Migration und Flucht

Ein Blog des Lateinamerika-Intituts der Freien Universität Berlin

Filmkritik: “Lejos de Casa: Éxodo Venezolano” (2020)*

Im März 2020, als die WHO Covid-19 zur weltweiten Pandemie erklärte, wurde der Film “Lejos de Casa: Éxodo Venezolano” (“Weit weg von der Heimat: Venezolanischer Exodus”) veröffentlicht. Der Film (87 min) ist ein Debut des 1988 in Caracas geborenen und in Chile lebenden Reggaeton Sängers Abner Ramírez, bekannt unter dem Künstlernamen Abner Official**.

Der Film handelt von einem jungen Grundschullehrer Samuel Gonzalez (Gabriel Buitrago), der sich von seiner Mutter und jüngeren Schwester verabschiedet, um mit nur einer kleinen Reisetasche den Weg von Venezuela nach Chile anzutreten mit dem Ziel dort anständiges Geld zu verdienen und die zurückgebliebene Familie finanziell unterstützen zu können. Doch direkt nach der Ankunft laufen die Dinge nicht nach Plan. Samuel ist auf sich allein gestellt – ohne Unterkunft und mit wenig Geld, in einer unbekannten Stadt.  

Im Filmverlauf sehen wir, wie sich Samuel mit unterschiedlichen schlecht bezahlten, unsicheren und harten Jobs durchschlägt: den Cafe Job verliert er direkt am nächsten Tag wegen einer Verspätung, danach versucht er es mit dem Straßenverkauf von Süßigkeiten, wird später Fahrradkurier (was ihm ein festeres Einkommen ermöglicht) und fängt schließlich an einer Schule an – zunächst als Putzkraft und ganz am Ende des Films endlich seinem eigentlichen Beruf entsprechend als Lehrer.

Zwischendurch erlebt Samuel immer wieder Rückschläge (gleich zu Beginn lässt ihn sein Freund im Stich, bei dem er die erste Zeit unterkommen wollte; am nächsten Tag verliert er sein Portemonai und muss draußen in der Kälte schlafen; später hat er einen Unfall mit seinem Fahrrad, bricht sich den Arm und kann dadurch nicht mehr arbeiten), fühlt sich einsam ohne seine Familie, versucht aber stark zu bleiben.

Gleichzeitig ziehen sich durch den Film glückliche Zufälle, die dem Protagonisten helfen diesen schwierigen Weg zu meistern. Bezeichnenderweise ist es Abner Official selbst, der die Rolle eines Schutzengels (eines jungen gut integrierten Venezolaners) spielt. Gleich zweimal trifft er Samuel zufällig auf der Straße: beim ersten Mal empfiehlt er ihm eine kostenlose kirchliche Unterkunft für Venezolaner:innen (wo Samuel daraufhin seine ersten 1,5 Monate in Chile verbringt); beim zweiten Mal entspringt für Samuel daraus eine Anstellung an der Schule, wo die Ehefrau des “Schutzengels” arbeitet. Doch auch sonst bekommt Samuel solidarische Unterstützung von der Diaspora. So darf er die allererste Nacht bei einer Kellnerin aus einem Imbiss unterkommen, wird von einem Kumpel aus der Unterkunft die Welt des Straßenhandels eingeführt und bekommt später von einem anderen ein altes Fahrrad geschenkt, was ihm den Job als Fahrradkurier ermöglicht.

Der Film endet mit einem absoluten Happy End: Samuel bekommt seinen Traumjob, trifft die Liebe seines Lebens (Lehrerin an der selben Schule) und kann endlich wieder seine Mutter und Schwester in die Arme schließen, als sie ihn in Chile besuchen kommen. “Samuel lebte zwei weitere Jahre in Chile und kehrte danach mit seiner Familie nach Venezuela zurück. Er heiratete die Lehrerin und heute haben sie eine einjährige Tochter”, heißt es im Abspann. 

“Dies ist nicht nur meine Geschichte, sondern die von Millionen von Venezolanern,” erzählt die Stimme des Protagonisten direkt am Anfang des Filmes. Auch die Personen, die er trifft, sagen immer wieder: “Mache dir keine Sorgen. Ich habe genau das Gleiche durchgemacht, als ich hier angekommen bin”. Hauptsache man verliert nicht den Glauben und bleibt fleißig, dann wird alles gut – das ist die zentrale Aussage des Filmes. Abner Official erklärt dazu: “Ich wollte schon immer einen Film über mein Leben machen, weil ich viel gearbeitet habe und es trotz all dieser Pannen geschafft habe, über meinen Schatten zu springen und weiterzukommen”***. Der Film soll Venezolaner:innen Mut machen, die ihr Land auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen wollen. Ob es gelingt, hängt sicherlich von den Zuschauer:innen ab. Durch den Text im Abspann werden gleichzeitig der vorübergehende Charakter einer Migration und damit eine positive Aussicht auf die Entwicklungen in Venezuela  signalisiert.

