtsverletzung eines anderen Mitgliedstaats rügen möchte, gemäß Art. 259 UAbs. 2 AEUV zunächst die Kommission damit befassen. Diese gibt dann in einem Anhörungsverfahren den beteiligten Staaten Gelegenheit zur Äußerung. Sie agiert insofern als eine Art Schiedsrichter, bringt aber keine eigenen Gesichtspunkte in das Verfahren ein. Im Anschluss verfasst sie eine Stellungnahme (Art. 259 UAbs. 3 AEUV). Dann kann der Mitgliedstaat – unabhängig davon, ob die Kommission den Vorwurf für begründet erachtet – den EuGH anrufen. Um eine Blockade durch die Kommission zu vermeiden, kann der Mitgliedstaat ebenso ein gerichtliches Vertragsverletzungsverfahren anstrengen, wenn die Kommission eine Stellungnahme drei Monate nicht abgegeben hat, Art. 259 UAbs. 4 AEUV.
d) Klagegegenstand
Tauglicher Klagegegenstand ist jedes mitgliedstaatliche Handeln oder Unterlassen, wobei das Verhalten aller staatlichen Einrichtungen zugerechnet werden kann. Dieses Handeln oder Unterlassen muss nach der Einlassung des Klägers – entgegen dem missverständlichen Wortlaut: „Verpflichtung aus den Verträgen“ – eine beliebige Norm des Unionsrechts verletzen.14 Gemäß dem sog. Kontinuitätsgebot ist der Klagegegenstand auf die Erwägungen aus dem Vorverfahren beschränkt. Weitergehende Forderungen sind unzulässig, eine Einschränkung ist hingegen möglich.15
e) Klageform
Formerfordernisse ergeben sich wiederum aus Art. 21 GHEU-Satzung und Art. 120 VerfO EuGH.
2. Begründetheit
Eine Vertragsverletzungsklage ist begründet, soweit der Mitgliedstaat durch die gerügte Handlung gegen das Unionsrecht verstoßen hat. Die rechtliche Kontrolle ist dabei auf die geltend gemachten Rechtsverstöße beschränkt, der EuGH nimmt also keine umfassende Kontrolle vor.
Folge einer begründeten Vertragsverletzungsklage ist ein Feststellungsurteil: Der EuGH stellt den Unionsrechtsverstoß des Mitgliedstaats fest. Dieser hat sodann gemäß Art. 260 Abs. 1 AEUV die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um den Verstoß zu beseitigen. Die Festsetzung eines zu zahlenden Pauschalbetrags oder eines Zwangsgelds (Art. 260 Abs. 2 und 3 AEUV) kann ggf. den notwendigen Druck bewirken, damit dem Urteil nachgekommen wird.
C. Rechtsschutz vor den mitgliedstaatlichen Gerichten
I. Mitgliedstaatliche Gerichte als funktionale Unionsgerichte
1. Umfassender Prüfungsmaßstab mitgliedstaatlicher Gerichte
Wird Unionsrecht – was der Regelfall ist (vgl. Art. 291 Abs. 1 AEUV) – von nationalen Stellen durchgeführt, ist gegen derartige Vollzugsakte Rechtsschutz grundsätzlich vor den mitgliedstaatlichen Gerichten zu suchen. Ergeht also ein Verwaltungsakt durch eine deutsche Behörde auf Grundlage einer EU-Verordnung, so ist dagegen regelmäßig eine Anfechtungsklage vor dem örtlichen Verwaltungsgericht statthaft. Die mitgliedstaatlichen Gerichte haben dann über die Rechtmäßigkeit des nationalen Vollzugsakts (auch) anhand des Unionsrechts zu befinden (funktionale Unionsgerichte). Diese Zuweisung ist insofern sinnvoll, als die Union vielfach nur Teilbereiche regelt. Entscheidungsbedürftige Sachverhalte zeichnen sich daher oft durch eine „Mischung“ des Maßstabs aus Unions- und nationalem Recht aus.
