Grundrechtsschutz in Europa: GG, EMRK und GrCh


Gliederung


A. Grundrechtsarchitektur in Deutschland 

Der Grundrechtsschutz in Deutschland ist durch seine Mehrdimensionalität und die daraus resultierenden Wechselwirkungen der verschiedenen Rechtsquellen gekennzeichnet. Als Fundament auf nationaler Ebene dient das Grundgesetz und die dortige umfassende Grundrechtsbindung der deutschen Hoheitsgewalt (Art. 1 Abs. 3 GG). Daneben sind die (Bundes-)Länder an ihre jeweilige Landesverfassung gebunden, die vielfach eigene Grundrechtskataloge enthalten.[1]

Der nationale Grundrechtsschutz wurde durch einen 1950 von Deutschland unterzeichneten und 1953 in Kraft getretenen völkerrechtlichen Vertrag, die Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), ergänzt, deren Einhaltung heute durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg überwacht wird. 

Parallel dazu stieg mit der Zeit die Bedeutung des gemeinschaftsrechtlichen/unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes. Zunächst sahen die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft keinen Grundrechtskatalog vor. In Reaktion auf die fortschreitende europäische Integration und den Wandel von einer wirtschaftlichen zu einer politischen Gemeinschaft sowie den damit einhergehenden Bedeutungszuwachs unionaler Rechtssätze etablierte der EuGH in seiner Rechtsprechung die „allgemeinen Grundsätze“. Hierdurch schuf der Gerichtshof nach und nach ungeschriebene Grundrechtsgarantien.[2] Diese allgemeinen Grundsätze sind heute in Art. 6 Abs. 3 EUV als Rechtsquelle primärrechtlich abgesichert und weiterhin geltendes Recht im Rang des Primärrechts. Ihre Bedeutung nimmt ab. Dies liegt vor allem darin begründet, dass im Jahr 2009 durch Verabschiedung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) eine Kodifikation unionalen Grundrechtsschutzes geschaffen und mit primärrechtlichem Rang ausgestattet wurde (Art. 6 Abs. 1 EUV). Dieser „Transfer“ eines typischen Strukturmerkmals von Verfassungsstaaten steht sinnbildlich für den immensen Fortschritt der europäischen Integration.[3]

Hinweis: In grundrechtlichen Prüfungsarbeiten dürfte insoweit vor allem die Beziehung der Grundrechtsebenen zueinander von Interesse sein. Wie wirkt sich die EMRK auf die Interpretation der Grundrechte des GG aus? In welchen Fällen ist die GRCh anwendbar und wie ist ihr Verhältnis zum GG? Welche Relevanz kommt der Rechtsprechung eines Gerichts in der Rechtsprechung eines anderen Gerichts zu? Daneben sind Konstellationen denkbar, in denen nach den Erfolgsaussichten einer Nichtigkeitsklage gegen unionale Sekundärrechtsakte (Art. 263 AEUV) – basierend auf der Verletzung von Unionsgrundrechten – gefragt ist.[4]

B. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)

Weiterführende Literaturhinweise

Cammareri, Die Bedeutung der EMRK und der Urteile des EGMR für die nationalen Gerichte, JuS 2016, 791 ff.

Lammich, Prüfungswissen zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte, JA 2023, 1019 ff.

Uerpmann-Wittzack, Die Bedeutung der EMRK für den deutschen und den unionalen Grundrechtsschutz, JURA 2014, 916 ff.


I. Gewährleistungen der EMRK

Die EMRK umfasst einen umfangreichen Gewährleistungskatalog an Freiheits- und Gleichheitsrechten. Von Relevanz (in der Rechtsprechung des BVerfG) sind etwa das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK)[5] und das Recht auf Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK)[6]. Erwähnenswert ist die im Vergleich zum Grundgesetz detailliertere Gewährleistung von Verfahrensrechten, insbesondere des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK)[7].

Hinweis: (Vertiefte) Kenntnisse der Rechtsprechung des EGMR zum Umfang der einzelnen Gewährleistungen der EMRK sind in der ersten juristischen Prüfung nicht erforderlich. Im Folgenden wird nur überblicksartig die dogmatische Verarbeitung innerhalb der Rechtsprechung des EGMR aufgezeigt, um die Rezeption der EGMR-Judikate durch das BVerfG und den EuGH besser erfassen zu können.

Die Konventionsrechte werden auf ihre Anwendbarkeit (Schutzbereich) sowie auf das Vorliegen einer Beschränkung (Eingriff) geprüft, die nach den Maßstäben der Konvention gerechtfertigt sein muss. Insoweit sind in Prüfungsarbeiten Kenntnisse der deutschen Grundrechtsdogmatik durchaus übertragbar, etwa im Hinblick auf Rechtfertigungserwägungen („pressing social need“) oder die je nach Eingriffsintensität und betroffenem Rechtsgut divergierenden Beurteilungsspielräume („margin of appreciation“) der Vertragsstaaten. Als Katalysator für die anhaltende Bedeutung der EMRK dient der Umstand, dass der EGMR die Gewährleistungen der Konvention als „living instrument“, mithin als „lebendig […] im Licht der heutigen Verhältnisse“[8] auslegt und somit eine zeitgemäße Anwendung sowohl im Hinblick auf zu entscheidende Wertungsfragen als auch auf die überhaupt in den Anwendungsbereich fallenden Sachverhalte ermöglicht.

II. Die EMRK im nationalen Recht 

Bei Anwendung der EMRK sind die aus ihrem Status als völkerrechtlichem Vertrag resultierenden Besonderheiten zu beachten. Die EMRK entfaltet innerstaatlich allein nach Maßgabe des Rechts der Vertragsparteien Wirkung.[9] Die Einhaltung der menschenrechtlichen „Mindeststandards“[10] – die tatsächlich keineswegs besonders niedrig sind – durch die Vertragsstaaten wird wiederum durch den EGMR völkerrechtlich verbindlich festgestellt. Von überragender Bedeutung ist insoweit die Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK), die nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs (Art. 35 Abs. 1 EMRK), einschließlich der Verfassungsbeschwerde, mit der Behauptung einer Verletzung von Konventionsrechten erhoben werden kann. 

