Privatheit

Zur politischen Bedeutung eines umstrittenen Begriffs

Was Öffentlichkeit mit Persönlichkeit zu tun hat

In Folge des in der letzten Sitzung nochmal recht ausführlich (wenn auch natürlich nicht erschöpfend) besprochenen Arendt-Textes und der anschließenden Diskussion um Arendts Kritik an der Überlagerung des „Politischen“ durch das „Notwendige“, haben wir dann in Bezug auf Sennett zum Ende der Sitzung vor allem Gemeinsamkeiten mit Arendt und seine Sicht auf „das Politische“ gesprochen.

Sennett konzentriert sich aber, zumindest in diesem Kapitel gar nicht so sehr auf politische Fragen. Er beschreibt den Zustand des öffentlichen Lebens auch im alltäglichen Zusammenhang, anhand von zwischenmenschlichen Beziehungen oder einfach dem Aufhalten im öffentlichen Raum.

Er beschreibt einen öffentlichen Raum, der von schweigenden, beobachtenden „Raumdurchquerern“ mit einer Tendenz zum Narzissmus gefüllt ist, die denken ihre Sexualität und ihre Persönlichkeit wären etwas, dass gefunden werden müsste, anstatt etwas, dass sich in der Interaktion mit Anderen entwickelt. Sieht so der Archetyp des narzistischen „Raumdurchquerers“ aus?

Der letzte Aspekt hat mich besonders interessiert. Sennett beschreibt Erfahrung in der Öffentlichkeit als etwas, dass noch im „letzten Jahrhundert […] in einen Zusammenhang mit der Ausbildung der Persönlichkeit“ (S. 38) gestellt wurde. Sicher sagt das noch nichts darüber aus wie bedeutend dieser Zusammenhang sein mag, nicht einmal ob er überhaupt besteht. Allerdings kam in der letzten Sitzung auch das Phänomen zur Sprache, dass sich im eigenen Umfeld häufig Menschen befinden, die in wesentlichen Punkten schon ähnlicher Ansicht sind. Darüber hinaus konsumieren wir gerne Nachrichten die unserer politischen Agenda entsprechen, gehen in Seminare die dazu passen und schauen Filme und Serien in denen Dinge gezeigt werden die zu unserem Weltbild passen. Es gibt schon einen Grund dafür, dass die Komfortzone ihren Namen hat und dass eine Armee von „Persönlichkeitscoaches“ sich auf die Fahne geschrieben hat dich aus ihr rauszudrängen und sich dann dafür bezahlen zu lassen (solche merkwürdigen Typen). Das alles legt zumindest nahe, dass der größere Teil der Persönlichkeitsentwicklung in Auseinandersetzung mit Fremdem/Fremden zustande kommt.

Wenn man glaubt dass dieser Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Erfahrung in der Öffentlichkeit besteht, eröffnet sich eine neue Perspektive auf unser Seminarthema. Privatheit stellte sich auch bei den bisher behandelten Autoren schon immer als etwas wertvolles, schützenswertes dar. Nicht jedes Mal lag der Fokus darauf warum Privatheit überhaupt wichtig ist, aber das Streiten für gesetzliche Regelungen, der Versuch herzuleiten woher ein Recht auf Privatheit kommen könnte impliziert den Wert der Privatheit. Natürlich war bei den anderen Autoren mit denen wir uns befasst haben, öffentliches Leben nichts per se falsches oder gefährliches. Neu ist bei Arendt und Sennett allerdings die Anerkennung des öffentlichen Lebens als etwas, das auch einen Wert für das Leben des Menschen hat, das auch bestimmte Idealbedingungen hat und das auch von der Privatheit bedroht sein kann.

Wenn man das ernst nimmt lohnt es sich vielleicht nicht nur zu diskutieren, was Privatheit bedeutet, wieso das wichtig ist und wie man die am besten sicherstellt, sondern eben auch was an Öffentlichkeit wichtig ist, wie das am Besten gestaltet werden sollte und was da alles nichts zu suchen hat.

 

Die bei Sennett angesprochene Bedeutung der Begegnungen im öffentlichen Raum für die Persönlichkeitsentwicklung ist eher positiv gefärbt, schließlich hebt sich eine Gesellschaft die dieses Ideal teilt von dem von ihm kritisierten Intimitätskult ab. Es gibt allerdings auch Klassiker die diese Erfahrung kritisch sehen, ich denke das ist zumindest grob den meisten noch aus der Schule bekannt.