Zur Vertiefung: Eine besondere Situation ergibt sich, wenn eine unmittelbar anwendbare („self-executing“) Norm in einem deutschen Rechtsakt gegen Unionsrecht verstößt. Einzelne haben nach den deutschen Prozessordnungen – abgesehen von der Normenkontrolle gemäß § 47 VwGO – vielfach keine Möglichkeit, die Wirksamkeit von Rechtsnormen gerichtlich überprüfen zu lassen. Um gleichwohl die Effektivität des Unionsrechts zu sichern, wird die Feststellungsklage gemäß § 43 VwGO herangezogen. Der Kläger kann insoweit Feststellung beantragen, dass eine unmittelbar anwendbare nationale Rechtsnorm auf einen ihn betreffenden Sachverhalt keine Anwendung findet (bzw. ihre Anwendung ihn in seinen Rechten verletzt), weil sie gegen Unionsrecht verstößt. Inzident ist dann im Rahmen der Feststellungsklage zu prüfen, ob und inwieweit der Anwendungsvorrang des Unionsrechts einer Anwendung einer unionsrechtswidrigen nationalen Rechtsnorm entgegensteht (sog. „heimliche Normenkontrolle“).
2. Anforderungen an mitgliedstaatliche Gerichte
Weiterführende Literaturhinweise
Payandeh, Das unionsverfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip, JuS 2021, 481 ff.
Britz, Kontextabhängige Bewertung der Rechtsstaatlichkeit von Justizreformen, NJW 2023, 2819 ff.
Die Union ist zur Durchsetzung ihres Rechts mithin weitgehend auf die mitgliedstaatlichen Gerichte angewiesen. In der Folge können jedoch Reibungen entstehen, weil der Rechtsschutz auf mitgliedstaatlicher Ebene etwa nicht hinreichend effektiv ist oder weil Rechtsschutz in den Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet ist. Dem Unionsrecht sind daher bestimmte Anforderungen zu entnehmen. So verlangt Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV als Konkretisierung des Werts der Rechtsstaatlichkeit gemäß Art. 2 S. 1 EUV, dass die Mitgliedstaaten die für einen wirksamen Rechtsschutz erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen. Sie müssen dazu Gerichte einrichten, Zuständigkeiten bestimmen und Verfahrensmodalitäten regeln.16 Aus dem Erfordernis eines „wirksamen Rechtsschutzes“ werden weiter Anforderungen wie die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter:innen abgeleitet.17 Darüber hinausgehend ist in Art. 47 UAbs. 2 GRCh das Recht auf eine faire und öffentliche Verhandlung in angemessener Frist vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht grundrechtlich verankert.
Diese Voraussetzungen haben durch rechtsstaatliche Kontroversen, insbesondere im Hinblick auf Polen und Ungarn, zuletzt vermehrt Aufmerksamkeit erfahren (und könnten daher Gegenstand mündlicher Prüfungen sein). Der EuGH hat dabei stets die Bedeutung der Unabhängigkeit der Gerichte betont.18 Notwendig sind insofern insbesondere eine hinreichende Besoldung19 und eine grundsätzliche Unabsetzbarkeit20 der Richter. Im Hinblick auf die deutschen Gerichte beschloss das VG Wiesbaden 2019 eine Vorlage an den EuGH.21 Darin hinterfragte es die hinreichende Unabhängigkeit vom Justizministerium des Landes Hessen, das u.a. über die Ernennung und Beförderung von Richter:innen und die EDV-Ausstattung der hessischen Gerichte disponiere. Der EuGH stellte aber keinen Verstoß fest.22
Fallbeispiel23
Polen erließ Vorschriften, wonach Vorlageersuchen an die Unionsgerichte in gewissen Fällen unzulässig seien. Verstöße hiergegen können als Disziplinarvergehen durch die (nicht unabhängig) besetzte und agierende Disziplinarkammer gewertet werden. Die Kommission rügte einen Verstoß gegen Art. 267 UAbs. 2 und 3 AEUV sowie gegen Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV wegen der Behinderung von Vorabentscheidungsfragen. Der EuGH stellte daraufhin fest, dass eine nationale Vorschrift, die „insbesondere die Gefahr birgt, dass ein nationaler Richter lieber darauf verzichtet, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen“, die Befugnisse nach Art. 267 AEUV beschneidet und die Unabhängigkeit der Richter:innen gemäß Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV über Gebühr beschränkt. Bestimmungen, die ermöglichen, Disziplinarverfahren gegen Richter aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens einzuleiten, sind daher unzulässig.