Grundsätzlich ergibt sich die Einordnung völkerrechtlicher Verträge in die deutsche Normenhierarchie aus Art. 59 Abs. 2 GG. Verträge stehen demnach entsprechend dem Rang des Zustimmungsgesetzes im Rang eines Bundesgesetzes. Für die EMRK und alle ihre Zusatzprotokolle ist jeweils ein solch förmliches Bundesgesetz verabschiedet worden, womit die EMRK in die innerstaatliche Rechtsordnung als unmittelbar geltendes und unmittelbar anwendbares Recht inkorporiert wurde.[11] Die Konvention geht demnach Rechtsverordnungen nach Art. 80 Abs. 1 GG sowie dem Landesrecht nach Art. 31 GG vor und muss nach Art. 20 Abs. 3 GG durch Exekutive und Judikative beachtet werden. 

III. Die EMRK als Auslegungshilfe in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 

Diese formale Betrachtung wird jedoch dem Charakter der EMRK als „gemeineuropäische Grundrechtsverfassung“[12] nicht gerecht. Zudem erschwert es die Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen im Außenverhältnis und schenkt der besonderen Stellung, die das Grundgesetz in Art. 1 Abs. 2 GG dem internationalen Menschenrechtsschutz zuweist, nicht hinreichend Beachtung.[13] Das BVerfG geht daher in ständiger Rechtsprechung von einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes aus, dies verhilft der EMRK auch bei der Auslegung von Bundesgesetzen und des Grundgesetzes zur Relevanz.[14] Dogmatische Anknüpfungspunkte sieht das BVerfG in einer Zusammenschau der Präambel, Art. 1 Abs. 2, 24 Abs. 3, 25 und 59 Abs. 2 GG, wonach das Grundgesetz „von der Eingliederung des von ihm verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung“[15] ausgeht. 

Konkret wird die „Hochzonung“[16] erreicht, indem die zuständigen Stellen[17] – unter Einbeziehung des BVerfG – die EMRK als „Auslegungshilfe“[18] für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte des Grundgesetzes heranzuziehen haben. Den Judikaten des EGMR kommt dabei trotz einer grundsätzlichen inter-partes-Wirkung (vgl. Art. 46 EMRK) nach der Rechtsprechung des BVerfG über den entschiedenen Fall hinaus eine „faktische[] Orientierungs- und Leitfunktion[19] für die Auslegung der EMRK und somit auch für die Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu. Verstößt ein Bundesgesetz gegen Konventionsrechte – wie sie durch den EGMR interpretiert werden –, findet dies über die Prüfung des entsprechenden deutschen Grundrechts Eingang in eine grundrechtliche Klausur, die ein Verfahren vor dem BVerfG zum Gegenstand hat. 

Fallbeispiel[20]

Aufgrund eines Schreibens, in dem A den ehemaligen Finanzminister des Landes NRW als „rote Null“, die als „Genosse Finanzministerdarsteller dilettiert“ bezeichnet, wird A wegen Beleidigung nach § 185 StGB verurteilt. In seiner hiergegen erhobenen Verfassungsbeschwerde beruft sich A auf die Verletzung seiner Meinungsfreiheit. Das BVerfG führt aus, dass bei der Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Politikers und der Meinungsfreiheit des Verurteilten „auch Auslegung und Anwendung des Art. 10 Abs. 2 EMRK durch den EGMR zu berücksichtigen“ sei, wonach „die Grenzen zulässiger Kritik an Politikern weiter zu ziehen sind als bei Privatpersonen.“[21]

C. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh)

Weiterführende Literaturhinweise

Honer, Die Grundrechte der EU-Grundrechtecharta, JA 2021, 219 ff.

Honer, Die Geltung der EU-Grundrechte für die Mitgliedstaaten nach Art. 51 I 1 GRCh, JuS 2017, 409 ff.

Lorenzen, Grundlagen des Europarechts (Teil I): Europäische Grundrechte, JURA 2021, 482 ff.

Ruffert/Grischek/Schramm, Europarecht im Examen: Die Grundrechte, JuS 2020, 1022 ff.


I. Aufbau und Struktur 

Der Grundrechtsschutz der EU wird inzwischen maßgeblich durch die GRCh geprägt. 

Zur Vertiefung: Nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV garantiert die GRCh „Rechte, Freiheiten und Grundsätze“. Die GRCh kennt, anders als das deutsche Recht, unterschiedliche Kategorien: Grundrechte (Rechte und Freiheiten) sind gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRCh zu achten. Grundsätze sind demgegenüber einzuhalten und ihre Anwendung ist zu fördern. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass auch die Grundsätze verbindliches Primärrecht sind, anders als die Grundrechte jedoch keine subjektiven Rechte verschaffen. Sie enthalten lediglich objektiv-rechtliche Zielbestimmungen,[22] die den Mitgliedstaaten bei ihrer Umsetzung erhebliche Ermessensspielräume belassen und daher gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar sind. 

Die Unterscheidung hat in die Struktur der GRCh keinen Eingang gefunden, sie ist vielmehr nach thematisch-sachlichen Aspekten gegliedert. Ob es sich bei einer Bestimmung um einen Grundsatz oder ein Grundrecht handelt, ist daher durch Auslegung zu bestimmen.[23] Grundsätze kennzeichnet dabei vielfach die Einleitung „Die Union anerkennt und achtet […]“ (vgl. Art. 26, 34 Abs. 1 GRCh). 

Die Charta ist in sieben Titel gegliedert: An erster Stelle steht die Garantie der Menschenwürde, die in Titel I durch mehrere fundamentale Garantien näher ausgestaltet wird (etwa Recht auf Leben, Verbot der Folter). Daran schließen sich in Titel II tradierte Freiheitsgarantien an (Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Berufsfreiheit). Im Gegensatz zum Grundgesetz enthält die Charta allerdings kein der „allgemeinen Handlungsfreiheit“ vergleichbares Auffanggrundrecht, auch das „Recht auf Freiheit“ des Art. 6 GRCh kann aufgrund unterschiedlicher Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten nicht in diesem Sinne interpretiert werden.[24] In Titel III sind die Gleichheitsrechte niedergelegt, der vierte Titel umfasst Solidaritätsrechte, deren Kategorisierung schwer fällt, gefolgt von den Bürgerrechten des fünften Titels (z.B. Wahlrecht, Recht auf Zugang zu Dokumenten) und den justiziellen Rechten in Titel VI. Der letzte Titel beinhaltet allgemeine Bestimmungen (deren Heranziehung im Hinblick auf Aufbau und Argumentation in Prüfungen vielfach hilfreich ist) insbesondere über den Anwendungsbereich, allgemeine Schrankenregelungen und die Auslegung der Charta.

