Transit-Stadt Guadalajara
Durch Guadalajara, Mexiko fährt La Bestia. Die zweitgrößte Stadt Mexikos ist eine der Stationen von zahlreichen Migrant*innen aus Lateinamerika auf dem Weg in den Norden geworden. Sie liegt auf der sogenannten Westroute von Zentralamerika in die USA. Die Migration auf dieser Route zeichnet sich durch überwiegend undokumentierte Migrant*innen aus Zentralamerika aus. Auf der Westroute legt La Bestia zwar die längste Strecke zurück, sie wird in Bezug auf Raubüberfälle, Gewalterfahrungen und Menschenrechtsverletzungen aber als die „sicherste“ Route in den Norden wahrgenommen (FM4, 2013: 39).
Guadalajara ist eine sehr konservative Stadt. Die Wahrnehmung der Migrant*innen als „die Anderen“ führt zu Spannungen zwischen der Bevölkerung und den Menschen auf der Reise. Jeden Tag kommen neue Migrant*innen in Guadalajara an, andere setzen ihre Reise fort. Die Menschen bleiben oft nicht länger als ein paar Tage in Guadalajara, ruhen sich auch, essen, trinken und warten darauf, dass La Bestia wieder vorbeifährt, um auf den Zug aufzusteigen. Meistens reisen sie in Gruppen, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu schützen.
Lange Zeit wurde nicht über den Weg voller Hindernisse in den Norden gesprochen. Es ging hauptsächlich um die Arbeitsbedingungen und Lebensweisen von Migrant*innen im Zielland oder um die Gründe für die Migration. Mensch erhielt den Eindruck, dass Personen, die migrieren an der südlichen Grenze Mexikos untertauchen und an der Grenze zu den USA wieder auftauchen. Über den Weg, die Gewalt und die Rolle des mexikanischen Staates wurde wenig gesprochen. Das änderte sich 2010. Zwischen dem 22. und 23. August 2010 wurden 72 Migrant*innen ermordet. Das Massaker erlangte internationales Aufsehen unter dem Namen „Masacre de Tamaulipas“ und wird dem Kartell Las Zetas zugeschrieben. Die Migrant*innen waren auf der Durchreise in Richtung USA als sie entführt und dann ermordet wurden (CNDH). Vorher heruntergespielt und wenig Beachtung geschenkt führte dieses Ereignis dazu, dass es kurzzeitig zu empörten Politiker*innen, Erklärungen, Meinungsäußerungen und Zeugenaussagen kam. Die Tragödie setze das Thema der Migration im Transit auf die nationale Agenda und bezog auch die damit einhergehende Angst, Gewalt, Unsicherheit, humanitäre Krise und die Verletzlichkeit der Migrantenbevölkerung mit ein (FM4, 2013: 102). Die Reaktionen der Bevölkerung gingen in unterschiedliche Richtungen: die einen solidarisierten sich mit den Migrant*innen, die anderen setzen sie mit Kriminelle gleich. Auch heute noch werden Migrant*innen oftmals aufgrund ihrer äußeren Erscheinung oder ihrer Herkunft kriminalisiert. Zum Beispiel eine Person, die aus El Salvador kommt, wird als gewalttätig wahrgenommen, lediglich weil in ihrem Herkunftsland Gewalt herrscht (nicht, dass das in Mexiko nicht auch der Fall wäre) (FM4, hh: 126-128). Diese Erschaffung von stereotypisierten Bildern von Migrant*innen wird viel durch die Medien und die Politik bedingt. Das folgende Zitat zeigt, warum eine unabhängige, kontextualisierende Berichterstattung so wichtig ist:
“Es por esto “informarnos” es esencial para tener herramientas con las que podamos entender ampliamente el panorama del espectro migratorio en los países de origen, tránsito y destino; darnos cuenta de la situación de pobreza, desigualdad y violencia estructural que se vive junto con los altos índices de impunidad y corrupción, falta de oportunidades, indiferencia gubernamental, entre otros, nos pueden abrir una perspectiva, ciertamente más compleja de la realidad que vivimos y de este modo, evitar prejuicios y culpar a quienes arrastran las consecuencias de un sistema que cada vez se vuelve más desigual y violento.” (FM4, 2013: 128)
Diese Informationen sind essenziell um die komplexe Realität der Migrant*innen zu verstehen. Nur auf Basis einer breiten, differenzierten Berichterstattung ist es möglich die Gemeinschaft zum Zusammenhalt zu bewegen. Eine Bevölkerung, die sich organisiert, kann je nach Möglichkeiten, den Weg der Migrant*innen unterstützen und ein Stück dazu beitragen, die Reise erträglicher zu machen. Dies kann durch die Mitarbeit in einer zivilgesellschaftlichen Organisation erfolgen oder durch eine Spende von Geld, Essen, Kleidung etc. Es kann aber auch einfach eine kleine Geste der Freundlichkeit sein oder die Möglichkeit eines Anrufes. Eine Reihe von Aktionen können Alternativen und einen Wandel herbeiführen – zumindest im Befinden der Menschen, die migrieren und der Wahrnehmung dieser. Wie so eine solidarische Arbeit aussehen kann, zeigen die Beispiele der Albergues FM4 Paso libre und El Refugio Casa del Migrante in Guadalajara, die im Folgenden vorgestellt werden sollen. Albergues sind Einrichtungen, die Migrant*innen empfangen und beherbergen (meistens nur für eine kurze Zeit). Entlang der Hauptmigrationsrouten durch Mexiko gibt es zahlreiche Migrant*innenhäuser, Unterkünfte oder Kantinen, die Menschen im Transit anlaufen können, um unterschiedliche Art von Unterstützung zu erfahren.