II. Vorabentscheidungsverfahren als Verkoppelungsmechanismus
Weiterführende Literaturhinweise
Mächtle, Das Vorabentscheidungsverfahren, JuS 2015, 314 ff.
Strunk, Die Vorlagepflicht an den EuGH, JuS 2024, 833 ff.
Überlässt die EU den Mitgliedstaaten die gerichtliche Durchsetzung des Unionsrechts, so birgt dies die Gefahr von Inkohärenzen. Dieser Gefahr wirkt das Vorabentscheidungsverfahren entgegen (Art. 267 AEUV), mit dem während eines nationalen Gerichtsverfahrens auf Anfrage des mitgliedstaatlichen Gerichts eine Zwischenentscheidung eines Unionsgerichts eingeholt werden kann. Etwa zwei Drittel der vor der Unionsgerichtsbarkeit anhängigen Rechtssachen sind Vorabentscheidungsverfahren. Sie spielen damit nicht nur in der Praxis eine bedeutsame Rolle. Die Prüfung eines solchen Zwischenverfahrens ist auch regelmäßiger Gegenstand europarechtlicher Klausuren.
1. Zulässigkeit
a) Zuständiges Gericht
Die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen EuG und EuGH ergibt sich aus Art. 256 Abs. 3 UAbs. 1 AEUVi.V.m. der GHEU-Satzung. Seit dem 1.9.202424 ist gemäß Art. 50b der GHEU-Satzung das EuG für Vorabentscheidungsersuchen zuständig, die ausschließlich bestimmte Sachgebiete betreffen, etwa den Zollkodex. Diese Gebiete dürften keine Klausurrelevanz haben. Im Übrigen bleibt es im Umkehrschluss bei einer Zuständigkeit des EuGH.
b) Vorlagegegenstand
Es ist zwischen einer Auslegungs- und einer Gültigkeitsvorlage zu unterscheiden. Bei der Auslegungsvorlage fragt das mitgliedstaatliche Gericht nach der Auslegung eines Unionsrechtsakts, sei es der Verträge (Art. 267 UAbs. 1 lit. a AEUV), sei es einer Verordnung, Richtlinie oder eines anderen Rechtsakts (Art. 267 UAbs. 1 lit. b AEUV). Das mitgliedstaatliche Gericht möchte insoweit wissen, wie die Union nach ihrem autonomen Verständnis das Unionsrecht interpretiert. Das Vorabentscheidungsverfahren stellt insoweit die einheitliche Anwendung des Unionsrechts durch Kooperation sicher. Diese Klärung ist in der Folge Grundlage, um die Unionsrechtskonformität einer nationalen Rechtsnorm, die Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits ist, bewerten zu können und diese entweder entsprechend auszulegen oder – falls dies nicht möglich ist – unangewendet zu lassen (Anwendungsvorrang des Unionsrechts). Zu berücksichtigen ist, dass der GHEU allein eine Anweisung zur Auslegung des Unionsrechts gibt. Er entscheidet weder über die Bedeutung des Unionsrechts im Ausgangsrechtsstreit noch über die Auslegung nationalen Rechts und/oder dessen Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht.25 Die Vorlagefrage darf daher weder auf den Ausgangsfall Bezug nehmen (nicht: „Findet die Richtlinie auf den Kläger A Anwendung?“) noch unmittelbar nach der Auslegung deutschen Rechts fragen (nicht: „Ist die Regelung des § 439 Abs. 6 i.V.m. § 346 Abs. 2 BGB vor dem Hintergrund des Art. 14 Abs. 4 Richtlinie [EU] 2019/771 teleologisch zu reduzieren?“). Die Frage ist vielmehr abstrakt zu formulieren – wobei das nationale Recht umschrieben werden kann.26 Der GHEU formuliert Fragen ggf. um.