Die Grundrechte der Charta sind von ihren Adressaten zu „achten“ (Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRCh). Hieraus folgt, dass verschiedene Grundrechtsfunktionen durch die Charta gewährleistet werden, namentlich die abwehrrechtliche Dimension durch die Pflicht zum Unterlassen ungerechtfertigter Eingriffe, die Erfüllung positiver Handlungspflichten aus grundrechtlichen Ansprüchen und die gleichheitsrechtliche Dimension.[25]

II. Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte 

Besonders prüfungsrelevant ist die Frage der Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte. Nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh ist hinsichtlich der Reichweite der Bindung zwischen den „Organen, Stellen und sonstigen Einrichtungen der Union“ und den Mitgliedstaaten zu differenzieren. 

1. Organe, Stellen und sonstige Einrichtungen der Union

Die Organe der Union sind in Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV abschließend aufgezählt, der Ausdruck „Stellen und sonstige Einrichtungen der Union“ umfasst sämtliche der Union zurechenbare Einheiten, die durch die Verträge oder auf deren Grundlage (durch Sekundärrecht) geschaffen wurden.[26] Die Union ist somit bei allen Handlungen lückenlos an die Grundrechtecharta gebunden. Dies gilt im Übrigen auch für Maßnahmen, die außerhalb des EU-Rechtsrahmens liegen, etwa eine Mitwirkung der Union an einer Resolution des UN-Sicherheitsrats[27] oder der Abschluss von Verträgen durch juristische Personen des Völkerrechts unter Beteiligung der Europäischen Kommission (ESM)[28]

2. Mitgliedstaaten und die „Durchführung des Unionsrechts“ nach Art. 51 GRCh 

Während die Union ohne weitere Voraussetzungen an die Grundrechte der Charta gebunden ist, gestaltet sich die Rechtslage bezüglich der Mitgliedstaaten komplexer. Im Ausgangspunkt ist auf den Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh abzustellen, wonach die Charta „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt. Unproblematisch gestaltet sich die Definition des „Rechts der Union“: Hierzu ist das Primär,- Sekundär- (Richtlinien, Verordnungen) und Tertiärrecht (sog. Durchführungsrecht nach Art. 290, 291 AEUV) zu zählen. 

Umstritten war und ist hingegen, wann genau von einer Durchführung des Unionsrechts auszugehen ist. Jedenfalls dort, wo die Mitgliedstaaten lediglich als Ausführungsorgan des Unionsrechts auftreten, ihr Handeln also vollkommen unionsrechtlich determiniert ist, etwa bei der Implementierung von Richtlinien ohne Umsetzungsspielraum[29] oder dem Vollzug von Verordnungen oder Beschlüssen ohne Ermessen[30], besteht eine Bindung an die Unionsgrundrechte. Auf der anderen Seite unterfallen Sachverhalte mit reinem Inlandsbezug, die also keinerlei Bezugspunkte zum Unionsrecht aufweisen, offenkundig nicht dem Begriff der „Durchführung“.[31]

Noch vor Verabschiedung der GRCh hat sich der EuGH mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit die Mitgliedstaaten in Bereichen, in denen das Unionsrecht ihnen Spielräume belässt, an die allgemeinen Grundsätze gebunden sind. Eine Bindung nahm er großzügig an, sobald nationale Maßnahmen in den „Anwendungsbereich“ des Unionsrechts fielen.[32] Diese Rechtsprechung war von der Erkenntnis getragen, dass aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts in dessen Anwendungsbereich eine gerichtliche Kontrolle anhand nationaler Grundrechte (zumindest nach Auffassung des EuGH) versperrt ist und entsprechend keine wirksame Gewährleistung eines ausreichenden Grundrechtsschutzes bestehen würde. Für die GRCh hat der EuGH an den zu den allgemeinen Grundsätzen entwickelten Maßstäben in der Åkerberg-Fransson-Entscheidung festgehalten, wonach die Mitgliedstaaten „wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“ gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh verpflichtet sind.[33] Weiter noch seien keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass die [die] Grundrechte anwendbar wären“.[34] Der EuGH sah den Anwendungsbereich als eröffnet an, wenn die Mitgliedstaaten das Unionsrecht zu beachten haben – was aufgrund des fortgeschrittenen Integrationsstandes weitreichend der Fall ist. 

Diese Rechtsprechung hat teils scharfe Kritik erfahren.[35] Namentlich das BVerfG stellt auf eine „Determination“ eines Sachverhalts durch das Unionsrecht ab und spricht sich dezidiert dagegen aus, dass „jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrecht oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreiche“ um den Geltungsbereich der Grundrechtecharta zu eröffnen.[36] Von dieser Kritik wohl nicht unbeeindruckt hat der EuGH in der Folge seine Rechtsprechung angepasst, indem er den Begriff des Anwendungsbereichs präzisiert und komprimiert hat. Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung ist es nicht ausreichend, dass der Zusammenhang zwischen Unionsrecht und der fraglichen nationalen Maßnahme allein darin besteht, dass die jeweiligen Sachbereiche benachbart sind oder das Unionsrecht mittelbare Auswirkungen auf die nationale Maßnahme hat.[37] Stattdessen ist entscheidend, ob eine hinreichend bestimmte Verpflichtung aus dem Unionsrecht folgt.[38] Dies muss jeweils einzelfallbezogen bestimmt werden. 

3. Private 

Die Bindung Privater an die GRCh („unmittelbare Drittwirkung“) ist nicht abschließend geklärt. In der Rechtsprechung wurde vereinzelt eine solche Bindung angenommen: In der Rechtssache Bauer bezeichnete der EuGH das in Art. 31 Abs. 2 GRCh verankerte Recht auf bezahlten Jahresurlaub als „zwingend“ und wendete es unmittelbar für die Beurteilung einer zwischen Privaten getroffenen Vereinbarung an.[39] In der Entscheidung Egenberger hat der EuGH die Diskriminierungsverbote des Art. 21 Abs. 1 GRCh unmittelbar zur Anwendung gebracht.[40] Zuletzt hat der EuGH angenommen, dass sich aus Art. 47 GRCh auch für einen Rechtsstreit unter Privaten ergebe, dass Zugang zu einem effektiven Rechtsschutz gegeben sein muss.[41]Diese Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Grundrechte auf Streitigkeiten zwischen Privaten ist vom Gedanken der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts getragen. Nach Auffassung des EuGH steht der Wortlaut des Art. 51 GRCh einer Drittwirkung der Grundrechte jedenfalls nicht entgegen.