 

 

Richard Sennett: „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei der Intimität

Hannah Arendt, unabhängig von allen Fragen zu ihrer Haltung zum Feminismus, lebte ganz offensichtlich eine strikte Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit. Man mag von der Existenz oder Gefährdung von „weiblichen Qualitäten“ im Privatleben ausgehen oder nicht, offensichtlich ist, dass sie für sich das Recht in Anspruch nahm, ihr Verhalten radikal in eine öffentliche und eine private Sphäre einzuteilen und ganz unterschiedlich auszuleben. Ihrer politischen Glaubwürdigkeit tat ihre Entscheidung für ein völlig anderes Selbstkonzept im Privatbereich keinerlei Abbruch. Völlig anders ist das bei heutigen Politikern. Insbesondere im anglo-amerikanischen, aber auch immer stärker im deutschen politischen Kontext scheint die Analyse von Richard Sennett zunehmend zutreffend, dass wir bei politischen Führern „man (…) also darauf (sieht), was für ein Mensch er ist, statt darauf, wie er handelt und welche Programme er vertritt. Das übermäßige Interesse an Personen auf Kosten der gesellschaftlichen Beziehungen wirkt wie ein Filter, der unser rationales Gesellschaftsverständnis verfärbt.“ (S. 16) Beispiele hierfür erübrigen sich, da sie allgegenwärtig sind. Stimmt dann also auch die übrige Konstruktion von Sennetts Gedanken?

Zunächst zu einer groben Zusammenfassung:

Sennett führt aus, dass im Altertum, in der griechischen polis, nicht nur klar zwischen privater und öffentlicher Sphäre unterschieden wurde, sondern dass die Teilnahme am öffentlichen, politischen Leben (für freie Männer) Selbstverständlichkeit und Pflicht gleichermaßen war. Noch im 18. Jahrhundert galt es als charakterprägende Notwendigkeit (für Männer), Erfahrungen im öffentlichen Leben zu machen, um auf dessen moralische Verwerflichkeit vorbereitet zu sein. Unsere Epoche sei hingegen, so Sennett, durch einen Rückzug der Menschen aus dem öffentlichen Leben, dem öffentlichen Raum und eine gleichzeitige Psychologisierung aller, auch unbelebter oder tierischer Sachverhalte gekennzeichnet. Folglich sind wir „dahin gekommen (…), diese psychologischen Wohltaten („Wärme, Vertrauen und die Möglichkeit zum offenen Ausdruck von Gefühlen“) in all unseren Erfahrungsbereichen zu erwarten, und weil ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens, der sehr wohl von Bedeutung ist, diese psychologischen Gratifikationen nicht zu bieten vermag, kommt es uns so vor, als lasse uns diese Außenwelt, die ‚objektive Welt‘ im Stich; sie wirkt dann schal und leer.“ (S. 17) Daraus folgt dann aber nach Sennett auch: „Die Welt intimer Empfindungen verliert alle Grenzen; sie wird nicht mehr von einer öffentlichen Welt begrenzt, die eine Art Gegengewicht zur Intimität darstellen würde.“ (S. 19) Das führt, ausgedrückt vor allem auch in der Architektur, zu dem „Paradoxon von Sichtbarkeit und Isolation“ (S. 28).

Bewertung:

Breitner (1999)  zitiert mehrere durchaus fundierte kritische Betrachtungsweisen des Werks von Sennett. Insbesondere hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit seines Vorgehens scheinen Zweifel angebracht, denn er führt zwar zahlreiche, aus seiner Sicht zwingende Belege an, setzt sich aber nicht mit möglichen Gegenargumenten auseinander. Der Versuch der Falsifikation als Quelle des Erkenntnisgewinns und damit die kritische Eigendistanz liegt Sennett fern. Dennoch sprechen viele Beobachtungen für seine grundlegende Analyse. Unsere Berichterstattung, sogar im Bereich der vermeintlichen „Nachrichten“ hat einen Grad der Fokussierung auf Erlebnisse, Personen und ihre Gefühle erreicht, der absoluter Desinformation nahekommt. In sozialen Portalen betreiben Menschen in einer Zahl und einem Ausmaß Selbstentblößung, die schwierig zu erklären sind. Und gleichzeitig scheint das öffentliche Interesse an politischen Themen und Diskussionen abzunehmen. Folter in Guantanamo ist ok, wenn der betreffende Politiker nur ausgelassen mit seinen Hunden spielen kann. Gebrochene Wahlversprechen sind irrelevant, wenn die Ehefrau eine Stilikone ist. Vielleicht ist ja gerade vor diesem Hintergrund die Reaktion zu verstehen, die Daniel Solove mit „Nothing to hide, nothing to fear“ zusammenfasst. Tatsächlich interessiert sich ein Staat nicht dafür, ob ich eine Katze oder einen Hund mein eigen nenne und ob das Tier in einer Hütte draußen oder im eigenen Bett schläft, wohl aber dafür, welche politischen Einstellungen ich habe – wenn ich welche habe. Insofern ist es möglicherweise gar kein Paradox, dass maximale persönliche Sichtbarkeit und öffentliche, politische Isolation oder Abstinenz zusammen treffen. Die öffentliche Sichtbarkeit könnte nämlich bewusst genutzt werden, um politisches Engagement abzutrainieren, damit man nichts zu verbergen hat. Da dieser Gedanke ziemlich erschreckend ist, wäre es schön, wenn es uns gemeinsam gelänge, ihn zu widerlegen. Schaffen wir das?