Fallbeispiel27
Vorlagefragen sind aufgrund ihrer gewundenen Formulierung häufig nicht auf den ersten Blick eingängig. Ihre Formulierung könnte insbesondere in mündlichen Prüfungen eine Prüfungsfrage darstellen. Zur Veranschaulichung dient folgendes Beispiel:
Auf eine Klage der Deutschen Umwelthilfe verpflichtete das VG München den Freistaat Bayern, für die Einhaltung des für die Stadt München aufgestellten Luftreinhalteplans (der auf einer EU-Richtlinie basiert) Sorge zu tragen, u.a. durch die Anordnung von Fahrverboten. Da der Freistaat dieser Verpflichtung nicht fristgerecht nachkam, setzte das Verwaltungsgericht zunächst ein Zwangsgeld fest, welches der Freistaat beglich. In der Folge erklärte der Ministerpräsident, dass er der Pflicht zur Einführung von Fahrverboten trotzdem nicht nachkommen wolle. Die Deutsche Umwelthilfe beantragte die Anordnung von Zwangshaft gegen den Ministerpräsidenten. Der damit im Weiteren befasste Bayerische VGH stellte sich die Frage, ob die Anordnung einer Zwangshaft unionsrechtlich geboten sei. Er legte dem EuGH folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:
Sind das in Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV verankerte Gebot, dem zufolge die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen zu ergreifen haben, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben, [und weitere EU-Normen des Primärrechts] so auszulegen, dass ein deutsches Gericht berechtigt – und gegebenenfalls sogar verpflichtet – ist, gegenüber Amtsträgern eines deutschen Bundeslandes Zwangshaft anzuordnen, um auf diese Weise die Verpflichtung dieses Bundeslandes zur Fortschreibung eines Luftqualitätsplans im Sinne von Art. 23 der Richtlinie 2008/50 mit einem bestimmten Mindestinhalt durchzusetzen, wenn dieses Bundesland rechtskräftig verurteilt wurde, eine Fortschreibung mit diesem Mindestinhalt vorzunehmen, und mehrere gegenüber dem Bundesland vorgenommene Zwangsgeldandrohungen und Zwangsgeldfestsetzungen fruchtlos geblieben sind [und vier weitere Kriterien vorliegen]?
Bei der Gültigkeitsvorlage geht es regelmäßig um die Frage, ob ein Sekundärrechtsakt mit dem Primärrecht vereinbar und damit „gültig“ ist. Die mitgliedstaatlichen Gerichte sind nach der Rechtsprechung des EuGH nicht befugt, selbst einen Unionsrechtsakt außer Anwendung zu lassen. Der EuGH behält sich insofern eine Monopolstellung vor (sog. Foto-Frost-Doktrin).28
c) Vorlageberechtigung
Vorlageberechtigt sind gemäß Art. 267 UAbs. 2 AEUV Gerichte eines Mitgliedstaats. Der Begriff des Gerichts ist dabei autonom unionsrechtlich auszulegen, Kriterien sind etwa eine gesetzliche Grundlage der Einrichtung, der ständige Charakter, die Behandlung streitiger Verfahren und die Unabhängigkeit.29 Alle deutschen staatlichen Gerichte erfüllen unzweifelhaft diese Kriterien. In Grenzfällen, etwa Schiedsgerichten und Beschlusskammern bei Verwaltungsbehörden, ist anhand der genannten Kriterien eine genauere Prüfung zu unternehmen.