III. Schutzbereich der Grundrechte

Hinweis: Zwar ergeben sich große Parallelen, desungeachtet kann aber bei der Prüfung eines EU-Grundrechts nicht ohne weiteres auf die deutsche Grundrechtsdogmatik zurückgegriffen werden. Soweit möglich, sollte unter Heranziehung des Wortlauts der Charta und der bekannten grundlegenden Judikatur des EuGH zumindest sprachlich das Bild eines rein unionalen Verständnisses gezeichnet werden.

Die Freiheitsgrundrechte der Charta sind im bekannten Dreischritt (Schutzbereich – Eingriff – Rechtfertigung) zu prüfen.[42] Vorab ist auf den soeben dargestellten Anwendungsbereich der Charta (Art. 51 GRCh) einzugehen.[43] Dieser Prüfungsschritt des Anwendungsbereichs darf allerdings keineswegs mit einer „Vorprüfung“, die ohnehin auf ein vorbestimmtes Ergebnis zusteuert, gleichgesetzt werden, ihm sollte besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. 

1. Sachlicher Schutzbereich 

Der sachliche Schutzbereich beschreibt den von der Charta geschützten Lebenssachverhalt oder das geschützte Rechtsgut. Die Schutzbereiche sind autonom am Maßstab des Unionsrechts auszulegen. Für die Prüfung bedeutet dies, dass nicht unbesehen die differenzierten Interpretationen des BVerfG übertragen werden dürfen. Allerdings ist auch nicht ausgeschlossen, dass die Schutzbereiche der Grundrechte des Grundgesetzes und der Charta kongruent sind. Bei der Auslegung der Schutzbereiche der Chartagrundrechte, die der EuGH auch als „living instrument“ versteht,[44] sind verschiedene Auslegungsmaximen zu beachten[45], von denen in der Klausur insbesondere die Auslegung im Lichte der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art. 52 Abs. 4 GRCh) nutzbar gemacht werden kann. Bedeutung und Tragweite der EMRK-Rechte sowie der EGMR-Judikatur sind gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh ebenfalls bei der Interpretation heranzuziehen. 

2. Persönlicher Schutzbereich 

Die Grundrechtecharta berechtigt alle natürlichen Personen, soweit nicht bestimmte Garantien ausdrücklich allein Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern (Art. 20 AEUV) zustehen. Diese Unionsbürgergrundrechte sind im entsprechend benannten Titel V der Charta normiert (insb. Wahlrecht, Recht auf Zugang zu Dokumenten, Freizügigkeitsrecht). Auch wenn eine ausdrückliche Einbeziehung juristischer Personen in den Schutzbereich der Gewährleistungen nur vereinzelt erfolgt ist, [46] gelten die Rechte der Charta grundsätzlich auch für diese, soweit sie ihnen ihrer Natur nach zustehen können.[47] Um nicht den Grundrechtsverpflichten die rechtliche Dispositionsbefugnis über die Grundrechtsträgereigenschaft zu überlassen, sind allePersonenvereinigungen mit organisatorischer Willensbildung grundsätzlich berechtigt. 

IV. Eingriff 

Der EuGH verwendet bis dato keine „lehrbuchreife“ Definition einer Beeinträchtigung. In der Literatur wird ein Eingriff in jeder belastenden Maßnahme eines Grundrechtsverpflichteten gesehen, die den Schutzbereich eines Grundrechts verkürzt.[48] Der in dieser Definition erkennbare Ansatz, Beeinträchtigungen nicht besonders eng aufzufassen, findet eine Stütze in Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRCh („[j]ede Einschränkung“).[49]Diesem weiten Verständnis schließt sich der EuGH an, indem er auch mittelbare Wirkungen als Eingriff interpretiert, sofern sie eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten.[50] Wichtig ist zudem die Unterscheidung zu den Grundfreiheiten: Die dortige Differenzierung zwischen Beschränkungen und Diskriminierungen ist im Bereich der Charta nicht zu treffen.

V. Rechtfertigung 

Anders als nach der Dogmatik des Grundgesetzes ist die Rechtfertigung von Eingriffen in die Schutzbereiche aller Chartagrundrechte einheitlich in Art. 52 Abs. 1 GRCh geregelt. Teilweise sind ergänzend hierzubesondere Schrankenbestimmungen einzelner Grundrechte heranzuziehen (Art. 8 Abs. 2 S. 1, 17 Abs. 1 S. 1 GRCh). In anderen Fällen scheidet eine Rechtfertigung aufgrund der Unantastbarkeit der Menschenwürde von vornherein aus (Art. 1, 4, 5 GRCh).[51] Nach Art. 52 Abs. 1 GRCh setzt die Rechtfertigung eines Eingriffs voraus, dass dieser (1.) gesetzlich vorgesehen ist, (2.) den Wesensgehalt des Grundrechts achtet und (3.) den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahrt. 

1. Gesetzesvorbehalt 

Art. 52 Abs. 1 GRCh normiert einen einfachen Gesetzesvorbehalt. Minimalanforderung zur Wahrung der Vorhersehbarkeit seitens des Grundrechtsträgers ist, dass die gesetzliche Grundlage hinreichend bestimmt sein muss[52] und damit den Umfang der Einschränkung der Ausübung des betreffenden Rechts selbst festlegt[53]. Für Eingriffe durch die Union kommen damit Verordnungen und Richtlinien („durch Gesetz“) sowie delegierte Verordnungen/Richtlinien und Durchführungsverordnungen („aufgrund Gesetzes“) in Betracht. 

