Umweltpolitikanalyse

Eine Forschungsagenda

These #1

Politikwandel

Die Analyse von Politikwandel ist ein Kernbereich der Policy Analyse (Capano/Howlett 2009). Dabei geht es in erster Linie darum, Veränderungen der vorherrschenden Regulierungsmuster in unterschiedlichen Politikfeldern zu beschreiben und zu erklären (Sabatier/Jenkins-Smith 1993). Die Umweltpolitikanalyse hat sich bisher vorwiegend mit der Beschreibung und Erklärung von Politikinnovationen, d.h. der Einführung und/oder der internationalen Ausbreitung neuer Gesetze, Instrumente, Institutionen oder Steuerungsansätze, oder mit der Verschärfung bestehender Programme befasst (Lafferty/Meadowcroft 2000; Lafferty 2004; Jordan et al. 2003; Jordan/Liefferink 2004; Tews et al. 2003; Tews 2005; Busch/Jörgens 2005; Holzinger et al. 2008). Im Vordergrund stand dabei die Analyse der Erfolgsbedingungen ehrgeiziger und weitreichender umweltpolitischer Regulierung und die Entwicklung umweltpolitischer Handlungskapazitäten, sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene (Jänicke 1992, 1996a; Mitchell 1994; Young 1999; Miles et al. 2001; Weidner 2002). Dagegen hat es die Umweltpolitikanalyse bisher weitgehend versäumt, Sättigungseffekte in der umweltpolitischen Regulierung – d.h. die Tatsache, dass im Zeitverlauf immer weniger umweltpolitische Problembereiche unreguliert sind – systematisch zu berücksichtigen. Zwar haben vergleichende Diffusionsstudien in jüngster Zeit gezeigt, dass ein Großteil des aktuellen umweltpolitischen Maßnahmenkanons inzwischen von mehr als drei Vierteln der Industrie- und Schwellenländer übernommen worden ist (Busch/Jörgens 2010). Welche Konsequenzen diese Regulierungsdichte für die zukünftige Entwicklung im Politikfeld Umweltschutz hat, ist jedoch noch völlig offen. Im Folgenden werden Entwicklungen umweltpolitischer Institutionalisierung der vergangenen 40 Jahre skizziert und daraus resultierende Veränderungen der vordringlichen umweltpolitischen Fragestellungen identifiziert.

1. These: Mit zunehmender Regelungsdichte im Politikfeld Umweltschutz gewinnt die Frage der Prioritätensetzung und damit auch die Frage nach dem Abbau unwirksamer oder dysfunktionaler Politiken an Bedeutung.

Angesichts der jetzt schon hohen umweltpolitischen Regulierungsdichte und vor dem Hintergrund begrenzter umweltpolitischer Entscheidungs-, Monitoring- und Vollzugskapazitäten, stellt sich zunehmend die Frage, ob die Gesamtheit der heute geltenden Programme und Maßnahmen tatsächlich notwendig, problemadäquat und damit erhaltenswert ist. Einerseits erfordern begrenzte politische und finanzielle Ressourcen immer häufiger auch in der Umweltpolitik eine stärkere Prioritätensetzung (in anderen Politikfeldern wie etwa der Forschungs- oder der Verkehrspolitik ist eine solche Prioritätensetzung schon längst institutionalisiert). Andererseits steigt mit zunehmender Regelungsdichte auch die Wahrscheinlichkeit unwirksamer oder sogar dysfunktionaler Regelungen, die sich etwa in Zielkonflikten zwischen verschiedenen Umweltschutzprogrammen und -maßnahmen oder nicht-intendierten Problemverschiebungen manifestieren (Collins 2010; Patashnik 2008). Künftig wird es also immer wichtiger, dass weniger drängende Problemlösungen zugunsten solcher mit höherer Priorität zurückgestellt werden und dass auch bestehende Programme auf ihre Wirksamkeit geprüft und in die Prioritätensetzung einbezogen werden. Für die Umweltpolitikanalyse stellt sich vor diesem Hintergrund eine Reihe von Fragen, die bisher vorwiegend in anderen Politikfeldern untersucht worden sind (Bauer 2006a): Wie und aufgrund welcher Kriterien können umweltpolitische Prioritäten gesetzt werden? Wie kann die Konsistenz der verschiedenen umweltpolitischen Handlungsfelder sichergestellt werden? Welche Rolle können Nachhaltigkeitsstrategien dabei spielen (Jänicke et al. 2000; George/Kirkpatrick 2006, vgl. ausführlicher These 21)? Mit welchen Restriktionen sind politische Entscheidungsträger konfrontiert, wenn sie bestehende Politiken abbauen wollen? Wie unterscheiden sich die Determinanten des Politikabbaus von den Faktoren, die die Einführung neuer oder die Verschärfung bestehender Programme beeinflussen (Pierson 1994)? Schließlich stellt sich auch die Frage, wie vermieden werden kann, dass sich ineffektive oder dysfunktionale Programme nicht nur in einem politischen System festsetzen, sondern darüber hinaus auch noch international ausbreiten (Sharman 2010).

Eine Reaktion zu “These #1”

  1. Sandor Ragaly

    Lieber Klaus und Helge,

    vielen Dank für Euren intensiven und interessanten Input, einschließlich der guten Idee eines Blogs!

