Über Grenzregime, Widerstand, transnationale Vernetzung und Fluchthilfe. Ein Interview mit Harald Glöde, Borderline Europe-Menschenrecht ohne Grenzen e. V.
Harald Glöde ist Diplom Politologe und seit 2007 Mitbegründer und Vorstandsmitglied bei Borderline Europe- Menschenrechte ohne Grenzen e. V.. Bereits 1995 gründete er gemeinsam mit anderen die Forschungsgruppe Flucht und Migration (FFM e. V.) und engagierte sich zwischen 1996 und 2009 beim Flüchtlingsrat Brandenburg. In diesem Interview spricht er über die Grenzregime in EU-Europa und dem Raum Mittelamerika-Mexiko-USA. Wichtig sind ihm Selbstorganisation und die transkontinentale Vernetzung von verschiedenen Widerstandsformen. Er erzählt von der spannenden Veranstaltung „Für das Recht auf legale Wege. Solidarität und Unterstützung für Geflüchtete in Mexiko und Europa“ am 18. Oktober 2016 in der Heinrich-Böll-Stiftung, die diese Themen miteinander verbindet und dabei auf die aktuellen Ereignisse seit dem letzten „Sommer der Migration“ in der EU eingeht. Auch das Thema Fluchthilfe spielt für ihn eine große Rolle.
Grenzregime
Sara Bellezza: Du bist seit vielen Jahren aktiv im migrationspolitischen Bereich und setzt dich für Menschenrechte und vor allem für das Recht auf Bewegungsfreiheit für alle ein. Auf eurer Homepage stellt ihr das Selbstverständnis von Borderline Europe als „Akt des zivilen Widerstandes gegen die Abschottung der EU und ihre tödlichen Folgen“ . Von vielen werden diese Abschottungspraktiken auch als „Grenzregime“[1] bezeichnet. Was verstehst du unter diesem Begriff?
Harald Glöde: Ich weiß nicht, ob das die korrekte, wissenschaftliche Definition ist, aber ich würde denken, mit Grenzregime wird das ganze Spektrum an polizeilichen, militärischen, politischen und gesetzgeberischen Maßnahmen beschrieben, mit denen Grenzen im Wesentlichen abgeschottet werden. Man kann auch neutral [lacht], „pseudo-neutral“ sagen, mit denen Grenzen „geschützt“ werden sollen. Also so würde ich das verstehen.
Sara Bellezza: Ich finde es deshalb spannend, wie du das siehst, weil es auch Stimmen gibt, die davon ausgehen, dass das Grenzregime alle Akteur_innen miteinschließt, die sich in diesem Grenzraum bewegen. Was damit auch Migrant*innen bedeuten würde. Im Zusammenhang mit deiner Arbeit als Aktivist gegen das Grenzregime, würde das auch dich miteinschließen.
Harald Glöde: Ja nee, das würde ich nicht so sagen. Grenzregime ist für mich immer etwas, was mit Regime zu tun hat und Regime haben etwas mit Herrschaft zu tun und Herrschaft kommt von oben. Insofern würde ich Migrant*innen und Aktivist*innen da nicht miteinschließen. Aber du spielst wahrscheinlich auf den Begriff der „Autonomie der Migration“[2] und diese ganzen Theoriegebäude an und natürlich gibt es eine Dialektik zwischen Bewegung und Regime.
Transkontinentale Vernetzung
Sara Bellezza: Ihr veranstaltet am 18. Oktober gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung und anderen Akteur_innen eine Veranstaltung zum Thema „Für das Recht auf legale Wege Solidarität und Unterstützung für Geflüchtete in Mexiko und Europa“. Bei dieser Veranstaltung geht es um das europäische und das US-amerikanisch-mexikanische Grenzregime. Möchtest du etwas über die Hintergründe dieser Veranstaltung erzählen? Wie siehst du eure Rolle als Aktivist*innen in diesen Räumen?