Bei der Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten hat im Ausgangspunkt eine Beurteilung anhand des jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfassungsrechts zu erfolgen. Während in Common-Law-Jurisdiktionen daher sogar ungeschriebenes Recht zur Rechtfertigung von Eingriffen dienen kann, spricht einiges dafür, dass für Beschränkungen der Unionsgrundrechte durch die deutsche Hoheitsgewalt, dem deutschen Verständnis, ein Parlamentsvorbehalt besteht und grundsätzlich ein Parlamentsgesetz (unionale Verordnung oder deutsches Bundes- oder Landesgesetz) erforderlich ist.[54]

2. Wesensgehaltsgarantie

Fraglich im Hinblick auf die gesondert zu prüfende Wesensgehaltsgarantie (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh) ist, ob nur ein generell-abstrakter Grundrechtskern (im Hinblick auf alle Grundrechtsinhaber) oder ein konkret-individueller (im Hinblick auf den einzelnen Grundrechtsinhaber) geschützt ist.[55] Auch wenn dies die Bedeutung der Wesensgehaltsgarantie mindert, bietet sich für die Prüfung eine generelle Betrachtung an, während die Besonderheiten und somit auch die Eingriffsintensität des Einzelfalls (die bis zur kompletten Aufhebung der Freiheit reichen kann) systemgerecht innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung aufgegriffen werden. 

3. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Eingriffe in Unionsgrundrechte müssen verhältnismäßig sein. Sie müssen dazu „dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen“ der Union[56] oder „Erfordernisse[] des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer“ (Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh) zum legitimen Zweck haben, zur Erreichung dieses Zwecks geeignet („tatsächlich entsprechen“, Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh) und „erforderlich“ sein. 

Bei der Geeignetheit ist – über das „deutsche“ Verständnis hinaus – ebenso zu berücksichtigen, ob die legitimen Zielsetzungen in kohärenter und systematischer Weise verfolgt werden.[57] Als Maßstab für die Erforderlichkeitsprüfung formuliert der EuGH mitunter, dass 

„wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Verfügung stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen.“[58]

Es werden mithin Erwägungen, die nach deutschem Verständnis in Erforderlichkeit und Angemessenheit unterteilt werden, unter einem Oberbegriff geprüft. In einer Prüfungsarbeit bietet desungeachtet der klassische Aufbau eine übersichtlichere Struktur und ist daher vorzuziehen.

VI. Gleichheitsrechte 

Die Prüfung der Gleichheitsgrundrechte der GRCh (Art. 20 ff. GRCh) erfolgt – nachdem zuvor die Eröffnung des Anwendungsbereichs der GRCh festgestellt wurde – nach dem bekannten zweistufigen Aufbau (Ungleichbehandlung, Rechtfertigung). Eine Beeinträchtigung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 20 GRCh) ist anzunehmen, wenn im Wesentlichen gleiche Sachverhalte unterschiedlich, oder im Wesentlichen unterschiedliche Sachverhalte gleich behandelt werden.[59] Dem allgemeinen Gleichheitssatz gehen im Wege der Spezialität eine Reihe besonderer Gleichheitssätze vor. Voraussetzung für ihre Anwendbarkeit ist, dass eine Ungleichbehandlung an eines der dort genannten Merkmale anknüpft. Eine Ungleichbehandlung kann aufgrund des relativen Charakters der Differenzierungsverbote durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden[60], wobei die auch hier anzuwendenden Schranken des Art. 52 Abs. 1 GRCh zu beachten sind. 

D. Die GRCh als Maßstab des Bundesverfassungsgerichts 

Weiterführende Literaturhinweise

Dersarkissian, Die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG bei unionsrechtlichen Bezügen, ZJS 2022, 31 ff.

Knoth/Seyer, Grundfälle zur Grundrechtecharta, Teil 2: Einzelne Grundrechte und Rechtsschutz, JuS 2021, 1018 ff.

Neumann/Eichberger, Die Unionsgrundrechte vor dem Bundesverfassungsgericht, JuS 2020, 502 ff.


Besonderes examensrelevant sind Fälle, in denen im Wege der Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG die Verletzung von Grundrechten geltend gemacht wird und es zu klären gilt, welcher Grundrechtskatalog den Maßstab für den jeweiligen Sachverhalt bildet und wie das Zusammenwirken der verschiedenen Ebenen sich konkret auswirkt. In den 2019 am selben Tag veröffentlichten Entscheidungen Recht auf Vergessen I und Recht auf Vergessen II hat das BVerfG grundlegende Aussagen für das Verhältnis der GRCh zu den Grundrechten des Grundgesetzes getroffen. Bevor die Ausführungen die Tiefe erhalten, die für eine gelungene Argumentation in der Klausur notwendig ist, seien die Kernaussagen vorweggestellt:

  • In Fällen, in denen kein Umsetzungsspielraum bei der Implementierung des Unionsrechts für die Mitgliedstaaten besteht, überprüft das BVerfG die Rechtmäßigkeit unionsrechtlich determinierter deutscher Hoheitsakte allein am Maßstab der GRCh.[61]
  • Verfügen die Mitgliedstaaten hingegen über einen Umsetzungsspielraum, und sind die Unionsgrundrechte durch die Grundrechte des Grundgesetzes in ihrem materiellen Gehalt „mitgewährleistet“[62], sind die grundgesetzlichen Grundrechte Prüfungsmaßstab, die wiederum im Lichte der GRCh auszulegen sind.

Der Schwerpunkt der Abgrenzung  die in einer Klausur, die eine Verfassungsbeschwerde zum Gegenstand hat, im Rahmen der „Beschwerdebefugnis“ vorzunehmen ist – kann sich daher auf die Frage verlagern, ob ein Sachverhalt vollkommen durch das Unionsrecht determiniert ist oder den Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts Umsetzungsspielräume verbleiben. Eine konkrete Rechtsfrage ist vollkommen durch das Unionsrecht determiniert, wenn alle erforderlichen Wertungen durch das Unionsrecht getroffen wurden und das Unionsrecht somit darauf angelegt ist, eine gleichförmige Rechtsanwendung ohne Spielräume für die Mitgliedstaaten zu erreichen.[63] Dies ist jeweils für den Einzelfall durch Auslegung des unionsrechtlichen Fachrechts zu bestimmen.[64]

I. Volldetermination mitgliedstaatlichen Handelns (Recht auf Vergessen II)

1. GRCh als zentraler Prüfungsmaßstab

Ist ein Sachverhalt vollkommen unionsrechtlich determiniert, so gilt zunächst, dass 

