Ich hatte die Gelegenheit, ein Auslandssemester an der Universidad de los Andes in Bogotá zu verbringen. Im Rahmen meines Masterstudiums der Interdisziplinären Lateinamerikastudien an der Freien Universität Berlin wollte ich meine akademischen Schwerpunkte in den Bereichen Entwicklung, Sicherheit und Transitional Justice in einem lateinamerikanischen Kontext vertiefen und zugleich die Phase der eigenständigen Feldforschung meiner Masterarbeit integrieren.
Planung und Organisation
Die Universidad de los Andes ist eine der renommiertesten Universitäten Lateinamerikas. Insbesondere in den Bereichen Post-Conflict und Peacebuilding sowie Development Studies im Kontext des kolumbianischen Friedensabkommens ist sie ausschlaggebende Institution.
Die Planung erforderte dennoch einige Geduld, primär bei der Kurswahl. Hier waren enge Fristen zu berücksichtigen, die eine sorgfältige Abstimmung verlangten, um die gewünschten Veranstaltungen zu belegen. Das Visum erwies sich als unkompliziert und das International Office der Uni Andes hat den Prozess absolut zuverlässig begleitet. Der Verlauf des Semesters wurde maßgeblich von meiner Entscheidung bestimmt, parallel zu den Kursen die Feldforschung für meine Masterarbeit zu organisieren. Dies war eine zeitlich und organisatorisch äußerst anspruchsvolle Doppelbelastung, die ich in dieser Form nur eingeschränkt empfehlen würde. Ohne bereits bestehende Kontakte und Netzwerke vor Ort und soziogeografische Kenntnisse wäre dies nicht möglich gewesen und ich würde davon sogar stark abraten. Ebenso waren die Betreuung durch den Professor an von meiner Heimatuniversität und der konstante Austausch mit Personen, die mit dem lokalen Kontext sehr vertraut waren, essenziell für das erfolgreiche Abschließen dieses Unterfangens.
Die Wohnsituation in Bogotá stellte sich als wichtige organisatorische Frage heraus. Private Unterkünfte sind nicht immer leicht zu finden, weshalb künftigen Austauschstudierenden geraten wird, frühzeitig mit der Suche zu beginnen oder die Wohnheime der Universität in Betracht zu ziehen. Diese bieten den Vorteil, dass dort viele kolumbianische Studierende leben, wodurch der Einstieg in das soziale Umfeld erleichtert wird. Zudem werden viele Events organisiert, bei denen man sich kennenlernen kann. Der Campus selbst ist durch hohe Sicherheitsstandards geschützt und bot mit seiner Lage am Fuße des Monserrate, also des Hausberges Bogotás, ein inspirierendes Umfeld.
Inhalte und Ablauf
Nach einer ersten Orientierungsphase wählte ich drei Kurse, die mein Studium sehr bereichert haben: „Transitional Justice“, „International Political Economy“ und „Environmental and Climate Justice“. Das universitäre System orientiert sich stark am US-amerikanischen Modell und sieht kontinuierliche Prüfungsleistungen in Form von wöchentlichen Abgaben, Referaten und Zwischenprüfungen vor. Diese Struktur bedeutete einerseits eine erhebliche Umstellung im Vergleich zur FU, ermöglichte mir jedoch auch, Inhalte besonders intensiv zu durchdringen und sie in den kleinen Seminargruppen kontinuierlich zu diskutieren.
Besonders prägend war das Seminar zu „Transitional Justice”, in dem grundlegende Debatten zu Legitimität und Vertrauen in Postkonfliktgesellschaften eröffnet wurden. Ebenso bedeutsam war das Seminar zu Environmental and Climate Justice, das radikale Perspektiven auf Fragen ökologisch-sozialer Transformation eröffnete. Durch die Kombination aus anspruchsvoller Lektüre, konstanten Prüfungen und Diskussionen in akademischem Spanisch habe ich in kurzer Zeit sehr viel gelernt, weit mehr, als in Berlin im gleichen Zeitraum möglich gewesen wäre.
Ferner war es mir möglich, einen renommierten Experten für Gewalt- und Sicherheitsforschung, insbesondere im kolumbianischen Kontext, als Zweitbetreuer meiner Masterarbeit zu gewinnen. Der Austausch mit Promovierenden am Centre for Interdisciplinary Development Studies (CIDER) ermöglichte mir nicht nur Einblicke in aktuelle Forschungsprojekte, sondern auch wertvolle Kontakte für meine Feldforschung und eine akademische Community, die in den arbeitsreichen Phasen sehr hilfreich und unterstützend war.
Forschungs- und Vernetzungsaspekte
Die Förderung der Studienstiftung ermöglichte mir eine Feldforschung in der Region Sierra Nevada de Santa Marta, die ohne finanzielle Unterstützung kaum realisierbar gewesen wäre, und hat damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung dieser Region und ihrer aktuellen Governance- sowie Entwicklungsstrukturen geleistet. Insbesondere organisatorische oder auch sicherheitsrelevante Entscheidungen waren in diesem Zusammenhang wesentlich einfacher und flexibler zu berücksichtigen.
