#15
15. These: Das Konzept der Politikintegration muss auf den Prozess der wissenschaftlichen Identifikation von prioritären Problemen ausgeweitet werden.
Politische Entscheidungsprozesse sind seit Mitte der 1990er Jahre umfassend unter dem Aspekt der Politikintegration untersucht worden (Jordan/Lenschow 2010; Lafferty/Hovden 2003). Dabei wurde eine Vielfalt institutioneller und instrumenteller Arrangements identifiziert, die dazu beitragen können, Wechselwirkungen zwischen Politiken und Programmen frühzeitig zu erkennen und auf diese Weise ungewollte Problemverschiebungen zu vermeiden (Jacob/Volkery 2007). Das Erfordernis der Politikintegration betrifft aber nicht nur die Formulierung und den Vollzug politischer Programme und Maßnahmen. Eine integrierende Sicht ist vielmehr bereits bei der wissenschaftlichen Identifikation drängender Umweltprobleme wichtig. Allerdings hat sich die Umweltpolitikanalyse bisher nur unzureichend der Frage gewidmet, ob und gegebenenfalls wie Umweltpolitikintegration bereits in der Phase der wissenschaftlichen Identifikation von Problemen und Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen stattfindet.
In der politischen Praxis ist ein solcher integrativer Modus der wissenschaftlichen Problemfindung bisher allerdings nur selten zu beobachten. Nicht zuletzt widerspricht er den institutionalisierten Strategien der wissensbasierten Entscheidungsfindung in den meisten entwickelten Industrieländern und in internationalen Organisationen. So werden Berechnungen zu den gesundheitlichen Folgen von Umweltbelastungen heute meistens in hochspezialisierten Ausschüssen und Komitees erarbeitet. Diese Ausschüsse tendieren dazu, die Relevanz ihres jeweiligen Problembereichs gegenüber anderen Problemfeldern zu überschätzen. Ernst B. Haas hat das schon vor 30 Jahren am Beispiel der internationalen Meeresschutzpolitik als „eklektizistischen“ Modus der Entscheidungsfindung bezeichnet: „Eclecticism is the logical obverse of rationalism. Knowledge is not used in decision making so as to arrive at a more integrated understanding among sectors and disciplines. Fisheries experts, geophysicists, petroleum engineers, and naval architects go their separate professional ways; they make little effort to reinterpret their specialized knowledge under the conceptual roof of ‚managing the common heritage of mankind‘. Politicians and administrators also make no concerted effort to change the social objectives to which they are committed. They continue to conserve fish stocks instead of planning to meet nutritional needs; they encourage the construction of supertankers, issue leases for ocean mining, exclude foreign polluters from straits and harbors – all without integrating these objectives into an ordered set of priorities for the oceans” (Haas 1980: 381-382).
Berechnungen zu den gesundheitlichen Folgen von Umweltbelastungen sind heute von einem engen Fokus auf einzelne Schadstoffe oder spezifische Sektoren geprägt. Besonders deutlich wird das, wenn angesichts der Reaktorkatastrophe von Fukushima verschiedenste Regierungen und wissenschaftliche Behörden betonen, dass die dabei austretende Radioaktivität keine akute gesundheitliche Bedrohung darstellt, während praktisch zeitgleich die Weltgesundheitsorganisation warnt, dass in Europa jährlich mehr als eine Million gesunder Lebensjahre durch Lärmbelastungen verloren gehen (WHO (World Health Organization) 2011). Für die politikwissenschaftliche Forschung stellt sich die Frage, wie eine stärkere Politikintegration bereits in der Phase des wissenschaftlichen Agenda-Setting erreicht werden kann. Welche institutionellen oder prozeduralen Vorkehrungen können getroffen werden, um dem „Tunnelblick“ hochspezialisierter Experten in Wissenschaft und Verwaltung entgegenzuwirken und bereits bei der wissenschaftlichen Identifikation von Umweltproblemen eine erste Prioritätensetzung vorzunehmen?

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