„[b]ei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen […] grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich [sind]; das Unionsrecht hat hier gegenüber den Grundrechten des Grundgesetzes Anwendungsvorrang“.[65]

Das BVerfG hatte sodann eine eigene Prüfungsbefugnis anhand der Unionsgrundrechte im Wege der Verfassungsbeschwerde stets verneint.[66] Hierdurch entstand allerdings aufgrund der prozessualen Besonderheiten und Hürden des Unionsprozessrechts (siehe Einheit 4) mitunter ein Kontrollvakuum. Dem trat die Entscheidung Recht auf Vergessen II entgegen. Ihr Novum bestand in der Feststellung, dass 

„[s]oweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden, […] das Bundesverfassungsgericht dessen Anwendung durch deutsche Stellen am Maßstab der Unionsgrundrechte [kontrolliert].“[67]

Um sich diese Prüfungsbefugnis zu verschaffen, legt das BVerfG nunmehr den Begriff der „Grundrechte“ in Art. 94 Abs. 1 Nr. 4a GG europarechtsfreundlich (und entgegen des ursprünglichen Gehalts) so aus, dass damit auch die Unionsgrundrechte umfasst sind. Es überprüft sodann volldeterminiertes Handeln vollumfänglich am Maßstab der GRCh. In einer Klausur ist also zunächst in der Zulässigkeit, bei einer Verfassungsbeschwerde im Rahmen der Beschwerdebefugnis festzustellen, ob eine Volldetermination vorliegt. Ist dies der Fall, kommt nur eine Verletzung der GRCh in Betracht. In der Beschwerdebefugnis ist dann weiter die Möglichkeit einer Verletzung von Unionsgrundrechten festzustellen. In der Begründetheit ist eine umfängliche Prüfung vorzunehmen.

Fallbeispiel[68]

A klagt gegen eine Suchmaschinenbetreiberin vor den deutschen Zivilgerichten auf Unterlassung der Anzeige eines Links, der bei Eingabe seines Namens in der Suchmaske erscheint. Der Link verwies auf einen Beitrag von „Panorama“, der negativ über das Verhalten von A im Zusammenhang mit der Kündigung eines Arbeitnehmers berichtete. Rechtsgrundlage des Unterlassungsanspruchs war Art. 12 lit. b der damaligen Datenschutzrichtlinie (heute: Art. 17 DS-GVO). A rügt vor dem BVerfG die Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Die wesentliche Frage der Entscheidung – welches Grundrechtsregime ist anwendbar? – ist im Rahmen der Beschwerdebefugnis zu beantworten. A ist beschwerdebefugt, wenn sie substantiiert die Verletzung von Grundrechten darlegt, die im Verfahren der Verfassungsbeschwerde Prüfungsgegenstand des BVerfG sind. 

Das BVerfG ging davon aus, dass die Regelung die Rechtsfrage des Löschungsanspruchs durch das Unionsrecht abschließend vereinheitlicht und somit vollständig determiniert ist. Diese habe zur Folge, dass „zwar […] die Grundrechte des Grundgesetzes vorliegend nicht anwendbar [sind]“, A sich jedoch „auf die Grundrechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union berufen“ kann.[69] Somit ist A beschwerdefugt. Die Prüfung der Begründetheit erfolgt sodann konsequenterweise allein anhand der materiellen Gehalte der Unionsgrundrechte. Da es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde handelte, prüfte das BVerfG die Entscheidung des Fachgerichts nach dem hierfür bekannten zurückgenommenen Programm, kontrollierte also ob das Fachgericht in seiner Abwägung die Bedeutung der widerstreitenden Grundrechte hinreichend beachtet hat. 

2. Ausnahmsweise Prüfung an den grundgesetzlichen Grundrechten 

Ausnahmen, in denen volldeterminiertes Recht dennoch am Maßstab der grundgesetzlichen Grundrechte geprüft wird, können sich lediglich aus den vom BVerfG angeführten Reservevorbehalten ergeben (Solange-Vorbehalt, Identitätskontrolle [Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG]).[70] Der mittlerweile tradierte Solange-Vorbehalt[71] besagt, dass die Grundrechte des Grundgesetzes unangewendet bleiben, solange die Unionsgrundrechte einen wirksamen Schutz gegenüber der Hoheitsgewalt der Union bieten, der dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist.[72]Dafür ist eine auf das jeweilige Grundrecht bezogene generelle Betrachtung maßgeblich.[73] Nur wenn die GRCh in ihren Gewährleistungen eindeutig hinter jenen des Grundgesetzes zurückbleibt, ist eine Prüfung volldeterminierten Handelns am Maßstab des Grundgesetzes vorzunehmen. Die Grundrechte des Grundgesetzes bleiben also hinter den Unionsgrundrechten in einer Reservefunktion „ruhend in Kraft“.[74]Eine derartige Abweichung im Gewährleistungsgehalt ist angesichts der „weitgehende[n] Deckungsgleichheit“[75] beider Grundrechtskataloge kaum einmal anzunehmen. Problematisch könnte insoweit freilich sein, dass die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in der GRCh keine Entsprechung findet.

II. Teildetermination mitgliedstaatlichen Handelns (Recht auf Vergessen I

Der Prüfungsmaßstab ist anders zu beurteilen, wenn ein Sachverhalt zwar unionsrechtlich überformt ist, den Mitgliedstaaten aber ein Entscheidungsspielraum hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung verbleibt. Nach Ansicht des BVerfG sind in solchen Spielraumkonstellationen vorrangig die Grundrechte des Grundgesetzes der Prüfungsmaßstab.[76] Methodisch begründet das Gericht dies mit der widerleglichen Vermutung der „Grundrechtsvielfalt“, nach der das Unionsrecht bei der Einräumung von Gestaltungsspielräumen zugleich eine Diversität bei der Gewährleistung eines ausreichenden Grundrechtsschutzes zulässt.[77]

Allerdings ist zu bedenken, dass bei einer Durchführung des Unionsrechts (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh) auch der Anwendungsbereich der GRCh eröffnet ist. Der hieraus resultierenden Beachtungspflicht der Gewährleistungen der Charta wird dadurch Rechnung getragen, dass geprüft (und wohl stets bejaht) wird, ob die Unionsgrundrechte durch die Grundrechte des Grundgesetzes „mitgewährleistet“ werden. [78] Ist dies nicht der Fall, ist eine gesonderte Prüfung eines Chartagrundrechts angezeigt. 