Bei der Durchführung der Interviews war mir stets bewusst, dass die Forschung in konflikt- und gewaltsensiblen Kontexten eine besondere ethische Verantwortung mit sich bringt. Dazu gehörte, die Anonymität und Sicherheit der Interviewees zu gewährleisten, Erwartungen realistisch zu kommunizieren und ihre Bereitschaft zur Teilnahme nicht als selbstverständlich zu betrachten. Gerade in Regionen, in denen Forschung mit persönlichen Risiken verbunden ist, habe ich es als meine Pflicht angesehen, die Integrität der Teilnehmenden über den Erkenntnisgewinn zu stellen. Die Möglichkeit, kleine Reisezuschüsse oder Aufwandsentschädigungen zu leisten, verstand ich dabei weniger als materielle Unterstützung, sondern vielmehr als Ausdruck von Respekt und Anerkennung für ihre Offenheit. Diese Erfahrungen haben mir verdeutlicht, dass wissenschaftliche Neugier stets im Spannungsfeld von Verantwortung, Vertrauen und Fürsorge für die Befragten steht.
Gerade hier erwies sich die Forschung im Rahmen der Förderung als einmalige Chance: Ohne meinen Migrationshintergrund wäre es mir kaum möglich gewesen, eine derart anspruchsvolle Datenerhebung zu realisieren. Für mich als Halbkolumbianer wurde durch den Aufenthalt eine Rückkehr zu den eigenen Wurzeln erreicht, ein persönliches wie intellektuelles Erlebnis, durch das mir eindrücklich vor Augen geführt wurde, wie sehr Biografie und wissenschaftliches Arbeiten miteinander verwoben sein können und ohne Förderung kaum zu bewerkstelligen wären.
Persönlicher Gewinn und Herausforderungen
Neben den akademischen Erfahrungen war das Semester in Bogotá auch persönlich prägend. Herausfordernd war hingegen die soziale Zusammensetzung der Studierendenschaft: Diese entstammt überwiegend einer privilegierten gesellschaftlichen Schicht, was sich im Habitus und sozialen Umgang bemerkbar macht und für mich anfangs ungewohnt war. Dennoch eröffneten sich zahlreiche Möglichkeiten zur Integration, sei es durch gemeinsame Projekte oder über universitäre Veranstaltungen. Auch mit eingeschränkten Spanischkenntnissen ist eine Integration möglich, da viele kolumbianische Personen sehr offen und hilfsbereit sind. Dennoch empfehle ich dringend, Sprachkenntnisse möglichst vorab zu vertiefen, was für mich jedoch auf Grund meines muttersprachlichen Hintergrunds eine untergeordnete Rolle gespielt hat.
Die größte Belastung bestand in der Doppelrolle zwischen regulärem Studium und paralleler Feldforschung. Die enge Taktung des Semesters ließ wenig Raum für Erholung, Reisen oder spontane Aktivitäten. Gerade die Erfahrungen, die ich während der Forschung gemacht habe, haben mein Verständnis von Wissenschaft im „Globalen Süden“ entscheidend geprägt. Dazu gehören das Planen komplexer Reiserouten, die Organisation dutzender Interviews unter schwierigen Bedingungen und der Umgang mit sich verändernden Sicherheitslagen. Obwohl Spanisch meine Familiensprache ist, hat das Studium auf akademischem Niveau mein sprachliches Ausdrucksvermögen erheblich verbessert.
Nachhaltigkeit
Die Anreise erfolgte per Flug über Paris nach Bogotá. Vor Ort war es mir nur eingeschränkt möglich, nachhaltig zu leben, da Verpackungen und Mobilität in Kolumbien noch stark von wenig nachhaltigen Strukturen geprägt sind, was eine wichtige Erkenntnis dieses Aufenthaltes gewesen ist. Dennoch habe ich versucht, den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen, Netzwerke vor Ort zu stärken und Ressourcen bewusst einzusetzen. Insbesondere durch das Integrieren lokaler Lebensweisen, die mir nicht fremd waren, konnte man einen grundlegenden Einsatz beweisen.
Reflexion und Ausblick
Das Auslandssemester an der Universidad de los Andes war für mich sowohl fachlich als auch persönlich von unschätzbarem Wert. Ich konnte meinen Schwerpunkt in den Entwicklungs- und Sicherheitsstudien maßgeblich vertiefen, internationale Netzwerke und Freundschaften aufbauen und eine Grundlage für meine in ihrer Komplexität und Tiefe unübliche Masterarbeit schaffen. Persönlich hat mich der Aufenthalt gelehrt, mit Unsicherheit umzugehen, eigene Grenzen auszuloten und wissenschaftliche Neugier mit Verantwortung zu verbinden, nicht zuletzt gegenüber meiner zweiten Heimat.
Natürlich sind auch einige Wünsche offengeblieben: Mehr Zeit für die Feldforschung, eine weniger enge Taktung der Studienleistungen und eine sicherere Forschungssituation vor Ort wären wünschenswert gewesen; vordergründig letzteres ist jedoch stark von der eigenen Unfähigkeit geprägt, als Forschender einen aktiven Beitrag zur Verbesserung der hochkomplexen Sicherheits- und Entwicklungslage zu leisten. Dennoch überwiegt die Dankbarkeit: Die Studienstiftung hat mir eine einmalige Chance eröffnet, die ich ohne ihre Förderung nicht hätte ergreifen können.
Die Erfahrungen in Bogotá haben meinen weiteren Weg entscheidend geprägt. Vor allem aber haben sie mir gezeigt, wie wichtig es ist, wissenschaftliche Arbeit nicht nur aus der Distanz, sondern im direkten Austausch mit den lokalen Realitäten zu betreiben.
Für weitere Informationen oder einen Austausch mit Studien- oder Forschungsinteressierten stehe ich unter folgender E-Mail-Adresse zur Verfügung: santiago.loesslein@gmail.com.
Autor: Santiago Lösslein Pulido (2025)