Hannah Arendt: Leitfigur oder Feindin des Feminismus?

In der Sitzung am 4.12. haben wir uns mit dem 2. Kapitel des Textes: „Vita Activa oder vom tätigen Leben“ von Hannah Arendt beschäftigt. Wir übten uns im Kollaborativem Schreiben, in dem wir drei Fragen zum Text Arendts zu beantworten versuchten. Doch zusätzlich stellte sich noch eine weitere, in meinen Augen spannende, Frage. Es wurde nämlich nicht klar, wie Hannah Arendt nun wirklich zum Thema Feminismus steht. Sie ordnet, in Vita Activa, die Reproduktion und die Familienplanung in den privaten Raum und so auch die weiblichen Aktivitäten in eben diesen ein. Dafür wurde sie auch von vielen Feministinnen kritisiert, doch ist Hannah Arendt wirklich anti-feministisch?

Wie schon beschrieben nimmt Arendt Bezug auf den geschichtlichen Hintergrund des Bildes der Frau. Denn in der Antike gehörte die Frau ganz eindeutig in den Bereich des Privaten. Sie gehörte, zusammen mit den Sklaven, in einen familiären Kontext.

Heutzutage hat sich diese Situation selbstverständlich verändert. Arendt selbst stand in der Öffentlichkeit als Frau und das sehr erfolgreich.

Trotzdem hat sie sich gegen eher den Feminismus ausgesprochen. Dies ist verwunderlich, da es ihr gelungen ist die damalige Männerdomäne der politischen Theorie erfolgreich zu erobern. Niemand hat sie jemals angezweifelt aufgrund ihres Geschlechts und sie selbst meint, dass sie in keinem Punkt ihres Lebens darüber nachgedacht hätte ob ihre Tätigkeiten typisch weiblich gewesen wären. („Ich hab einfach gerne gemacht was ich machen wollte.“, Interview mit Günter Gaus, 1964)

Doch im selben Atemzug behauptet sie, dass sie seit jeher eine traditionelle Meinung zu Frauen gehabt hätte und dass es Tätigkeiten gäbe die „Frauen nicht stehen“ (Interview mit Günter Gaus, 1964) und wenn Frauen diese ausführen, ihre „weiblichen Qualitäten“ verlieren würden. In ihrem eigenen Privatleben ist sie durchaus „typisch weiblichen Tätigkeiten“ nachgegangen („Sie brät Spiegeleier (…) [oder] etwa dass sie ihrem Mann die Pantoffeln holt“, Antje Schrupp – Hannah Arendt und der Feminismus)

Arendt scheint privat also durchaus ihre „weiblichen Qualitäten“ (welche immer das auch sind) bewahren zu wollen, aber im öffentlichen Raum die Geschlechterfrage als unwichtig zu betrachten. Sie ordnet das Geschlechterverhältnis also dem Privaten zu, folglich ist ihre Weiblichkeit für ihr öffentliches Leben schlichtweg unerheblich. Aus diesem Grund würde sie niemals den Feminismus unterstützen, da dieser einerseits versucht politisches und geschlechtliches zu vermischen und andererseits sich für die Interessensgruppen der Frauen einsetzt. Auch das ist etwas, dass für Hannah Arendt nicht sinnvoll ist. Sie schreibt: „Es ist wichtig wer wir sind, nicht was wir sind“ (Arendt: Vita Activa, S. 20f.).

Damit bringt sie zum Ausdruck, dass alle Menschen voneinander verschieden sind und gewisse Personen nicht aufgrund einer gemeinsamen Eigenschaft, einen Interessensgruppe bilden sollten, mit einem Individuum an der Spitze, dass die Interessen aller vertritt. Doch der Feminismus wäre genau so eine Interessensgruppe und Arendt würde niemals als Frau für andere Frauen sprechen, genauso wenig als Jüdin für andere Juden.