Fallbeispiel[79]

B klagt ebenfalls vor den Zivilgerichten, um nicht online in Suchergebnissen auffindbar zu sein. Allerdings richtet er seine Klage gegen die Spiegel Online GmbH, die Artikel des Magazins „Der Spiegel“ in einem Onlinearchiv zum Abruf bereitstellt. Nach erfolglosem Bestreiten des Zivilrechtswegs wendet sich B an das BVerfG und rügt die Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts.

Der Sachverhalt unterscheidet sich zum vorherigen dadurch, dass Art. 85 DS-GVO ein sog. „Medienprivileg“ vorsieht, aufgrund dessen den Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der Regulierung der Datenverarbeitung durch Medien Umsetzungsspielräume verbleiben. Daher ist im Rahmen der Beschwerdebefugnis festzustellen, dass hier lediglich eine Teildetermination besteht. Die materielle Prüfung hat anhand der Grundrechte des Grundgesetzes zu erfolgen. Es ist weiter kurz darauf einzugehen, ob damit die Unionsgrundrechte mitgewährleistet werden. Im Ergebnissatz ist festzuhalten, dass neben den geprüften Grundrechten des Grundgesetzes auch die Grundrechte der Charta verletzt oder eben nicht verletzt sind. 


[1]    Zu examensrelevanten Fragen der erfahrungsgemäß allenfalls beiläufig behandelten Landesgrundrechte Lindner, Landesgrundrechte, JuS 2018, 233 ff.

[2]    Vgl. schon EuGH, C-29/69, ECLI:EU:C:1969:57 Rn. 7 – Stauder: „die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung […] enthaltenen Grundrechte“. Auflistung im Einzelnen bei Schweitzer/Dederer, Staatsrecht III, 13. Aufl. 2025, Rn. 544.

[3]    Voßkuhle/Wischmeyer, Grundwissen Öffentliches Recht: Grundrechte im Unionsrecht, JuS 2017, 1171 (1171).

[4]    Lorenzen, Grundlagen des Europarechts (Teil I): Europäische Grundrechte, JURA 2021, 482 (482).

[5]    BVerfG, NJW 2013, 3714. Schwerpunkt der Entscheidung war die Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Zivilprozesse nach Feststellung eines EMRK-Verstoßes.

[6]    BVerfG, NJW 2022, 680 Rn. 33.

[7]    Dies kann sich auch auf das Verständnis der deutschen Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte auswirken, vgl. – zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG – BVerfG, NJW 2024, 956 Rn. 73.

[8]    EGMR, NJW 2009, 3637 Rn. 92.

[9]    Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 9. Aufl. 2021, § 17 Rn. 33. 

[10]           Diese Bezeichnung findet sich häufig, siehe nur Herrmann/Michl, Examens-Repetitorium Europarecht/Staatsrecht III, § 1 Rn. 58. Im Kontext des EMRK erklärt sich diese Bezeichnung durch die Meistbegünstigungsklausel des Art. 53 EMRK, wonach die Beachtung der Konventionsgrundrechte zu keiner Herabsenkung des innerstaatlichen Grundrechtsschutzes führen darf. 

[11]           Ausdrücklich den Rang eines Bundesgesetzes feststellend BVerfG, NJW 2004, 3407 (3408), std. Rspr.

[12]           Uerpmann-Wittzack, Die Bedeutung der EMRK für den deutschen und den unionalen Grundrechtsschutz, JURA 2014, 916 (916)

[13]           BVerfG, NJW 2004, 3407 (3411) – Görgülü.

[14]           Vertiefend Ludwigs/Sikora, Grundrechtsschutz im Spannungsfeld von Grundgesetz, EMRK und Grundrechtecharta, JuS 2017, 385 (386 f.).

[15]           BVerfG, NVwZ 2003, 1499 (1499).

[16]           Breuer, in: Karpenstein/Mayer (Hg.), EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 46 Rn. 48. 

[17]           Zur Bedeutung der EMRK für die Fachgerichte Cammareri, Die Bedeutung der EMRK und der Urteile des EGMR für die nationalen Gerichte, JuS 2016, 791 (793 f.).

[18]            BVerfGE 148, 296 Rn. 126.

[19]            BVerfGE 148, 296 Rn. 129.

[20] Nach BVerfG, NJW 2020, 2622 ff.

[21] BVerfG, NJW 2020, 2622 Rn. 31.

[22]           EuGH, C-356/12, ECLI:EU:C:2014:350 Rn. 78 – Glatzel.

[23]           Anschaulich zu Art. 27 GRCh Seyller, Unionsgrundrechte zwischen unmittelbarer Wirkung und Konkretisierungsbedürftigkeit – Ein Beitrag zu Rechtsnatur und Wirkungen von Unionsgrundrechten, EuR 2024, 433 (448 ff.).

[24]           Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 6 GRCh Rn. 9.

[25]           Ehlers/Germelmann, in: dies. (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 5. Aufl. 2023, § 2.2 Rn. 49.

[26]           Schwerdtfeger, in: Meyer/Hölscheidt (Hg.), GRCh, 6. Aufl. 2024, Art. 51 Rn. 29

[27]           EuGH, C-402/05, ECLI:EU:C:2008:461 Rn. 282 – Kadi u.a.

[28]           EuGH, C-8/15 u.a., ECLI:EU:C:2016:701 Rn. 67 – Ledra Advertising; Urteilsbesprechung bei Ruffert, JuS 2017, 179 ff.

[29]           So der Fall in EuGH, C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 Rn. 60 – Melloni.

[30]           EuGH, C-540/16, ECLI:EU:C:2018:565 Rn. 18 – Spika u.a.

[31]           Diese an sich triviale Feststellung kann im Einzelfall auf eine (ggf. nicht triviale) Prüfung des Anwendungsbereichs des Sekundärrechts hinauslaufen, bspw. zu arbeitsrechtlichen Befristungsregelungen siehe EuGH C-117/14, ECLI:EU:C:2015:60 Rn. 28 ff. – Poclava.