Harald Glöde: Die Idee zu dieser Veranstaltung ist entstanden als ich eine alte Bekannte oder Freundin getroffen habe, die als Journalistin viel in Mittelamerika unterwegs ist und darüber zum einen Martha Sánchez von den Madres de Migrantes Desaparecidos kennengelernt hat und Fray Tomás González von einer Flüchtlingsherberge in Tenosique, „La 72“ . Parallel dazu berichtete sie auch von einer ähnlichen Karawane… Achso, also ich erzähle erstmal worum es geht [lacht]. Die Madres de Migrantes Desaparecidos machen jedes Jahr eine Karawane zum internationalen Tag der Menschenrechte von Südmexiko an die Nordgrenze um auf die Verschwundenen und die Gewalt gegen Migrant*innen hinzuweisen und um überhaupt auf die Migrationssituation aufmerksam zu machen. Es gibt eine ähnliche Karawane in Italien , die allerdings vom Norden in den Süden geht und auch zum Thema hat, über die Verschwundenen, also die Leute, die im Mittelmeer ertrinken und ähnliches, aufzuklären. Diese beiden Karawanen sind miteinander vernetzt. Wie diese transkontinentale Vernetzung entstanden ist, das fanden wir super spannend und da dachten wir, das wäre ein gutes Thema, um es nach Deutschland zu holen. Außerdem sind weitere Gruppen dazugekommen, die zu aktuellen Geschichten in Europa arbeiten. Das Projekt Moving Europe zum Beispiel war mit einem Bus auf der Balkanroute unterwegs um Vernetzungsarbeit zu machen, Informationen zu sammeln und zusammenzutragen, was dort alles passiert. Gleichzeitig haben sie auch konkrete Unterstützungsaktivitäten vorgenommen.
Sara Bellezza: Das klingt tatsächlich sehr interessant. Welche Parallelen siehst du denn zwischen den beiden Grenzregimen und welche Chancen bietet diese transkontinentale Vernetzung deiner Meinung nach?
Harald Glöde: Das war eigentlich erstmal mehr ein Gefühl, dass das super spannend ist. Natürlich gibt es die Gemeinsamkeit, dass sowohl in Mittelamerika als auch in Italien Menschen auf den Migrationsrouten verschwinden. Sie werden umgebracht oder sterben und unterliegen oft einer massiven Gewalt. Das ist in Mittelamerika noch viel schlimmer und dass es dort so einen starken Protest gibt ist in Europa noch nicht angekommen, genauso wie die Vernetzung mit Akteur*innen in Italien. Dem wollen wir entgegenwirken. Deswegen ist es wichtig, diesen Protest auch in andere Länder Europas zu verbreiten und diese… im EU Jargon würde man von „Best practices“[3] reden, also diese transkontinentale Vernetzung, die ich als positives Beispiel auf der Ebene von Graswurzelbewegungen bezeichnen würde und die in der Öffentlichkeit und damit auch medial gar nicht wahrgenommen werden, sichtbar zu machen.
Das war eigentlich so der Hauptaspekt bei dieser Idee. Und dann passt das natürlich auch ein Stück weit mit dem Schlepper-Schleuser Projekt zusammen, an dem wir bei Borderline Europe arbeiten[4]. Auch dieses Thema ist ein Fokus bei der Veranstaltung. Es soll nicht darum gehen, wie Grenzabschottung und sowas von oben betrieben wird, also wie Techniken und politische Maßnahmen umgesetzt werden, sondern es soll der Fokus darauf gelegt werden, wie sich, aus Sicht der Basisbewegungen, diese Abschottungsmaßnahmen auf ihre Unterstützungstätigkeiten auswirken, wie sie reagieren und wie sie versuchen, dem eine politische Entwicklung oder Kampagne entgegenzusetzen. Dafür ist die Flüchtlingsherberge „La 72“ ein gutes Beispiel. Aus einer ursprünglich eher karitativen Institution hat sich die Notwendigkeit entwickelt und dass haben sie auch umgesetzt, zu dem, was sich dort entwickelt hat, auch politische Forderungen zu stellen. Studien über Grenzregime gibt es sicherlich viele, aber die Situation aus der Sicht „von unten“ darzustellen, das ist, finde ich, das spannende daran. Wobei es natürlich ein Problem ist, dass „unten“ eigentlich die Sicht der Migrant*innen wäre. Da sie in der Regel nur temporär in den Grenzregionen anwesend sind und weiter wollen, ist es schwieriger, sie zu solchen Veranstaltungen einzuladen. Insofern ist es schwer, aus ihrer Perspektive darüber reden zu können oder ihre Perspektive darstellen zu können. Obwohl es auf der Balkanroute eine massive Selbstorganisation von Geflüchteten gegeben hat, die es erzwungen haben, frei durchreisen zu können[5]. Und natürlich gibt es eine starke Zusammenarbeit zwischen Geflüchteten und Unterstützungsbewegungen, insofern kann man das gar nicht so klar trennen. Worauf ich hinaus will ist, dass die drei Bewegungen, die bei der Veranstaltung dabei sind, also die Karawanen, die Flüchtlingsherberge und Moving Europe aus meiner Sicht sehr gut zusammenpassen. Es soll ja schließlich um den Widerstand gehen, der sich organisiert hat. Also die Selbstorganisation der Mütter in Verbindung mit kirchlichen Organisationen, mit Fray Tomás, das finde ich ist der Schwerpunkt. Es geht um die Frage, wie dieser selbstorganisierte Widerstand sich entwickelt und verändert hat und wie nach Möglichkeiten gesucht wird, diesen Grenzregimen etwas entgegenzusetzen. Auch nur punktuell. Indem zum Beispiel Migrant*innen auf dem Weg unterstützt werden und gegen die Gewalt vorgegangen wird. Es soll um die solidarischen Geschehen gehen, um die Perspektive der Betroffenen, derjenigen, die sich dort organisieren, die den Widerstand und die Unterstützung organisieren.
Widerstand
Sara Bellezza: Die Gruppen in Lateinamerika, die du beschreibst, nutzen starke Symbole, um ihre politischen Forderungen durchzusetzen. Einerseits spielt die Kirche eine wichtige Rolle, andererseits die Selbstorganisation der Mütter. Auch in Deutschland wird dem Kirchenasyl[6] als Schutz gegen Abschiebung und Solidarisierung mit Geflüchteten viel Bedeutung zugemessen. Glaubst du, dass auch das Symbol „Mutter“ als Logo für politischen Widerstand in Europa, zum Beispiel bei der Karawane in Italien, auf der Balkanroute oder auch in Deutschland funktionieren könnte?
Harald Glöde: Ich glaube nicht. Ich kann nicht genau sagen, was die lateinamerikanischen Besonderheiten sind, aber da gibt es zumindest diese jahrzehntelange Tradition der „Madres de Plaza Mayo“[7] in Argentinien, die eine unheimliche Öffentlichkeit, auch international erreicht haben. Offensichtlich spielen die „Mütter“ dort nochmal eine andere Rolle als ich denke, dass sie das in Europa tun. Warum auch immer, möglicherweise hat das etwas mit Religion zu tun, also mit der katholischen Religion. Aber ich weiß nicht, was für Einflüsse da noch für eine Rolle spielen.
Sara Bellezza: Der Begriff „Widerstand“ taucht immer wieder auf. Was heißt Widerstand für dich?
Harald Glöde: Widerstand kann vieles heißen. An diesem Beispiel ist das, auch wenn ich mit Kirche nichts am Hut haben, eine Migrant*innenherberge die durch einen Priester geführt wird. Sie ist Teil des Widerstandes, der nicht nur eine „Aktion“ ist, sondern das Zusammenwirken von vielen verschiedenen Aktivitäten. Diese ursprünglich sehr karitativ angegangene Herberge artikuliert sich mittlerweile auch mit politischen Forderungen, vertritt diese nach außen und versucht so, eine Form von Öffentlichkeit herzustellen. Insofern ist sie aus meiner Perspektive genauso ein Bestandteil des Widerstandes, wie es auch die Karawanen sind. Diese sind im Grunde einfach Demonstrationen und damit natürlich auch Teil des Widerstandes.
Sara Bellezza: Welche Form von Widerstand praktiziert Borderline Europe?
