In Folge des in der letzten Sitzung nochmal recht ausführlich (wenn auch natürlich nicht erschöpfend) besprochenen Arendt-Textes und der anschließenden Diskussion um Arendts Kritik an der Überlagerung des „Politischen“ durch das „Notwendige“, haben wir dann in Bezug auf Sennett zum Ende der Sitzung vor allem Gemeinsamkeiten mit Arendt und seine Sicht auf „das Politische“ gesprochen.
Sennett konzentriert sich aber, zumindest in diesem Kapitel gar nicht so sehr auf politische Fragen. Er beschreibt den Zustand des öffentlichen Lebens auch im alltäglichen Zusammenhang, anhand von zwischenmenschlichen Beziehungen oder einfach dem Aufhalten im öffentlichen Raum.
Er beschreibt einen öffentlichen Raum, der von schweigenden, beobachtenden „Raumdurchquerern“ mit einer Tendenz zum Narzissmus gefüllt ist, die denken ihre Sexualität und ihre Persönlichkeit wären etwas, dass gefunden werden müsste, anstatt etwas, dass sich in der Interaktion mit Anderen entwickelt. Sieht so der Archetyp des narzistischen „Raumdurchquerers“ aus?
Der letzte Aspekt hat mich besonders interessiert. Sennett beschreibt Erfahrung in der Öffentlichkeit als etwas, dass noch im „letzten Jahrhundert […] in einen Zusammenhang mit der Ausbildung der Persönlichkeit“ (S. 38) gestellt wurde. Sicher sagt das noch nichts darüber aus wie bedeutend dieser Zusammenhang sein mag, nicht einmal ob er überhaupt besteht. Allerdings kam in der letzten Sitzung auch das Phänomen zur Sprache, dass sich im eigenen Umfeld häufig Menschen befinden, die in wesentlichen Punkten schon ähnlicher Ansicht sind. Darüber hinaus konsumieren wir gerne Nachrichten die unserer politischen Agenda entsprechen, gehen in Seminare die dazu passen und schauen Filme und Serien in denen Dinge gezeigt werden die zu unserem Weltbild passen. Es gibt schon einen Grund dafür, dass die Komfortzone ihren Namen hat und dass eine Armee von „Persönlichkeitscoaches“ sich auf die Fahne geschrieben hat dich aus ihr rauszudrängen und sich dann dafür bezahlen zu lassen (solche merkwürdigen Typen). Das alles legt zumindest nahe, dass der größere Teil der Persönlichkeitsentwicklung in Auseinandersetzung mit Fremdem/Fremden zustande kommt.
Wenn man glaubt dass dieser Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Erfahrung in der Öffentlichkeit besteht, eröffnet sich eine neue Perspektive auf unser Seminarthema. Privatheit stellte sich auch bei den bisher behandelten Autoren schon immer als etwas wertvolles, schützenswertes dar. Nicht jedes Mal lag der Fokus darauf warum Privatheit überhaupt wichtig ist, aber das Streiten für gesetzliche Regelungen, der Versuch herzuleiten woher ein Recht auf Privatheit kommen könnte impliziert den Wert der Privatheit. Natürlich war bei den anderen Autoren mit denen wir uns befasst haben, öffentliches Leben nichts per se falsches oder gefährliches. Neu ist bei Arendt und Sennett allerdings die Anerkennung des öffentlichen Lebens als etwas, das auch einen Wert für das Leben des Menschen hat, das auch bestimmte Idealbedingungen hat und das auch von der Privatheit bedroht sein kann.
Wenn man das ernst nimmt lohnt es sich vielleicht nicht nur zu diskutieren, was Privatheit bedeutet, wieso das wichtig ist und wie man die am besten sicherstellt, sondern eben auch was an Öffentlichkeit wichtig ist, wie das am Besten gestaltet werden sollte und was da alles nichts zu suchen hat.
Die bei Sennett angesprochene Bedeutung der Begegnungen im öffentlichen Raum für die Persönlichkeitsentwicklung ist eher positiv gefärbt, schließlich hebt sich eine Gesellschaft die dieses Ideal teilt von dem von ihm kritisierten Intimitätskult ab. Es gibt allerdings auch Klassiker die diese Erfahrung kritisch sehen, ich denke das ist zumindest grob den meisten noch aus der Schule bekannt.