[32]           St. Rspr., siehe nur EuGH, C-5/88, ECLI:EU:C:1989:321 Rn. 19 – Wachauf.

[33]           EuGH, C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105 Rn. 20 – Åkerberg Fransson.

[34]           EuGH, C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105 Rn. 21 – Åkerberg Fransson.

[35]           Vgl. Thym, Die Reichweite der Grundrechtecharta – zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, 889ff. m.w.N. 

[36]           BVerfGE 133, 277 Rn. 91. Die Passage der Entscheidung ist lesenswert, um ein Gespür für den Dialog zwischen den Gerichten und die deutliche Positionierung des BVerfG zu bekommen.

[37]           EuGH, C-609/17 u.a., ECLI:EU:2019:981 Rn. 53 – TSN.

[38]           Schwerdtfeger, in: Meyer/Hölscheidt (Hg.), GRCh, 6. Aufl. 2024, Art. 51 Rn. 52

[39]           EuGH, C-569/16 u.a., ECLI:EU:C:2018:871 Rn. 85 – Bauer u.a.

[40]           EuGH, C-414/16, ECLI:EU:C:2018:257 Rn. 77 – Egenberger. Diese Linie deutete sich zuvor in der Rspr. an, siehe EuGH, C-441/14, ECLI:EU:C:2016:278 Rn. 27 – Dansk Industri.

[41]            EuGH, C‑715/20, ECLI:EU:C:2024:139 Rn. 81 – KL.

[42]           In der Entscheidung EuGH, C-293/12 u.a., ECLI:EU:C:2014:238 Rn. 24 ff. – Digital Rights Ireland,lässt sich dieser Prüfungsaufbau durch den EuGH anhand der gewählten Überschriften nachvollziehen. 

[43]           Dies kann alternativ auch im „Eingriff“ geprüft werden, so Kingreen, Die Unionsgrundrechte, JURA 2014, 295 (298)

[44]            Vgl. EuGH, C-336/19, ECLI:EU:C:2020:1031 Rn. 77 – Centraal Israëlitisch Consistorie van België u.a.

[45]           Vertiefend dazu Ehlers/Germelmann, in: dies. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2.2 Rn. 108 ff.

[46]           Art. 42 – 44 GRCh

[47]           So das häufig zu lesende und sich ersichtlich an Art. 19 Abs. 3 GG anlehnende Diktum, vgl. nur Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 13. Aufl. 2023, Rn. 668. Einen Unterschied zu Art. 19 Abs. 3 GG sehen Goldhammer/Sieber, Juristische Personen und Grundrechtsschutz in Europa, JuS 2018, 22 (25), nach denen es im Einzelfall danach zu Fragen gilt „was gegen [die Grundrechtsberechtigung] spricht“. 

[48]           Ähnlich bei Ruffert/Grischek/Schramm, Europarecht im Examen: Die Grundrechte, JuS 2020, 1022 (1026); vgl auch Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 13. Aufl. 2023, Rn. 668.

[49]            Auch BVerfGE 158, 1 Rn. 77.

[50]           EuGH, C-435/02 u.a., ECLI:EU:C:2004:552 Rn. 49 – Springer: „eine hinreichend direkte und bedeutsame Auswirkung“. 

[51]           EuGH, C-404/15 u.a., ECLI:EU:C:2016:198 Rn. 85 f. – Aranyosu u. Căldăraru.

[52]           EuGH, C-419/14, ECLI:EU:C:2015:832 Rn. 81 – WebMindLicenses: „klar und genau“. 

[53]            Vgl. EuGH, C-61/22, ECLI:EU:C:2024:251 Rn. 77 – RL.

[54]           So i. Erg. wohl auch Jarass, GrCh, 4. Aufl. 2021, Art. 52 Rn. 26Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 52 GRCh Rn. 63

[55]           Die Rspr. ist nicht eindeutig, vgl. Ehlers/Germelmann, in: dies. (Hg.), Europäische Grundfreiheiten und Grundrechte, 5. Aufl. 2023, § 2.2 Rn. 133.

[56]           EuGH, C-292/97, ECLI:EU:C:2000:202 Rn. 45 – Karlsson.

[57]            EuGH, C-61/22, ECLI:EU:C:2024:251 Rn. 94 – RL.

[58]           EuGH, C-134/15, ECLI:EU:C:2016:498 Rn. 33 – Lidl.

[59]           EuGH, C-107/94, ECLI:EU:C:1996:251 Rn. 40 – Asscher.

[60]           Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 13. Aufl. 2023, Rn. 678. 

[61]           BVerfGE 152, 216 Rn. 44.

[62]           BVerfGE 152, 152 Rn. 49, 55.

[63]           BVerfGE 158, 1 Rn. 44Dersarkissian, Die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG bei unionsrechtlichen Bezügen, ZJS 2022, 31 (33).

[64]           BVerfGE 152, 216 Rn. 78Toros/Weiß, Echte Kooperation?! – Wandel des Grundrechtsschutzes im Mehrebenensystem, ZJS 2020, 100 (104).

[65]           BVerfGE 152, 216 Rn. 42.

[66]           Siehe nur BVerfGE 110, 141 (154 f.).

[67]           BVerfGE 152, 216 Rn. 50.

[68]           Nach BVerfGE 152, 216 ff.

[69]           BVerfGE 152, 216 Rn. 32.

[70]           BVerfGE 152, 216 Rn. 47 ff.158, 1 Rn. 41BVerfG, EuZW 2024, 1055 Rn. 52.

[71]           Leitentscheidung: BVerfGE 73, 339 ff. (Solange II).

[72]            BVerfG, EuZW 2024, 1055 Rn. 63.

[73]           BVerfG, EuZW 2024, 1055 Rn. 63, diese Formulierung findet sich erstmalig in BVerfGE 152, 216 Rn. 47.

[74]           BVerfGE 152, 216 Rn. 47.

[75]            BVerfGE 158, 1 Rn. 67.

[76]            Vgl. BVerfGE 152, 152 Rn. 39155, 119 Rn. 87BVerfG, BeckRS 2024, 33182 Rn. 61.

[77]           BVerfGE 152, 152 Rn. 50.

[78]           BVerfGE 152, 152 Rn. 55.

[79]           Nach BVerfGE 152, 152 ff. (Recht auf Vergessen I).