Fallbeispiel30
Dem EuGH wurde von der Unabhängigen Schiedskommission in Wien, die Entscheidungen der Österreichischen Anti-Doping Rechtskommission überprüft, die Frage vorgelegt, ob die Information über einen Dopingverstoß eines Sportlers ein Gesundheitsdatum i.S.d. Art. 9 DSGVO darstellt. Damit ist die Frage aufgeworfen, ob die Unabhängige Schiedskommission ein Gericht i.S.d. Art. 267 UAbs. 2 AEUV darstellt. Sie ist gesetzlich und dauerhaft eingerichtet. Sie wird als zweite Instanz in streitigen Dopingverfahren tätig, etwa um eine verhängte Wettkampfsperre zu überprüfen. Fraglich ist aber ihre Unabhängigkeit. Dazu müsste sie zum einen den Parteien in der gebotenen Neutralität gegenübertreten. Zum anderen darf sie keiner anderen Stelle hierarchisch verbunden sein, sie muss also vor Interventionen von außen geschützt sein. Der österreichische Sportminister hat die Möglichkeit, Mitglieder der Unabhängigen Schiedskommission „aus wichtigen Gründen“ vorzeitig abzuberufen. Dieser unbestimmte Begriff sichert nicht die notwendige Unabhängigkeit. Es handelt sich nicht um ein Gericht i.S.d. Art. 267 UAbs. 2 AEUV, die Vorlage ist unzulässig.31
d) Entscheidungserheblichkeit
Die Vorlage muss weiter entscheidungserheblich sein. Das Vorabentscheidungsverfahren dient also nicht der Klärung allgemeiner oder hypothetischer Fragen, sondern die Beantwortung der Vorlagefrage muss für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlich sein.32 Während die Unionsgerichte diese Entscheidungserheblichkeit vermuten, sollte sie in einer Klausur kurz begründet werden. Dazu ist durch eine Gegenüberstellung aufzuzeigen, dass (hypothetische) unterschiedliche Entscheidungen über die Gültigkeit oder die Auslegung zu einem unterschiedlichen Ergebnis im Ausgangsrechtsstreit führen.
e) Ordnungsgemäße Vorlage
Die Vorlage ist gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 1 GHEU-Satzung vom vorlegenden Gericht an den EuGH zu übermitteln. Dieser leitet nach einer Vorprüfung das Verfahren ggf. an das EuG weiter. Weitere inhaltliche Anforderungen ergeben sich aus Art. 94 VerfO EuGH (Darstellung des Sachverhalts, der nationalen Vorschriften etc.), die in einer Klausur wohl stets vorliegen.
2. Beantwortung der Vorlagefrage(n)
Sodann ist die gestellte Vorlagefrage bzw. sind die gestellten Vorlagefragen zu beantworten. Bei der Auslegungsvorlage können dabei im Einklang mit der Rechtsprechung der Unionsgerichte33 zunächst die „klassischen“ Auslegungsmethoden angewandt werden. Es ist mithin anhand des Wortlauts, der Genese und Historie, der Systematik und des Telos der Vorschrift die vorzugswürdige Auslegung der Unionsrechtsnorm zu bestimmen. Für die Wortlautauslegung besteht die – in einer Klausur kaum abzubildende – Besonderheit, dass Unionsrechtsnormen in allen 24 Amtssprachen gleichermaßen verbindlich sind. Bei der teleologischen Auslegung ist zu bedenken, dass die Unionsgerichte regelmäßig besonderen Wert auf die Effektuierung des Unionsrechts legen (effet utile). Neben diese klassischen Auslegungsmethoden tritt zum einen die primärrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts. Richtlinien und Verordnungen sind also möglichst so zu interpretieren, dass sie im Einklang mit EUV, AEUV und GRCh stehen. Die Auslegung des Unionsgerichts ist für das mitgliedstaatliche Gericht bei der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits bindend. Inwieweit darüber hinaus auch andere mitgliedstaatliche Stellen und Gerichte an die Auslegung gebunden sind, ist umstritten34 – zumindest eine faktische Ausstrahlungswirkung besteht aber.
Bei der Gültigkeitsvorlage ist die Unionsrechtskonformität des Sekundärrechtsakts vollumfänglich zu prüfen. Liegt ein Verstoß vor, so hebt das Unionsgericht den Akt auf und er ist auch im Ausgangsrechtsstreit nicht mehr zu berücksichtigen.
D. Inkurs: Der EuGH als gesetzlicher Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG
Weiterführende Literaturhinweise
Thüsing/Pötters/Traut, Der EuGH als gesetzlicher Richter i.S. von Art. 101 I 2 GG, NZA 2010, 930 ff.
Calliess, Der EuGH als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes, NJW 2013, 1905 ff.