Harald Glöde: Ich würde sagen, wir machen in erster Linie Informations- und Öffentlichkeitsarbeit. Diese Form von Aufklärungsarbeit ist eine notwendige Voraussetzung um auf einer vernünftigen Basis Widerstands Aktivitäten entwickeln zu können. Insofern gehört auch das wieder zusammen. Wir sind an vielen Widerstands Aktivitäten beteiligt, aber wir sind nicht diejenigen, die den ihn organisieren. Dazu sind wir viel zu klein [lacht], aber wir sind an vielen Aktivitäten beteiligt. Unser Wissen und ich denke mal, mittlerweile auch unser Name, sind wichtige Punkte, um diesen Widerstand zu stützen und zu stärken. Den gemeinsamen. So würde ich unsere Rolle beschreiben.
Gefahren auf der Flucht und Fluchthilfe
Sara Bellezza: Du hast vorhin erwähnt, dass ihr auch das Thema „Schlepper- und Schleuser“ auf der Veranstaltung ansprechen wollt. Wo liegt da der Zusammenhang mit der Bewegung der Madres oder der Herberge? Warum ist es wichtig, dieses Thema auf der Veranstaltung mit anzusprechen?
Harald Glöde: Dadurch, dass Migration illegalisiert wird, werden diejenigen, die dort diese Reise machen, praktisch ins gesellschaftliche „Nichts“ abgedrängt und können keinerlei staatlichen Schutz oder ähnliches in Anspruch nehmen. Entweder gehen sie selber auf diese Züge[8] und werden dort dann von irgendwelchen Gangs runtergeholt und ausgeplündert oder ähnliches, oder aber sie kaufen sich den Weg bei sogenannten Coyotes, so heißen die Schlepper dort, um an und über die Grenze zu kommen. Insofern ist das eine ähnliche Thematik, denn ähnliche Vorgehensweisen sieht man mittlerweile auch in Bulgarien. Dort gehen rechte Gruppen auf „Flüchtlingsjagd“ und kriminelle plündern Geflüchtete aus, weil sie außerhalb jeglichen Schutzes und ungestraft ausgeraubt werden können. Also da gibt es durchaus Parallelen in dem, was in der Realität in Europa und Mittelamerika passiert.
Sara Bellezza: Also glaubst du, dass die Coyotes die Menschen auf der Reise überfallen? Sozusagen die „Bösen“ sind?
Harald Glöde: Nein, ich glaube nicht, dass die Coyotes die „Bösen“ sind. Wie gut oder wie schlecht die Coyotes dort arbeiten, kann ich nicht sagen. Aber ich denke, wie in jedem Wirtschaftszweig gibt es diejenigen, die korrekte Geschäftsbeziehungen führen und Leute, die Profit machen wollen und denen es egal ist, was mit den Beteiligten passiert. Ein Unterschied zwischen Mittelamerika und Europa liegt in den Hintergründen für Migration oder Flucht. Ich kenne die mittelamerikanische Situation nicht so gut, aber soweit ich weiß machen sich die Menschen dort auf den Weg, um vor der Gewalt in ihrem Heimatstaat zu fliehen. Das ist die Hauptmotivation, sich in Richtung Norden auf den Weg zu machen. Nicht unbedingt die ökonomische Situation oder politische Verfolgung, sondern die absolute Gewalt, Willkür und Rechtslosigkeit, die oft von Gangs, auch in Verbindung mit Drogen, ausgeübt wird. Das sind in der Regel auch nicht unbedingt die Coyotes.
Sara Bellezza:, Wo siehst du den konkreten Zusammenhang zwischen den Überfällen und der Gewalt gegen Migrant*innen in Zentralamerika, auf der Balkanroute oder in Bulgarien und Fluchthilfe im Allgemeinen?