Um nochmal auf das historische Argument vom Anfang einzugehen, dass sie auch in Vita Activa anspricht, dass Frauen auf Grund ihrer körperlichen Beschaffenheit in den privaten Bereich gehören, würde ich sagen, dass für Arendt der „Ort von Geburt und Tod (…) der Bereich des Haushalts“ war. (Arendt, Vita Activa S. 77). Da nun aber die Geburt eines Menschen untrennbar mit dem weiblichen Geschlecht verbunden ist, gehört das weibliche in diesem Moment des Gebärens in den Bereich des Haushalts, also in das Private. Würden Männer gebären können, würden sie auch in diesem Aspekt an den Haushalt gebunden sein.

Abschließend ist also zu sagen, dass Hannah Arendt selbst in ihrem öffentlichen Auftreten in jedem Fall eine starke und präsente Frau ist, die durchaus Ideale des Feminismus verkörpert, aber sich selbst niemals diesem verschreiben würde. Da sie vom Pluralitätsprinzip ausgeht, in dem jeder Mensch unterschiedlich ist. Sie hat eine sehr traditionelle Ansicht von einer Frau, wenn es um den privaten Bereich geht, lässt im öffentlichen aber die Geschlechterfrage ganz außen vor.

Diese Ansicht ist, was den öffentlichen Sektor angeht, in meinen Augen sehr fortschrittlich. Würde es im öffentlichen Leben keinen Unterschied mehr machen, ob nun eine Frau oder ein Mann in einer Führungspostion ist oder Kinder unterrichtet, wäre das eine enorme Bereicherung für die Gesellschaft.

Dies aber nicht auch auf das Private zu beziehen, halte ihr wiederum für rückschrittlich, keine Frau sollte gezwungen sein, ihrem Ehemann seine Pantoffeln zu bringen oder überhaupt einen Ehemann zu haben. Dieser traditionellen Sichtweise Arendts muss ich eindeutig widersprechen, da sie sowohl Frauen als auch Männern eine Rolle aufzwingt, der sie in vielen Fällen nicht entsprechen wollen, vor allem nicht in ihren eigenen vier Wänden. Es ist ja nicht so, dass der Pluralismus der Persönlichkeiten aufhört, nur weil man sich im privaten Raum aufhält.

Aber was würdet ihr sagen, würdet ihr Arendt als Antifeministin beschreiben? Findet ihr es richtig, dass Frauen im Privaten ihre „weiblichen Qualitäten“ verlieren können, wenn sie ein falsches Verhalten an den Tag legen?

Unter diesem Text, findet ihr noch das Interview Arendts mit Günter Gaus aus dem Jahr 1964. Der Abschnitt 0 – 5:22 min ist für unseren Sachverhalt interessant. Aber trotzdem ist das ganze Interview spannend, für jemanden, der sich die Zeit nehmen will.

Kollaboratives Schreiben zu Arendt

Danke an alle, die sich an unserer „Übung“ beteiligt haben. Falls euch interessiert, was die Auswertung ergeben hat, hier ist das Ergebnis der Umfrage. Ich habe mir den Text angesehen und bin durchaus beeindruckt von euren Einsichten. Wie versprochen wird am Anfang der kommenden Sitzung nochmal ein Block zu Arendt stehen.

Hannah Arendt: Ist das private Leben dem öffentlichen unterzuordnen?

Der Buchtitel „Vita activa“ verweist bereits auf einen Grundgedanken Hannah Arendts: Der Mensch ist nur dann Mensch, wenn er handelt. Handeln zählt für Hannah Arendt neben der Arbeit und dem Herstellen zu den drei menschlichen Grundtätigkeiten und der Buchtitel lässt erahnen, dass sie diese menschliche Grundtätigkeit, die sich ausschließlich im öffentlichen Bereich abspiele, als am wichtigsten einordnet. Hieran kann man bereits eine geringere Wertschätzung Arendts gegenüber Privatheit erkennen, stellt man ihr der öffentlichen Seite gegenüber.

Ganz allgemein unterscheidet Arendt erstmal „öffentlich“ und „privat“ wie folgt: „Die einfache Unterscheidung zwischen privat und öffentlich entspricht dem Bereich des Haushaltes auf der einen, dem Raum des Politischen auf der anderen Seite“ (S. 31).

Geht man tiefer ins Detail, so beinhaltet für Arendt das Wort „Öffentlich“ zwei Phänomene. Zum Einen erzeugt es Wirklichkeit, in dem alles, „was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist“ (S. 49), und zum Anderen ist es die Welt selbst (diese Welt ist nicht mit der Erde oder die Natur als Ganzes identisch, sondern ist „vielmehr sowohl ein Gebilde von Menschenhand wie der Inbegriff aller nur zwischen Menschen spielender Angelegenheiten, die handgreiflich in der hergestellten Welt zum Vorschein kommen“(S. 52)). Wer also nur ein Privatleben führe, würde in erster Linie, in einem Zustand leben, in dem man bestimmter, wesentlich menschlicher Dinge beraubt ist, u.a. der Wirklichkeit, die durch das Gesehen und Gehört werden entsteht. „Solitude“ als Lebensmotto steht sie also äußerst kritisch gegenüber. Diese Auffassung, dass man auch die politische/öffentliche Seite braucht, vertreten auch heutzutage die meisten Theoretiker wie zum Beispiel Bernd Ladwig.