I. Vorlagepflicht
Stellt sich in einem innerstaatlichen Rechtsstreit eine unionsrechtlich relevante Frage, so kann das Gericht selbstinitiativ (ggf. auf Anregung der Parteien) die Frage den Unionsgerichten vorlegen. Zumindest in zwei Fällen ergibt sich aus dem Unionsrecht eine darüber hinausgehende Vorlagepflicht:
Im Hinblick auf die Auslegungsvorlage ist gemäß Art. 267 UAbs. 3 AEUV das letztinstanzliche Gericht zur Vorlage verpflichtet. Dabei kommt es auf den konkreten Rechtsstreit an, in Deutschland sind regelmäßig BGH, BVerwG etc. letztinstanzliche Gerichte.35 Dass es für die Revision, wie im Verwaltungsprozessrecht, einer Zulassung bedarf, ändert daran nichts.36 Die Vorlagepflicht der letztinstanzlichen Gerichte soll verhindern, dass sich eine spezifische nationale Rechtsprechung in einem Mitgliedstaat herausbildet, die mit den Normen des Unionsrechts und deren Verständnis in anderen Mitgliedstaaten nicht vollkommen im Einklang steht.37 Eine Ausnahme von der Vorlagepflicht besteht nur bei Fragen, die der EuGH in einem gleichgelagerten Fall bereits beantwortet hat und zu denen daher eine gesicherte unionsgerichtliche Rechtsprechung vorliegt (acte éclairé) oder wenn die Auslegung derart offensichtlich ist, dass kein Raum für Zweifel über die richtige Auslegung und Anwendung bleibt (acte claire).38 Diese Ausnahmen werden als „C.I.L.F.I.T.-Kriterien“ bezeichnet.39
Bei der Gültigkeitsvorlage besteht stets eine Vorlagepflicht. Denn nach der sog. Foto-Frost-Doktrin darf – wie ausgeführt – kein Gericht einen Unionsrechtsakt selbst außer Anwendung lassen, selbst wenn es ihn für mit höherrangigem Unionsrecht für unvereinbar hält.40
II. Durchsetzung
Unterbleibt eine gerichtliche Vorlage entgegen den unionsrechtlichen Vorgaben, sieht das Unionsrecht für die Prozessbeteiligten keine Möglichkeit vor, diese zu erzwingen.41 In diese Rechtsschutzlücke stößt das BVerfG, indem es anerkannt hat, dass auch der GHEU ein gesetzlicher Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG sein kann. Mithin ist die unterlassene Vorlage trotz Vorlagepflicht eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und im Wege der Verfassungsbeschwerde gerügt werden. Um gleichwohl nicht zu einem „obersten Vorlagenkontrollgericht“ zu werden, hat das BVerfG seinen Prüfungsmaßstab zurückgenommen. Eine Verletzung liegt daher nur bei einem willkürlichen Absehen von einer Vorlage vor, mithin wenn
(1) das Gericht trotz angenommener Entscheidungserheblichkeit eine Vorlage überhaupt nicht in Betracht zieht (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht),
(2) das Gericht in Bezug auf entscheidungserhebliche Fragen bewusst von der EuGH-Rechtsprechung abweicht und gleichsam nicht vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft)
(3) oder wenn eine entscheidungserhebliche Frage bisher vom EuGH nicht oder nicht vollständig beantwortet worden ist, eine Fortentwicklung der EuGH-Rechtsprechung möglich erscheint und das Gericht die Frage unter Überschreitung seines Beurteilungsspielraums selbst beantwortet (Unvollständigkeit der Rechtsprechung).42
Fallbeispiel43
A war seit 30 Jahren bei der T-GmbH angestellt, als die Gesellschaft ihre Auflösung beschloss. Die notwendige Massenentlassung zeigte die Gesellschaft nach § 17 KSchG bei der Agentur für Arbeit an. A erhob daraufhin Kündigungsschutzklage und machte geltend, die Massenentlassungsanzeige sei nicht ordnungsgemäß erfolgt, da zum Zeitpunkt der Anzeige das von Art. 2 der Massenentlassungsrichtlinie geforderte Konsultationsverfahren zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber noch nicht abgeschlossen gewesen sei. Das Arbeitsgericht wies die Klage des A ab, Berufung und Revision blieben erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte A nunmehr die Verletzung seines Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Das Bundesarbeitsgericht habe es unterlassen, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob Art. 2 der Massenentlassungsrichtlinie so auszulegen sei, dass vor einer Massenentlassungsanzeige das Konsultationsverfahren abgeschlossen sein muss. Das BVerfG gibt der Verfassungsbeschwerde statt, da das BAG jegliche Ausführungen dazu vermissen ließ, ob die „maßgebliche Frage [des Unionsrechts] bereits durch den EuGH entschieden ist oder warum die richtige Antwort auf diese Rechtsfrage offenkundig sein soll“44.