Harald Glöde: Tatsächlich gibt es zwischen denjenigen, die gewaltsam gegen Migrant*innen vorgehen und denjenigen, die am Fluchthilfe Geschäft verdienen, oft fließende Übergänge. Für Mittelamerika kann ich darüber keine Aussage treffen. Für die Schiffsrouten nach Europa gibt es zahlreiche Belege darüber, dass Migrant*innen mit Waffengewalt dazu gebracht werden, Boote zu besteigen. Auch wenn sie sich dagegen entscheiden, weil es ihnen zu gefährlich ist. Sie werden von denjenigen, die die Boote zu Verfügung stellen, gewaltsam gezwungen. Insbesondere aus Libyen und Ägypten kenne ich Berichte darüber, dass die Menschen, die auf den Transport warten, überfallen oder ausgeraubt werden. Genau von den Leuten, die ihnen die Boote organisieren. So besteht ein fließender Übergang vom Fluchthilfe leisten bis hin zum gewaltsamen Ausrauben. Mit der Schließung der Balkanroute zum Beispiel wurde ein Konjunkturprogramm für Schlepper aufgelegt und es eröffneten sich Möglichkeiten für Gangs, auf dieser Route Menschen auszurauben. Das war in Zeiten der offenen Balkanroute schlichtweg nicht möglich. Das ist einer der Zusammenhänge. Andererseits ist es hoch problematisch, dass verstärkt juristisch gegen Menschen vorgegangen wird, die andere an den Außengrenzen der EU zu retten versuchen. Wie zum Beispiel der Fall des „Team Humanity“ . Fünf Rettungsschwimmer der NRO sollen zu 10 Jahren Haft in Griechenland verurteilt werden, weil sie Ertrinkende aus dem Wasser gerettet haben. Dafür werden sie nun als Schlepper angeklagt[9]. Natürlich wissen wir noch nicht, was bei diesem Prozess herauskommen wird. Zudem gibt es den Fall „Farmakonisi“ ,bei dem ein junger Syrer angeblich das Steuer eines Schiffes in der Hand gehabt soll und zu 145 Jahren verurteilt wurde. Ein ähnliches Beispiel für die Kriminalisierung von Fluchthilfe ist der Fall des Rentners Bernd Keller . 2014 hatte er gemeinsam mit seiner Frau eine syrische Familie auf seinem Boot von der Türkei nach Griechenland mitgenommen. Dafür ist er zu 16 Jahren Haft verurteilt worden. Zu dieser Form von kriminalisierter Fluchthilfe arbeiten wir aktuell bei Borderline Europe. Insgesamt glaube ich daher, dass es wichtig ist, das Thema „Schlepper- und Schleuser“ aus verschiedenen Gesichtspunkten zu betrachten.
Sara Bellezza: Vielen Dank für das spannende Interview Harald!
Fußnoten:
[1]Im Sammelband „Grenzregime. Diskurse. Praktiken“ (Hess/ Kasparek 2010) werden verschiedene Dimensionen des EU europäischen Grenzraums aufgezeigt, die sowohl Formen der Migrationskontrolle thematisieren, wie auch Widerstände dagegen.
[2] Die sogenannte „Autonomie der Migration“ ist sowohl eine ethnographische Forschungsmethode als auch ein bestimmtes Verständnis vom Regimebegriff (Bojadžijev/ Karakayalı 2007). Sie definiert das Grenzregime als sozialen Raum, in dem multiple Akteur*innen um Rechte und gesellschaftliche Teilhabe kontinuierlich verhandeln (Karakayalı/ Tsianos 2007). Das ermöglicht einerseits, Widerstände und Bewegung als relevante Faktoren in der Verhandlung um (Macht)Positionen zu begreifen, birgt aber gleichzeitig die Gefahr, systemische Dominanzstrukturen zu verschleiern (Georgi 2016).
[3] „Best Practices“ ist ein aus der Wirtschaft stammender Begriff, der erprobte Methoden oder Maßnahmen beschreibt, die für zukünftige Maßnahmen als Modelle gelten. Wie die EU-Kommission erklärt, nutzt sie dieses Konzept fast in allen Politikbereichen. Beispiele aus den Mitgliedsstaaten werden gesammelt, bewertet und dann veröffentlicht. Gute Ergebnisse sollen den Mitgliedsstaaten als Bestätigung ihrer Politik dienen […]“.
[4] Seit Oktober 2015 arbeitet Borderline Europe an einem Projekt zu den Kontroversen in der EU-europäischen Migrationspolitik. Dabei werden Prozessbeobachtungen durchgeführt, Fälle über die Kriminalisierung von Fluchthilfe dokumentiert und Veranstaltungen zum Thema Fluchthilfe und „Schlepper“ organisiert.