Privatheit ist für Hannah Arendt natürlich keineswegs irrelevant, da zum Beispiel nur die Liebe in einem privaten Raum wirklich gedeihen kann, aber indirekt lässt sich (auch anhand ihrer dauernden idealisierenden Vergleiche zu der griechischen Polis erkennen, in der die politische Seite einen sehr hohen Stellenwert hatte) erkennen, dass sie eher die öffentliche Seite der privaten vorziehen würde als umgekehrt. Hieran ist auch zu erkennen, wie stark Aristoteles Hannah Arendt beeinflusste. Aristoteles vertrat die Auffassung, dass der Mensch ein politisches Tier (ein „zoon politikon“) sei, das sich nur im öffentlichem Raum angemessen verwirklichen könne (s. hierzu vor allem Aristoteles staatspolitische Schrift „Politik“ (Buch 1)).

Dieser überwiegend einseitige Ausspruch für den öffentlichen Bereich ist meiner Meinung nach zu eng gefasst. Ein Leben außerhalb der Öffentlichkeit, also vorwiegend außerhalb des politischen Bereiches, kann in manchen Lebensabschnitten wichtig sein, sei es ein familiärer Trauerfall oder die Gründung einer Familie und die daraus sich ergebende körperliche wie seelische Versorgung dieser. Zudem stehe ich ihrer Auffassung, dass Freundschaften in den öffentlichen Raum gehören, sehr kontrovers gegenüber. Manche Freundschaften können erst im privaten Raum wirklich gedeihen. Stellen wir uns zum Beispiel vor, wir wären in der Führungsriege eines medienpräsenten Unternehmens aufgestiegen und würden öffentlich eine Freundschaft zu einem Mitarbeiter eines konkurrierenden Unternehmens führen. Diese Freundschaft könnte aber meine beruflichen Ziele gefährden, wenn mein Vorgesetzter zum Beispiel befürchtet, dass ich sensible Informationen mit ihm austauschen würde. Hier wäre also, ganz im Sinne der Rational-Choice-Theorie, eine Freundschaft im Verborgenen, also im privaten Raum, am sinnvollsten. Und so kann auch ein (vorübergehender) Rückzug aus dem öffentlichen Bereich anhand der Rational-Choice-Theorie legitimiert werden, also der Gedanke: „Das Licht der Öffentlichkeit: eine optische Täuschung“ (Wolfgang Mocker).

Über Frauen, Regenschirme und was das mit Privatheit zu tun hat

Wir haben uns letzten Freitag mit dem Text von Anita L. Allen und ihrer Privacy Definition beschäftigt. Zwei Punkte die wir dabei in unserer Diskussion angesprochen haben möchte ich, in diesem Beitrag, nochmal ins Blickfeld rücken: Da wäre zum einen das Regenschirm – Konzept und zum anderen die Privatsphäre der Frau.

Allen beschreibt in ihrem BRegenschrimprinzip vs. Familienähnlichkeituch das „umbrella concept(s)“ (Allen, 1988, S.7), welches im Gegensatz zur Familienähnlichkeit ein ein deutlich geordneteres, abgrenzbareres Bild von Privacy unterstellt. Unter einem „Schirm“ vereint Privacy hier Begriffe wie seclusion, secrecy, confidentiality und anonymity. Bei der Familienähnlichkeit auf der anderen Seite geht es eher um eine gemeinsame Essenz aller Verwendungen und Definitionen des Begriffes. Ich für meinen Teil würde vielmehr zum Konzept der Familienähnlichkeit tendieren. Wie seht ihr das?

