Daniel Soloves Buch Understanding Privacy geht von der Feststellung aus, dass es sich bei „privacy“ nicht um ein klar definierbares Konzept handele, sondern vielmehr um eine Familienähnlichkeit. Der Begriff stammt aus der Sprachphilosophie, genauer gesagt von Ludwig Wittgenstein. Wittgenstein (1889-1951) war ein ausgesprochen einflussreicher Philosoph, der insbesondere mit seiner sprachphilosophischen Arbeit wesentlich beispielsweise zur Entwicklung der Diskurstheorie in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts beigetragen hat. Familienähnlichkeit ist dabei eines des zentralen Konzepte und es erfreut sich grosser Beliebtheit in der Politischen Theorie, wo eine Familienähnlichkeit beispielsweise auch für das Machtkonzept vorgeschlagen wurde (Haugaard 2002).
Ein Konzept, das auf einer Familienähnlichkeit beruht, lässt sich nicht definieren, indem eine gemeinsame Essenz aller Verwendungen und Definitionen des Begriffes herausgearbeitet wird. Vielmehr bedienen diese sich aus einem gemeinsamen ‚pool‘ an Eigenschaften und Elementen, die zu dem Begriff gehören. Ähnlich wie bei einer Familie gleichen sich so alle ein bisschen, aber keiner dem anderen in allen oder auch nur den wesentlichen Eigenschaften. Und es kann auch zur Familie Gehörende geben, die miteinander gar nichts gemein haben, also nur Eigenschaften mit anderen Mitgliedern der Familie teilen, nicht aber miteinander. Das klassische Beispiel ist das „Spiel“ – wir verstehen durchaus, dass Fussball und Roulette und Sprachrätsel „Spiele“ sind. Eine gemeinsame Essenz zu definieren ist jedoch schwierig, besonders wenn von der Definition keine Dinge eingeschlossen werden sollen, die wir nicht als „Spiele“ sehen.
Daniel Solove führt das noch genauer in seinem Buch (Solove 2008: 42-44) aus. Auf den ersten Blick scheint es sehr attraktiv zu sein, sich der in Kapitel zwei dargestellten Vielfalt an Definitionen auf diesem Weg zu nähern. Möglicherweise lässt sich eben keine allgemeingültige Definition von Privatheit oder Privacy finden. Das Problem läge dann im Phänomen selbst, das sich schlicht einer essentialistischen Definition entzieht.
Man könnte auch anders argumentieren, nämlich dass es sich bei Privatheit bzw. Privacy um ein „essentially contested concept“ (Gallie 1956) handelt. Derartige Konzepte finden sich nach Gallie besonders in den sozialtheoretischen Disziplinen und werden dort verwendet, wo sich Phänome einer Definition entziehen, wenn nicht bestimmte normative oder evaluative Vorentscheidungen getroffen werden, die dann zum integralen – wenn auch oft impliziten – Teil der Definition selbst werden. Die ‚Verwirrung‘ über den wahren Bedeutungsgehalt des Konzeptes ist in dem Fall nicht Ausdruck einer (sprachlichen) Eigenheit des Gegenstandes, sondern einer Kontroverse über die zugrundeliegenden, notwendigen Werturteile. Diese sind es im übrigen auch, die eine fortdauernde Debatte über den Bedeutungsgehalt rechtfertigen. Die Auseinandersetzungen über den Begriff und seine Grenzen ermöglicht die Debatte über die damit verbundenen Werte.
Welche der beiden Vorstellungen hier angebrachter ist, möchte ich nicht entscheiden. Vielleicht können wir diese Frage aber nach eurer Textlektüre am kommenden Freitag diskutieren.
Tags: privacy, Solove, zum Konzept
Am 31. Oktober 2015 um 13:11 Uhr
Nach der genaueren Beschäftigung mit beiden Begriffen und der Diskussion im Seminar würde ich persönlich Privatheit eher dem Familienbegriff zuordnen.
Bei dem essentially contested concept, so wie ich es verstanden habe, gibt es einen zentralen inhaltlichen Kern und nur die weitergehenden Meinungen, die durch Wertvorstellungen geprägt sind, führen zur Kontroversen. In meinen Augen haben aber die einzelnen Konzepte von Privacy keinen gemeinsamen Kern. Alle Konzepte gehen genau von unterschiedlichen Grundvorstellungen zum Thema Privatheit aus. (z.B: Schutz der Persönlichkeit, Recht allein gelassen zu werden oder einfach nur der Schutz privater Informationen)
Trotzdem gibt es inhaltliche Überschneidungen zwischen den Konzepten, die nicht die Kernaussage betreffen, aber doch alle Theorien miteinander verbinden. Genau das findet sich in dem Konzept der Familienähnlichkeit wieder.