[5] Der sogenannte „Sommer der Migration“ war geprägt von partiell offenen Grenzen, Asylrechtsverschärfungen und neuen Blockaden der Fluchtrouten. Obwohl ein „Regulieren“ der Einreise durch die EU über die Grenzen der Balkanroute aufgrund der zahlreichen Menschen auf der Flucht und der breiten Unterstützung ihrer Bewegung durch eine linksliberale Öffentlichkeit zunächst nicht möglich war, was als Erfolg der Migrationsbewegungen betrachtet werden kann, haben die Verschärfungen der Migrationskontrollen und Asylrechtsverschärfungen in Deutschland und der EU neue Dimensionen angenommen (Georgi 2016).
[6] „Das ‚Kirchenasyl‘ steht in einer jahrhundertealten Schutztradition, aus der heraus es sich in den letzten drei Jahrzehnten zu einer Art Institution entwickelt hat, die dann eingreift, wenn Abschiebung in Gefahrensituationen droht.“
[7] Die “Madres de Plaza de Mayo” gründeten sich während argentinischen Militärdiktatur (1976-1983) um gegen das Verschwinden ihrer Kinder zu protestieren. Sie versammelten sich wöchentlich auf dem Plaza de Mayo und wurden mit ihren weißen Kopftüchern zum Symbol des Widerstandes gegen die Diktatur und ihre Verbrechen (Bouvard 1994).
[8] Die als „La Bestia“ oder „El tren de los desconocidos“ bekannten Züge, die zwischen dem im Süden Mexikos liegenden Bundesstaat Chiapas und der Grenze zu den USA im Norden verkehren, werden von zahlreichen Migrant*innen als Möglichkeit genutzt, um an verschiedenen Migrationskontrollen vorbei, an die nördliche Grenze zu gelangen. Auf die Züge während der Fahrt auf- und abzusteigen ist eine der Hauptursache für gravierende Verletzungen und Tod. Außerdem werden auf den Zügen regelmäßig Überfälle durchgeführt und es besteht die erhöhte Gefahr für Migrantinnen, sexuell missbraucht zu werden (Amnesty International 2010). Die Dokumentationen „La Bestia“ und „Los invisibles“, sowie der Spielfilm „Sin Nombre“ berichten von den Gefahren auf der Reise.
[9] Zu den Hintergründen der Kriminalisierung von Solidaritätsarbeit im Fall Team Humanity in Griechenland, https://www.aljazeera.com/news/2016/01/ngos-decry-arrests-volunteer-lifeguards-greece-160116193522648.html.
Literatur:
Amnesty International 2010: Invisible Victims: Migrants on the Move in Mexico. Amnesty International Publications.
Bojadžijev, Manuela und Serhat Karakayalı 2007: Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode. In: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.) 2007: Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld: transcript, 203-211.
Bouvard, Marguerite Guzman 1994: Revolutionizing Motherhood. The Mothers of the Plaza de Mayo. Wilmington, Delaware: SR Books.
Georgi, Fabian 2016: Widersprüche im langen Sommer der Migration. Ansätze Einer materialistischen Grenzregimeanalyse. In: PROKLA. Verlag Westfälisches Dampfboot 183 (2), 183-203.
Hess, Sabine und Bernd Kasparek (Hg.) 2010: Grenzregime. Diskurse. Praktiken. Institutionen in Europa. Berlin; Hamburg: Assoziation A
Tags: Fluchthilfe, Grenzregime, Interviews, Transkontinentale Vernetzung, Veranstaltungen, Widerstand
Am 11. Oktober 2016 um 20:04 Uhr
Wirklich ein sehr spannendes Interview, dass nicht nur die Hintergründe von Flucht und transnationalen Vernetzungen anspricht, sondern auch einen konkreten Einblick in die politische Arbeit von Borderline Europe und deren Herausforderungen, Chancen und Perspektiven gibt.
Die Parallelen und Unterschiede, die zwischen dem europäischen und lateinamerikanischen Kontext von Flucht und Migration aufgezeigt werden, sind spannend und die vielen Beispiele zeigen konkrete Anhaltspunkte für weitere Recherchearbeit, Aktivismus und Engagement auf.
Ich würde mir mehr Interviews dieser Art für den Blog wünschen, die die konkrete politische Arbeit im Kontext Flucht und Migration thematisieren. Außerdem ist die Veranstaltung am 18.10. in der Böll Stiftung sicher einen Besuch wert.