Hannah Arendt, unabhängig von allen Fragen zu ihrer Haltung zum Feminismus, lebte ganz offensichtlich eine strikte Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit. Man mag von der Existenz oder Gefährdung von „weiblichen Qualitäten“ im Privatleben ausgehen oder nicht, offensichtlich ist, dass sie für sich das Recht in Anspruch nahm, ihr Verhalten radikal in eine öffentliche und eine private Sphäre einzuteilen und ganz unterschiedlich auszuleben. Ihrer politischen Glaubwürdigkeit tat ihre Entscheidung für ein völlig anderes Selbstkonzept im Privatbereich keinerlei Abbruch. Völlig anders ist das bei heutigen Politikern. Insbesondere im anglo-amerikanischen, aber auch immer stärker im deutschen politischen Kontext scheint die Analyse von Richard Sennett zunehmend zutreffend, dass wir bei politischen Führern „man (…) also darauf (sieht), was für ein Mensch er ist, statt darauf, wie er handelt und welche Programme er vertritt. Das übermäßige Interesse an Personen auf Kosten der gesellschaftlichen Beziehungen wirkt wie ein Filter, der unser rationales Gesellschaftsverständnis verfärbt.“ (S. 16) Beispiele hierfür erübrigen sich, da sie allgegenwärtig sind. Stimmt dann also auch die übrige Konstruktion von Sennetts Gedanken?
Zunächst zu einer groben Zusammenfassung:
Sennett führt aus, dass im Altertum, in der griechischen polis, nicht nur klar zwischen privater und öffentlicher Sphäre unterschieden wurde, sondern dass die Teilnahme am öffentlichen, politischen Leben (für freie Männer) Selbstverständlichkeit und Pflicht gleichermaßen war. Noch im 18. Jahrhundert galt es als charakterprägende Notwendigkeit (für Männer), Erfahrungen im öffentlichen Leben zu machen, um auf dessen moralische Verwerflichkeit vorbereitet zu sein. Unsere Epoche sei hingegen, so Sennett, durch einen Rückzug der Menschen aus dem öffentlichen Leben, dem öffentlichen Raum und eine gleichzeitige Psychologisierung aller, auch unbelebter oder tierischer Sachverhalte gekennzeichnet. Folglich sind wir „dahin gekommen (…), diese psychologischen Wohltaten („Wärme, Vertrauen und die Möglichkeit zum offenen Ausdruck von Gefühlen“) in all unseren Erfahrungsbereichen zu erwarten, und weil ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens, der sehr wohl von Bedeutung ist, diese psychologischen Gratifikationen nicht zu bieten vermag, kommt es uns so vor, als lasse uns diese Außenwelt, die ‚objektive Welt‘ im Stich; sie wirkt dann schal und leer.“ (S. 17) Daraus folgt dann aber nach Sennett auch: „Die Welt intimer Empfindungen verliert alle Grenzen; sie wird nicht mehr von einer öffentlichen Welt begrenzt, die eine Art Gegengewicht zur Intimität darstellen würde.“ (S. 19) Das führt, ausgedrückt vor allem auch in der Architektur, zu dem „Paradoxon von Sichtbarkeit und Isolation“ (S. 28).
Bewertung:
Breitner (1999) zitiert mehrere durchaus fundierte kritische Betrachtungsweisen des Werks von Sennett. Insbesondere hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit seines Vorgehens scheinen Zweifel angebracht, denn er führt zwar zahlreiche, aus seiner Sicht zwingende Belege an, setzt sich aber nicht mit möglichen Gegenargumenten auseinander. Der Versuch der Falsifikation als Quelle des Erkenntnisgewinns und damit die kritische Eigendistanz liegt Sennett fern. Dennoch sprechen viele Beobachtungen für seine grundlegende Analyse. Unsere Berichterstattung, sogar im Bereich der vermeintlichen „Nachrichten“ hat einen Grad der Fokussierung auf Erlebnisse, Personen und ihre Gefühle erreicht, der absoluter Desinformation nahekommt. In sozialen Portalen betreiben Menschen in einer Zahl und einem Ausmaß Selbstentblößung, die schwierig zu erklären sind. Und gleichzeitig scheint das öffentliche Interesse an politischen Themen und Diskussionen abzunehmen. Folter in Guantanamo ist ok, wenn der betreffende Politiker nur ausgelassen mit seinen Hunden spielen kann. Gebrochene Wahlversprechen sind irrelevant, wenn die Ehefrau eine Stilikone ist. Vielleicht ist ja gerade vor diesem Hintergrund die Reaktion zu verstehen, die Daniel Solove mit „Nothing to hide, nothing to fear“ zusammenfasst. Tatsächlich interessiert sich ein Staat nicht dafür, ob ich eine Katze oder einen Hund mein eigen nenne und ob das Tier in einer Hütte draußen oder im eigenen Bett schläft, wohl aber dafür, welche politischen Einstellungen ich habe – wenn ich welche habe. Insofern ist es möglicherweise gar kein Paradox, dass maximale persönliche Sichtbarkeit und öffentliche, politische Isolation oder Abstinenz zusammen treffen. Die öffentliche Sichtbarkeit könnte nämlich bewusst genutzt werden, um politisches Engagement abzutrainieren, damit man nichts zu verbergen hat. Da dieser Gedanke ziemlich erschreckend ist, wäre es schön, wenn es uns gemeinsam gelänge, ihn zu widerlegen. Schaffen wir das?
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