Zur gesellschaftlich anerzogenen Bescheidenheit der Frau „feminine modesty“ (Allen, 1988,S.20 ) und ihren Folgen auf die Privatsphäre

Vieles hat sich seit 1900 in Bezug auf die Frau gewandelt. Frauen dürfen wählen gehen, arbeiten und selbstbestimmt leben. Dieses, nennen wir es Phänomen, ist besonders durch die Folgen zweier Weltkriege geprägt. Ein Punkt, der sich in den Köpfen der Gesellschaft allerdings noch nicht sehr stark gewandelt hat, ist das Bild von Mädchen und Frauen. Sie sind die lieben, fleißigen und bescheidenen Geschöpfe der Menschheit, harmoniebedürftig und diplomatisch. Durch dieses Bild in den Köpfen der Gesellschaft haben Frauen seit Jahrhunderten eine besondere Privatsphäre zu inne. Früher war die Frau der ruhige Pol, der sich, anders als die Männer, züchtig und zurückhaltend benehmen musste. Es wurde von Frauen erwartet, dass sie sich ruhig und sittsam verhielten und wenig Privates von sich preisgaben. Nun ist die Frau weiter gekommen, sie möchte ihre Errungenschaften genießen und ein Stück der ungewollten Privatsphäre aufgeben. Die Gesellschaft dies aber nicht zu. Eine wesentliche Konsequenz, wenn Frauen es doch tuen, ist soziale Abwertung. Schon Elisabeth Noelle Neumann sprach in Ihrer viel zitierten Theorie der Schweigespirale von der Isolationsfurcht des Menschen, was auf diesen Fall sehr gut anwendbar ist.Die Frauen fürchten sich vor gesellschaftlicher Isolation, wenn sie sich anders verhalten, als die Gesellschaft es von ihnen erwartet. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die Sexualität: Wenn ein Mann mit vielen Frauen schläft wird er gesellschaftlich für seine sexuellen „Errungenschaften“ bewundert. Wenn eine Frau dies tut, muss sie sich gesellschaftlicher Verachtung und Diskriminierung stellen. Nun stellt sich die Frage: Wenn man Mädchen und Frauen genauso erziehen würde wie Jungen und Männer und es keine konstruierten Geschlechterrollen gäbe, sähe die Realität dann anderes aus? Eine Vorreiterin im Bereich des gesellschaftlich Konstruierten Geschlechts ist Judith Butler mit ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ die dazu sehr kontroverse Vorstellungen vertritt und deren Literatur ich jedem*r, der*die sich für dieses Thema interessiert, mal ans Herz legen würde.

Warum es keine allgemeingültige Definition von „privacy“ gibt

Die Literatur zur kommenden Sitzung – den 27. November –  ist das erste Kapitel des 1988 erschienenen Buches „UNEASY ACCESS – Privacy for woman in a free society“ von Anita L. Allen.

Das Buch, dass eine „broad range of the privacy and privacy-related problems confronting American women“ (Preface) liefern soll, beschäftigt sich im ersten Kapitel mit einem Überblick und einer Einordnung unterschiedlicher Verwendungen, Definitionen und Konnotationen des spätestens seit den 70er Jahren inflationär verwendeten Begriffs der „privacy“ und dessen spezieller Bedeutung aus feministischer Sicht.

Als Basis bildet Allen hier die These, dass die große Anzahl an unterschiedlichen Definitionen des Begriffs „privacy“ unter anderem eines Zusammenspiels dreier Dimensionen („factors“) geschuldet ist. Angefangen mit der unterschiedlichen Verwendung des Begriffs und seiner Konnotation, über verschiedene Gründe eine solche Definition überhaupt vorzunehmen („definitional pragmatism“ & „definitional prescription“), bis zu Unterschieden in der Herangehensweise der Definition selbst.
Diese Erklärung finde ich sehr nützlich und plausibel, weil sich so das Definitions-Wirrwarr in eine Struktur pressen lässt.

Sie arbeitet sich an unterschiedlichen Definitionen (Westin, Gavison, Keith,…) ab und versucht so bestimmte Sichtweisen zusammenfassend darzulegen und gegenüberzustellen.

Hier nimmt Allen m.M.n. eine zweite, gröbere Einteilung vor, die meinem Verständnis nach parallel zu den drei Dimensionen verstanden werden muss. Eine Einteilung in „inclusive definitions“ („broadly“) und „exclusive definitions“ („narrowly“), die in der Gegenüberstellung der Definitionen von W. A. Parent („[privacy is] a condition of not undocumented personal information about oneself known by others“) und von Ruth Gavison („[privacy is] limited access in the sense of solitude, secrecy and anonymity“) am deutlichsten sichtbar wird.

Die sehr weite fachsprachliche Antwort, auf den „warm, emotional term“ Privatheit, von Parent unterscheidet sich nicht nur in dem Grad der Universalität von Gavison’s Definition, sondern vor allem in der Perspektive.

Parent betrachtet die Privatheit aus der Perspektive des Individuums und stellt die Frage „Was ist Privat?“ aus der Ich-Perspektive, während Gavison aus der Perspektive des Umfelds auf die Individuen und ihre privaten Bereiche schaut, zu denen das Umfeld keinen „access“ (vgl. Allen’s „inaccessibility“) hat, und fragt „Was ist nicht Öffentlich?“.