    Ich finde Euren – bisher, wie Ihr schreibt, nicht hinreichend untersuchten – Ansatz einer zu verstärkenden Selektivität hinsichtlich umweltpolischer Regelungen sehr rational und einleuchtend. Ein solcher Selektivitätszuwachs erscheint mir zugleich sehr wichtig, um die gewünschten Wirkungen tatsächlich und mit den vorhandenen Ressourcen erreichen zu können. Zugleich erfordert eine schärfere – und damit bedeutsamere – Prioritätensetzung m.E. einen entscheidungsorientierten Ausbau, eine entsprechende Institutionalisierung der gesamtgesellschaftlichen Nachhaltigkeitsdebatte. Darauf will ich im Folgenden hinaus.

    Wie ich zunächst verstanden habe, betreffen Eure Ausführungen (1) zentral die (wiss., polit. etc.) Aufstellung nachhaltigkeitsbezogener Prioritäten, wenn es um das Hinzufügen neuer staatlicher Regelungen geht. Diese sind angesichts einer zunehmenden „Akkumulation umweltpolitischer Regulierung“, der Frage entsprechender Sättigungseffekte und aufgrund der begrenzten Ressourcen von Umweltpolitik vermutlich schärfer und „smarter“ als bisher zu setzen.

    Mit der schärferen Selektivität aber wachsen m.E. zugleich die Anforderungen (in versch. Sinne), die an einen dann bedeutsameren Auswahlprozess zu stellen sind (s.u.).

    Zugleich sprecht Ihr an, es geht (2) auch um die Beendigung, es kann auch der Ersatz sein, von Regelungen, die sich bei Evaluierung als zu schwach oder gar umweltpolitisch dysfunktional erweisen – oder die schlicht ihr ökologisches Ziel längst erreicht haben, aber weiter Ressourcen in Anspruch nehmen (s. Terminierung des Politikzyklus‘). Auch bei diesem Vorgehen ist sicherlich eine (eigene) Auswahlstrategie notwendig.

    Die Aufstellung von Prioritäten für neue umweltpolitische Regelungen legt aus zwei Gründen einen breiten gesamtgesellschaftlichen Dialog- und Konsensfindungsprozess nahe: Zum einen erfordert die dann gewachsene Bedeutung des Auswahlprozesses in demokratischer Hinsicht stärkere Partizipation, geht es doch nicht allein um naturwissenschaftlich klärbare Fragen oder die Ressourcen und Restriktionen bei der politischen Umsetzung, sondern auch wesentlich um Präferenzen versch. Natur, deren Eingehen in die Auswahl ebenfalls von großer Tragweite sein wird (vgl. etwa die Indikatorendiskussion).

    Zum andern aber ermöglicht die Thematik *gerade* die immer geforderte, aber nur teilweise eingelöste, einlösbare Beteiligung größerer Teile der Gesellschaft, Politik etc., bzw. ihrer aktiveren Gruppen, könnte sich als eine große Chance im Sinne des Nachhaltigkeitspostulats erweisen.

    Es geht nach meiner Vorstellung mithin um eine vielleicht politikwissenschaftlich moderierte, jedenfalls breite konsensorientierte Debatte unter Beteiligung von (Umwelt-)Wissenschaften, Staat/Politik, gesellschaftlichen Gruppierungen/“dem“ Bürger, Wirtschaft und last, but not least – als zusammenfügendem und dynamisierendem Netzwerk – von Massenmedien, social networks u.a. Kommunikationswegen. Es könnte sich somit um einen primär formalisierten, aber relativ offenen Kommunikations- und letztlich wieder engen Entscheidungsprozess handeln. Zur institutionellen Verortung könnte die Nationale Nachhaltigkeitsstrategie bzw. die Bundesregierung dienen.

    Beispiele für Elemente eines solchen Prozesses bietet die öffentliche Tagung der neuen Ethikkommission zur Bewertung der Atomkraft, die Schlichtung von Stuttgart 21 oder die Internet-Dialogverfahren der Bundesregierung zur Nachhaltigkeitsstrategie – öffentlichkeitswirksamere und „engere“ Verfahren, die schließlich zur Entscheidung führen, müssen sich nicht ausschließen.

    Aus medienwissenschaftlicher Sicht fände ein solcher, letztlich scharf zielführender Dialogprozess (am Ende kein „Gelaber“, sondern Tragweite) m.E. zu nachhaltigem Medieninteresse. Schließlich wären an einem solchen Prozess „Elite-Akteure“ (die für Nachrichtenwert sorgen) sicherlich stark (und z.T. echauffiert 😉 ) beteiligt. Und schließlich ginge es um – etwa ökonomisch – hochrelevante Entscheidungen mit teils empfindlichen Folgen (Nachrichtenfaktor Bedeutsamkeit/Reichweite).

    Fazit: Ich finde Eure These I bzw. was daran anschließbar ist interessant und sehr relevant – für die Wirksamkeit und Machbarkeit umwelt- bzw. nachhaltigkeitsorientierter Politik im engeren Sinne, und für die Möglichkeit, mit diesem „Vehikel“ der Selektivitätssteigerung u.U. mehr als bisher einen gesamtgesellschaftlichen Nachhaltigkeitsprozess in Gang zu bringen.

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