- Vgl. EuGH, C‑561/19, ECLI:EU:C:2021:799 Rn. 27 f. – Consorzio Italian Management u.a. ↩︎
- EuGH, C-911/19, ECLI:EU:C:2021:599 Rn. 61 f. – Fédération bancaire française (FBF). ↩︎
- Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 13. Aufl. 2023, Rn. 495. ↩︎
- Ausf. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 263 AEUV Rn. 36 ff. ↩︎
- EuGH, 25/62, Slg. 1963, 199 (238) – Plaumann. ↩︎
- Siehe nur Calliess, Kohärenz und Konvergenz beim europäischen Individualrechtsschutz, NJW 2002, 3577 (3579 f.); Christiansen/Masche, Klimarechtsschutz und Paradoxien beim EuGH – Warum die Plaumann-Formel nicht mehr zeitgemäß ist, ZEuS 2023, 31 ff.; Winter, Not fit for purpose. Die Klagebefugnis vor dem Europäischen Gericht angesichts allgemeiner Gefahren, EuR 2022, 367 ff. ↩︎
- Ein Gesetzgebungsakt (also eine Verordnung, Richtlinie oder Beschluss, die in einem Gesetzgebungsverfahren ergangen ist [Art. 289 Abs. 3 AEUV]), fällt gerade nicht unter den Begriff des „Rechtsakts mit Verordnungscharakter“ des Art. 263 UAbs. 4 Var. 3 AEUV, vgl. EuGH, C‑583/11 P, ECLI:EU:C:2013:625 Rn. 61 – Inuit Tapiriit Kanatami u.a. ↩︎
- Mit dieser Variante wird letztlich eine mögliche Rechtsschutzlücke geschlossen. Bedarf es Durchführungshandlungen durch ein Unionsorgan, so kann dagegen grds. im Wege der Nichtigkeitsklage vorgegangen werden. Bedarf es Durchführungshandlungen eines Mitgliedstaats, so ist der nationale Rechtsweg zu beschreiten, ggf. kommt dabei ein Vorabentscheidungsverfahren in Betracht. ↩︎
- Basierend auf EuGH, C-263/02 P, ECLI:EU:C:2004:210 – Jégo-Quéré. ↩︎
- Ruffert/Grischek/Schramm, Europarecht im Examen – Rechtsschutz vor den europäischen Gerichten, JuS 2022, 814 (816). ↩︎
- Näher zum Ganzen Himmer, Die Geltendmachung der Nichtigkeitsgründe nach Art. 263 AEUV, NVwZ 2022, 1512 ff. ↩︎
- Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hg.), Das Recht der EU, Art. 258 AEUV Rn. 29 (Stand: 2018). ↩︎
- Vgl. EuGH, C-591/17, ECLI:EU:C:2019:504 – Österreich/Deutschland. ↩︎
- Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 258 AEUV Rn. 27. ↩︎
- Gurreck/Otto, Das Vertragsverletzungsverfahren, JuS 2015, 1079 (1080 f.). ↩︎
- EuGH, C-911/19, ECLI:EU:C:2021:599 Rn. 61 f. – Fédération bancaire française (FBF). ↩︎
- Vgl. nur EuGH, C-204/21, ECLI:EU:C:2023:442 Rn. 70 – Kommission/Polen; C-554/21 u.a., ECLI:EU:C:2024:594 Rn. 47 ff. – HANN‑INVEST u.a. ↩︎
- Vgl. nur EuGH, C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924 Rn. 105 f. – Kommission/Polen; C-146/23, ECLI:EU:C:2025:109 Rn. 47 – XL/Sąd Rejonowy w Białymstoku u.a. ↩︎
