Alan Westins einflussreiche Analyse zum Begriff der Privatheit beginnt etwas befremdlich mit Ausführungen zur Privatheit bei Tieren und in „primitiven“ Gesellschaften, an deren Ende er zu dem Schluss kommt: „…the quest for privacy is not restricted to man alone, but arises in the biological and social processes of all life“ (11). Er beschreibt in einiger Detailtiefe die unterschiedlichen Formen des Rückzugs und der Abgrenzung, die sich bei Tieren und in dem was er, dem zeitgenössischen Sprachgebrauch folgend, ohne Scham als „primitive Gesellschaften“ bezeichnet, gleichermaßen finden ließen. Auch wenn sich unterscheide, welche Handlungen, Räume oder Kommunikation als privat angesehen werde, lasse sich doch feststellen, dass private Bereiche überall existieren. Dort wo sich keine räumliche Trennung ergebe, würden soziale Normen und Rituale psychologische Privatheit ermöglichen. Auf diese Weise konstruiert Westin ein primordiales Bedürfnis nach Privatheit, eine ursprüngliche Notwendigkeit für eine – dann nur noch kulturell überformte – Ermöglichung privater Lebensbereiche – Privatheit als ein quasi-biologisches Bedürfnis. Darauf aufbauend argumentiert Westin nun, dass unterschiedliche Kulturen unterschiedliche Balancezustände zwischen Überwachung und Privatheit ausbilden würden. Während in den Vereinigten Staaten eine libertäre Balance grössere Offenheit und Transparenz bedinge, sei beispielsweise in Deutschland historisch eine stärker autoritäre Vorstellung tonangebend, die striktere Abgrenzungen mit sich bringe. Erst vor diesem Hintergrund entwickelt er die allgemeine Theorie, die im Pflichttext Funktionen und Variationen darlegt.
Mich hat seine Argumentation in diesem Bereich nicht überzeugt. Im Hinblick auf die biologische Herleitung eines Bedürfnisses nach Privatheit war es vor allem die Vielzahl der unter dem Begriff Privatheit zusammengefassten Verhaltensweisen und sozialen Normen. Fasst alles liesse sich auch anders interpretieren. Der Fokus auf die unterschiedlichen Auffassungen zur Privatheit von Sexualakten in „primitiven“ Gesellschaften, die er als zumindest im Prinzip überall privat verstanden wissen will, wirkt konstruiert. Ich hatte eher den Eindruck, dass hier ein kulturell geprägtes Verständnis davon, was privat sein sollte, die Analyse der „Anderen“ geprägt hat. Auch die kulturellen Unterschiede und ihre Ausformung in modernen Gesellschaften fand ich hochgradig plakativ und vereinfachend. Auch wenn es sicherlich kulturelle Unterschiede im Verständnis von Privatheit gibt, ist die Entwicklung von Typen, die nationale Gesellschaften und ihr Privatheitsverständnis beschreiben sollen, etwas zu vereinfachend.
In der Sitzung wird dieser Aspekt sicherlich nur eine kleine Rolle spielen können, denn der zu lesende Text folgt einer anderen Systematik und wirft andere Fragen auf. Auch vor dem Hintergrund der in der letzten Sitzung zur Aktualität des „feministischen“ Ansatzes in der amerikanischen Rechtssprechung geführten Diskussion, schien es mir dennoch ein wesentlicher Aspekt der Kontextualsierung von Westins Argument zu sein.
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