Die Perspektive der „inclusive definitions“, die hier exemplarisch Gavison repräsentiert ist also nach meinem Verständnis das Negativ von Parent’s Perspektive der „exclusive definitions“.

Eine Frage, die bei dieser Logik aufkommt ist, wie man sie z.B. auf das Fallbeispiel bzgl. der Verletzung der Privatheit durch Zigarettenrauch (vom Nachbartisch im Restaurant) anwenden könnte. Wobei ich gerade in diesem Fallbeispiel eine Abgrenzung des Eingriffs in die Privatheit vom Eingriff in die Privatsphäre notwendig fände.

Bei aller Beschäftigung mit der Definition des Begriffes ist mir Folgendes durch den Kopf gegangen:

Ist Privatheit nicht das, was man eigentlich nicht beschreiben kann, weil es einem stetigen „Erscheinungs-Wandel“ unterzogen ist, im Kern aber unantastbar bleibt?

Denn je massiver der Zugang („access“) und die Angriffe auf die Privatheit sind, desto ausgeprägter, wandlungsfähiger (in der Erscheinung) und fester (im Kern) wird dadurch das Innere der Privatheit. Dieses Phänomen existiert meiner Ansicht nach unabhängig von Geschlecht, Mentalität und Sozialisation (sozialer Status).

Die Balance von Freiheit vs. Sicherheit und warum Organisationen Privatheit benötigen

In unserer Sitzung vom 20.11. wurde vor allem das von Westin zu Beginn seines Buches „privacy and freedom“ mithilfe von Beschreibungen aus sog. „primitiven Kulturen“ und der Tierwelt konstruierte „quasi-biologische Bedürfnis“ nach Privatheit kontrovers diskutiert und infrage gestellt. Da dazu vieles an Kritik aufgegriffen wurde was bereits im vorbereitenden Blogbeitrag stand möchte ich vor allem auf Aspekte eingehen die keine oder kaum Beachtung fanden, aber dem Recht auf Privatheit, welches im Seminar bisher vor allem ein indivduelles Schutzrecht war, eine völlig neue Bedeutungsdimension zusprechen.

So führt Westin an, dass Privatheit für das funktionieren von Demokratie von elemenatrer Bedeutung ist. Er beschreibt es als Teil einer Balance zwischen staatlichen Geheimniskrämerei und Überwachung auf der einen und Privatheit für Individuen und Organisationen auf der anderen Seite. Während Autoritäre Regime vor allem wenig Privatheit und maximale Geheimniskrämerei und Überwachung anstreben, ist es in Demokratien genau gegenteilig. Privatheit wäre somit mehr als nur ein individuelles Recht, in Ruhe gelassen zu werden, sondern vielmehr ein notwendiges Recht für eine funktionierende Demokratie.

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Wenn in einer Demokratie diese Balance auseinanderfällt, ist auch die Demokratie selbst in Gefahr. Durch die Möglichkeiten der Digitalen Revolution sind Geheimdienste eine viel größere Gefährdung für die Privatsphäre, da es noch nie so leicht war so unbegrenzt viele Informationen über alles und jede*n zu sammeln. Allein der BND darf 20% der gesamten digitalen Kommunikation die über Deutschland läuft abfangen. In der Folge stellt sich die Frage ob Geheimdienste die Demokratie die sie schützen sollen nicht gefährden. Dieser Gegensatz wird auch in dem Konferenzbeitrag von Katja Gloger, Markus Löning und Christian Flisek „Demokratie vs. Geheimdienste“ auf der Re Publica 14 aufgemacht, in dem u.a. festgestellt wird, dass es sich bei den NSA-Skandalen nicht bloß um einen wilden, unkontrollierten Geheimdienst handelt, sondern diese Aktivitäten heutzutage Geheimdienststandard und politisch gewollt sind.

Wenn der große Teile unseres Lebens digitalisiert ist, ein Großteil der digitalisierten Kommunikation jedoch abgefangen wird, was ist dann heutzutage überhaupt noch Privat? Und wenn der Rückzug ins analoge weder gewollt noch möglich ist, wie kann die Balance zwischen Sicherheit und Privatheit die immer mehr ins Ungleichgewicht fällt wiederhergestellt werden?