Tags: Intimität, Öffentlichkeit, Rousseau, Sennett
Am 15. Dezember 2015 um 13:50 Uhr
Ich würde gerne auf den Gedanken eingehen, dass das öffentliche Leben nach Sennett und Arendt einen Wert an sich hat (vgl. oben) und gleichzeitig bei dem Postulat von Sennett, dass maximale selbstentbößung und Sichtbarkeit gleichzeitig mit Isolation einhergeht, noch meinen Beitrag ein wenig nachschärfen. Psychologische Gratifikation (Nähe, Wärme etc.) entsteht nach Sennett, und das erscheint durchaus logisch, dann, wenn ich Privates, Persönliches von mir preisgebe. Nun war in früheren Jahrhunderten der bereich des Sexuellen hochgradig tabuisiert. Ein Gegenüber in diesen Bereich einzuladen bedeutete demnach den größtmöglichen Vertrauensbeweis, während zumindest in intellektuellen Kreisen die politische Debatte, also die Offenbarung politischer oder gesellschaftskritischer Überlegungen und deren Rezeption, einem weiteren Kreis erlaubt wurde. Ich glaube, in unserer modernen Gesellschaft ist es genau umgekehrt: In den sozialen netzwerken werden sehr intime, ja sogar sexuelle Details ebenso wie Darstellungen des eigenen Körpers mit einer Freizügigkeit und in einem relativ weiten Empfängerkreisgeteilt, die vor 50, 100 oder 150 Jahren absolut undenkbar war. Politische Einschätzungen werden, wenn sie denn überhaupt geteilt werden, gerne auf das Format eines Tweets reduziert. Die mediale Kultur lässt es – zumindest für bestimmte Alters- oder soziale Gruppen – viel peinlicher, intimer erscheinen, beim Denken komplexer politischer Gedanken erwicht zu werden als dabei, über ausgelebte Sexualität zu berichten. Daraus könnte man ableiten, dass heute das Teilen solcher Gedanken, wie etwa hier im Blog, ein höheres Maß an Einbruch oder zumindest Einlass in die Privatsphäre bedeutet als alle vermeintliche Entblößung des „Privaten“. Vor diesem Hintergrund ist vielleicht auch ein Zitat zu Rousseau zu verstehen: „Lehrreich für uns kann die Lektüre aber nur dann sein, wenn wir ,gerade bei einem schwierigen und verqueren Kopf wie demjenigen Rousseaus, zumindest anfänglich zu unterstellen bereit sind, dass er uns etwas zu sagen hat.“ Mit anderen Worten: Die Teilhabe an der vermeintlichen Privatheit und Selbstentblößung hat wenig bis keinen Einfluss auf uns, das Wahrnehmen und Nachvollziehen fremder Gedanken schon. Insofern ist das heute die intimst-mögliche Begegenung.
Wörtliches Zitat aus: https://www.pedocs.de/volltexte/2015/10406/pdf/ZfPaed_5_2012_Brueggen_Reichenbach_Rousseau_Einfuehrung.pdf, S. 609.
Am 16. Dezember 2015 um 14:49 Uhr
Ich glaube auch, dass die Fragen nach der Grenze zwischen dem „Erscheinen“ im öffentlichen Raum, dass mit bewusst öffentlicher Tätigkeit zusammenhängt, und der „Selbstentblössung“, die das Private in den öffentlichen Raum zerrt, ganz besonders spannend ist.
Allerdings weiss ich nicht, ob sie sich einfach anhand formaler Kriterien bestimmen lässt. Mancher Tweet ist politisch und für die Öffentlichkeit relevant, andere nicht. Ist es wirklich das Medium oder das Format? Oder die Intention? Und was ist eigentlich, wenn die nicht klar ist? Oder wenn in der Kommunikation etwas schief geht? Die zentrale bei Arendt und Sennett vorgebrachte „Kulturkritik“ (wenn man sie so nennen möchte) geht davon aus, dass sich der öffentliche Raum wandelt und zunehmend seine eigentlich Bestimmung zugunsten von andersartigen Tätigkeiten verliert. Die grösste Gefahr ist dabei, dass diese „öffentliche Tätigkeit“, die aktive Teilhabe an der Gestaltung des Gemeinsamen dadurch nicht nur woanders hin gedrängt wird oder an Präsenz verliert, sondern dass sie ganz verschwindet.
Mit dieser Wahrnehmung stehen die beiden nicht allein, auch wenn sich diese oftmals in ein anderes Gewandt kleidet. Bei Marx, bei Heidegger, aber auch bei Foucault finden sich ähnliche Ideen in völlig anderen Kontexten. dahinter immer auch die Frage, was den Menschen ausmacht, was die tatsächlich menschlichen Tätigkeiten sind….
Kommenden Freitag werden wir auch eine weitere bereits aufgeworfene Frage weiter diskutieren können. Bei aller Kulturkritik gibt es nämlich immer auch einen Platz für das Private, besonders dort, wo das öffentliche Leben demokratisch ist. Aber welchen Zweck hat er? Und in welchem Verhältnis steht er zur Öffentlichkeit?