- EuGH, C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 45 – Associação Sindical dos Juízes Portugueses; C-146/23, ECLI:EU:C:2025:109 Rn. 59 – XL/Sąd Rejonowy w Białymstoku u.a. ↩︎
- EuGH, C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924 Rn. 112 ff. – Kommission/Polen; C-487/19, ECLI:EU:C:2021:798 Rn. 111 ff. – W.Ż. ↩︎
- VG Wiesbaden, Vorlagebeschluss v. 28.3.2019, 6 K 1016/15.WI. ↩︎
- EuGH, C-272/19, ECLI:EU:C:2020:535 Rn. 42 ff. – VQ. ↩︎
- Basierend auf EuGH, C-791/19, ECLI:EU:C:2021:596 – Kommission/Polen; Entscheidungsbesprechung bei Streinz, JuS 2021, 1201 ff. ↩︎
- Ausf. zu den Änderungen Mundhenke, Modernisierung des europäischen Verfahrensrechts, EuZW 2024, 950 ff. ↩︎
- Vgl. EuGH, C-582/21, ECLI:EU:C:2024:282 Rn. 54 f. – Profi Credit Polska. ↩︎
- Näher dazu Latzel/Streinz, Das richtige Vorabentscheidungsersuchen, NJOZ 2013, 97 (101 ff.). ↩︎
- Basierend auf EuGH, C-752/18, ECLI:EU:C:2019:1114 – Deutsche Umwelthilfe; Vorlagefrage im Wortlaut in Rn. 28. ↩︎
- EuGH, C-314/85, ECLI:EU:C:1987:452 Rn. 17 – Foto-Frost. ↩︎
- EuGH, C‑453/20, ECLI:EU:C:2022:341 Rn. 41 – CityRail. ↩︎
- Nach EuGH, C-115/22, ECLI:EU:C:2024:384 – SO. ↩︎
- EuGH, C-115/22, ECLI:EU:C:2024:384 Rn. 54, 57 – SO. ↩︎
- EuGH, C-558/18, ECLI:EU:C:2020:234 Rn. 44 – Miasto Łowicz. ↩︎
- Vgl. etwa EuGH, C-673/17, ECLI:EU:C:2019:801 Rn. 48 – Planet49 GmbH. ↩︎
- Zu den verschiedenen Positionen Kottmann, in: Karpenstein/Kotzur/Vasel (Hg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, 4. Aufl. 2024, § 10 Rn. 130. ↩︎
- Die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf. Deswegen liegt darin kein Rechtsmittel, das das BVerfG stets zu einem letztinstanzlichen Gericht machen würde. Ist aber ein Verfahren vor dem BVerfG, so agiert dieses letztinstanzlich und ist insofern ggf. vorlageverpflichtet. ↩︎
- Vgl. EuGH, C-144/23, ECLI:EU:C:2024:881 Rn. 39 – KUBERA. ↩︎
- EuGH, C‑416/17, ECLI:EU:C:2018:811 Rn. 109 – Kommission/Frankreich. ↩︎
- Vgl. nur EuGH, C‑561/19, ECLI:EU:C:2021:799 Rn. 51 – Consorzio Italian Management; C-144/23, ECLI:EU:C:2024:881 Rn. 36 – KUBERA. Ausf. zur Vorlagepflicht Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hg.), Das Recht der EU, Art. 267 AEUV Rn. 54 ff. (Stand: 2024). ↩︎
- Urspr. EuGH, C-283/81, ECLI:EU:C:1982:335 Rn. 14, 16 – C.I.L.F.I.T. ↩︎
- EuGH, C-314/85, ECLI:EU:C:1987:452 Rn. 17 – Foto-Frost. ↩︎
- Möglich ist die Feststellung einer Vertragsverletzung im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens, vgl. EuGH, C-416/17, ECLI:EU:C:2018:811 Rn. 114 – Kommission/Frankreich. ↩︎
- BVerfGE 126, 286 (316 f.). ↩︎
- Nach BVerfG, NJW 2010, 1268 ff. ↩︎
- BVerfG, NJW 2010, 1268 Rn. 24. ↩︎