Als letzten Aspekt möchte ich den Punkt aufgreifen, dass auch Organisationen Privatheit benötigen. Während dieser Gedanke zunächst ein wenig komisch anmuten mag, da im Seminar Privatheit bisher lediglich als individuelles Recht betrachtet wurde, gibt es in der jüngeren Vergangenheit Diskussionen und Gruppierungen die diesen Gedanken sehr schön veranschaulichen. Das ist zum einen die Diskussion um mehr staatliche Transparenz und das Beispiel der Piratenpartei, die genau dieses Thema auf die politische Tagesordnung gehoben hatte. Peter Hoeres zeigt in seinem Artikel mithilfe historischer Beispiele, dass „totale Transparenz“ schädlich ist, da gerade im Bereich der Außenpolitik nur durch vertauliche Kommunikation abseits der Öffentlichkeit Vertrauen aufgebaut und erhalten werden kann um gerade in schwierigen Situationen Lösungen zu finden. Damit veranschaulicht er warum die „Organisation“ Regierung Privatheit benötigt. Und die Piratenpartei hat eindrucksvoll gezeigt was passiert, wenn sich eine Organisation eben jener Privatheit verweigert. Die ständige Zurschaustellung innerer Konflikte, das fehlende Möglichkeit sich unbeachtet vom Lichte der (Partei)Öffentlichkeit auf Kompromisse zu einigen und eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, hat letztlich mit zum Scheitern der Piratenpartei geführt und deutlich vor Augen geführt, warum auch Organisationen Privatheit benötigen.

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Das primordiale Bedürfnis nach Privatheit und seine Grenzen

Alan Westins einflussreiche Analyse zum Begriff der Privatheit beginnt etwas befremdlich mit Ausführungen zur Privatheit bei Tieren und in „primitiven“ Gesellschaften, an deren Ende er zu dem Schluss kommt: „…the quest for privacy is not restricted to man alone, but arises in the biological and social processes of all life“ (11). Er beschreibt in einiger Detailtiefe die unterschiedlichen Formen des Rückzugs und der Abgrenzung, die sich bei Tieren und in dem was er, dem zeitgenössischen Sprachgebrauch folgend, ohne Scham als „primitive Gesellschaften“ bezeichnet, gleichermaßen finden ließen. Auch wenn sich unterscheide, welche Handlungen, Räume oder Kommunikation als privat angesehen werde, lasse sich doch feststellen, dass private Bereiche überall existieren. Dort wo sich keine räumliche Trennung ergebe, würden soziale Normen und Rituale psychologische Privatheit ermöglichen. Auf diese Weise konstruiert Westin ein primordiales Bedürfnis nach Privatheit, eine ursprüngliche Notwendigkeit für eine – dann nur noch kulturell überformte – Ermöglichung privater Lebensbereiche – Privatheit als ein quasi-biologisches Bedürfnis. Darauf aufbauend argumentiert Westin nun, dass unterschiedliche Kulturen unterschiedliche Balancezustände zwischen Überwachung und Privatheit ausbilden würden. Während in den Vereinigten Staaten eine libertäre Balance grössere Offenheit und Transparenz bedinge, sei beispielsweise in Deutschland historisch eine stärker autoritäre Vorstellung tonangebend, die striktere Abgrenzungen mit sich bringe. Erst vor diesem Hintergrund entwickelt er die allgemeine Theorie, die im Pflichttext Funktionen und Variationen darlegt.

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Ist Nacktheit privat? Und ab wann?

Mich hat seine Argumentation in diesem Bereich nicht überzeugt. Im Hinblick auf die biologische Herleitung eines Bedürfnisses nach Privatheit war es vor allem die Vielzahl der unter dem Begriff Privatheit zusammengefassten Verhaltensweisen und sozialen Normen. Fasst alles liesse sich auch anders interpretieren. Der Fokus auf die unterschiedlichen Auffassungen zur Privatheit von Sexualakten in „primitiven“ Gesellschaften, die er als zumindest im Prinzip überall privat verstanden wissen will, wirkt konstruiert. Ich hatte eher den Eindruck, dass hier ein kulturell geprägtes Verständnis davon, was privat sein sollte, die Analyse der „Anderen“ geprägt hat. Auch die kulturellen Unterschiede und ihre Ausformung in modernen Gesellschaften fand ich hochgradig plakativ und vereinfachend. Auch wenn es sicherlich kulturelle Unterschiede im Verständnis von Privatheit gibt, ist die Entwicklung von Typen, die nationale Gesellschaften und ihr Privatheitsverständnis beschreiben sollen, etwas zu vereinfachend.

In der Sitzung wird dieser Aspekt sicherlich nur eine kleine Rolle spielen können, denn der zu lesende Text folgt einer anderen Systematik und wirft andere Fragen auf. Auch vor dem Hintergrund der in der letzten Sitzung zur Aktualität des „feministischen“ Ansatzes in der amerikanischen Rechtssprechung geführten Diskussion, schien es mir dennoch ein wesentlicher Aspekt der Kontextualsierung von Westins Argument zu sein.