Insgesamt wirkt der Film sehr schemenhaft und irgendwie zu glatt. Der Protagonist ist ein sympathischer, hübscher, sportlicher und tüchtiger junger Typ, komplett makellos im gesamten Filmverlauf (immerhin ein Beitrag zur Dekonstruktion von aporofoben Klischees wie u.a. “faulen Venezolaner:innen”). Eigentlich sind alle auftretenden Personen sympathisch. – Die Darstellung von Samuel’s Traumfrau (der jungen Lehrerin) als absolute Sexbombe ist allerdings fast schon skandalös. – Die geschilderten Schicksalsschläge entwickeln nicht die wahrscheinlich beabsichtige niederschmetternde Wirkung. Sicherlich wäre hier mit mehr schauspielerischen Leistung, anderer Kameraarbeit oder Schnitt mehr möglich gewesen. 

Es ist aber auch der Plot selbst, der bei den Zuschauer:innen keine zu große Sorge entstehen lässt. Samuel wirkt meistens munter, kann sich nach einem Monat Job als Fahrradkurier eine recht ansehnliche Wohnung leisten (und gleichzeitig Geld und Pakete nach Venezuela schicken), bekommt problemlos sein Visum – vom “glänzenden” Happy End ganz zu schweigen. Es wirkt alles verdächtig “leicht” – und daher nicht ganz glaubwürdig. Vielleicht weil es sich nicht auf die letzte besonders dramatische Migrationswelle bezieht, sondern eine davor. “Ich komme aus einer Familie der Mittelschicht”, stellt sich Samuel am Anfang des Filmes vor und kommt immerhin mit Bus (nicht zu Fuß) und etwas Bargeld (auch wenn 400 Dollar wirklich nicht viel sind). Man wünscht sich dennoch ein bisschen mehr Einbettung, ein paar mehr Blicke nach links und rechts – über die zwei Kumpels aus der Migrant:innen Unterkunft hinaus (und auch diese werden nur sehr schematisch gezeigt). Der Film dreht sich nur um den Protagonisten, andere Geschichten haben hier keinen Raum. Erst recht nicht, wenn es sich um demografisch andere Mitgrant:innen Gruppen handelt, etwa Frauen, ältere Menschen oder Familien.

Neben dem groben Plot ist der Film wie bereits angemerkt auch von der schauspielerischen Leistung und der visuellen Gestaltung leider keine Perle, was das Gefühl der Oberflächlichkeit verstärkt. Fast fragt man sich, ob ein schwarz-weißer Animationsfilm die Wirkung dieser schemenhaft erzählten Geschichte nicht verstärkt hätte. 

Fazit: “Lejos de Casa: Éxodo Venezolano” ist kein Film für feine Filmliebhaber:innen. Auch eher nicht für Menschen, die sich differenziert mit dem Thema Migration auseinandersetzen (oder allergisch auf plumpe Frauendarstellungen reagieren). Unter Umständen kann der Film außerdem beim Zielpublikum erhöhte Erwartungen an Migrationsverläufe wecken, die zu bitteren Enttäuschungen führen könnten. Gleichzeitig geht der Film viele gängige xenophobe und aporophobe Klischees über Venezolaner:innen in ihren Nachbarländern an. Wenn es zumindest in ein paar Fällen gelingt Zuschauer:innen zum Nachdenken zu bringen, so hat der Film seine Berechtigung.

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*  Einsehbar gegen Gebühr auf der Plattform mowies (Sprache: Spanisch; Untertitel: Englisch). 

** Nicht zu verwechseln mit Abner Ramírez vom Folk-Blues Duo Johnnyswim.

*** “Siempre quise hacer una película de mi vida porque he pasado por mucho trabajo y, a pesar de estos percances, logré superarme y salir adelante” (zitiert nach Nómadas con Raíces).

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Der Beitrag wurde am Sonntag, den 30. Mai 2021 um 19:01 Uhr von Amanda B. veröffentlicht und wurde unter Allgemein, Filmkritik, Migration nach und in den Amerikas abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf Ihrer Seite einrichten.

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