FM4 Paso libre
Studierende, die bereits in anderen Albergues des Landes Erfahrungen gesammelt hatten, starteten 2007 das Projekt FM4 Paso libre, das sich auf den Großraum Guadalajara konzentriert. Den Anfang des Projektes markiert die direkte humanitäre Hilfe an den Bahngleisen. Zwei Jahre später konstituierte sich die Organisation rechtlich. 2010 wurde das erste Hilfezentrum eröffnet, wo Migrant*innen vier Stunden am Tag persönliche Hygieneleistungen, Kleidung, Essen und Telefonate angeboten wurden. 5 Jahre später konnte in einer größeren Räumlichkeit das FM4-Zentrum für Geflüchtete und Migrant*innen eröffnet werden. Paso Libre. Neben erweiterte Servicezeiten wurden auch die humanitären Dienste gestärkt, einschließlich medizinischer, psychologischer und rechtlicher Begleitung. Seitdem kommen täglich neue Menschen im FM4-Zentrum an. Drei Nächte haben die Menschen auf der Reise die Möglichkeit auf einen Schlafplatz und warme Mahlzeiten. Außerdem wird ein psychologisches Gespräch mit ihnen geführt, sie haben die Möglichkeit eines Telefonanrufes und Internetzugang. Bei ihrer Ankunft bekommen sie zusätzlich neue Klamotten, die von Menschen gespendet wurden. Im Jahr 2017 sind 5.509 Migrant*innen durch FM4 Paso Libre gegangen und es wurden 54.075 Mahlzeiten serviert. FM4 Paso Libre ist Mitglied im Kommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) und wird im lokalen und nationalen Diskurs zum Thema als starke Stimme wahrgenommen.
El Refugio Casa del Migrante
In der Kirchengemeinde Nuestra Señora del Refugio hat der Pfarrer Alberto Ruiz drei Projekte sozialen Engagements ins Leben gerufen, um die Gemeinschaft innerhalb des Viertels zu stärken und diese in den Austausch mit den Menschen auf der Reise miteinzubeziehen. Neben einem gemeinschaftlichen Speisesaal für ältere Menschen und Kinder gibt es ein Migrant*innenhaus und ein Projekt zur Unterstützung von Menschen, die den Flüchtlingsstatus beantragen. Das erstaunliche an diesem großzügigen Einsatz ist die Lage: die Gemeinde ist in der Colonia Cerro del Cuatro, eine Siedlung, die für ihre Ausgrenzung gegenüber anderen bekannt ist. Die Gemeinde hat es geschafft erhebliche Mittel zur Verfügung zu stellen und uneigennützige Freiwillige miteinander zu verbinden. So wurde die Solidarität gegenüber der dort ankommenden Migrantenbevölkerung geweckt. Während an die bedürftige Bevölkerung des Viertels Lebensmittel und Medikamente verteilt, Kranke und Menschen mit Behinderung besucht werden, Essen für Familien, alte Menschen und Kinder angeboten und eine integrierte Seelsorge ausgeübt wird, haben Migrant*innen die Möglichkeit auf einen Schlafplatz, Mahlzeiten, Rechtsberatung, psychosoziale Unterstützung und einen Internetzugang. Im Juli 2017 wurde außerdem eine Abteilung für die Betreuung von Migrant*innen eröffnet, die den Flüchtlingsstatus anstreben. Vor kurzem wurde ein umfassendes Projekt initiiert, um die soziale Eingliederung derjenigen zu unterstützen, die den Flüchtlingsstatus erhalten oder die versuchen, ihre Migrationssituation zu regularisieren, um sich in der Stadt niederzulassen. Nicht weit vom Migrant*innenhaus wurde auf einem kleinen Territorium Häuser für Familien oder Wohngemeinschaften gebaut, die als Brückenunterkünfte dienen sollen. Die Gemeinschaft wurde „El Refugio Habitat“ genannt. Neben den Wohnungen sollen gleichzeitig produktive Projekte wie Abfallrecycling, Familiengemüsegärten, Konsumgenossenschaften, etc. initiiert werden. Dies soll nicht nur die Migrant*innen unterstützen, sondern auch die umliegende Gemeinschaft miteinbeziehen.
Abschluss
Zwei Albergues mit unterschiedlichen Ansätzen. Während es bei FM4 Paso Libre manchmal fast schon zu routiniert abläuft und die menschliche Distanz zu den Migrant*innen bewahrt wird (nach 3 Nächten müssen diese das Zentrum verlassen, unabhängig davon, ob sie ihre Reise fortsetzen oder nicht), setzt man im El Refugio Casa del Migrante auf genau diese zwischenmenschliche Beziehung und das Gefühl von Gemeinschaft, um einen sozialen Wandel herbeizuführen. Bei einem Besuch der Albergues im Jahr 2019 durfte ich die Arbeit der beiden Albergues und die Menschen, die derzeit dort waren, kennenlernen. Die Erfahrung hat mich sehr geprägt und die Geschichten, die uns beim Essen, beim Spielen oder beim Kochen erzählt wurden, begleiten mich bis heute. Das ganzheitliche Konzept des El Refugio Casa del Migrante ist, meiner Meinung nach, ein vorbildliches Beispiel für gemeinschaftliches Miteinander. Es geht um Integration in eine Gemeinschaft, die aber auch die Unterschiede und anderen Lebensweisen und -vorstellungen respektiert. Es geht um miteinander und voneinander lernen. Sich gegenseitig Schutz und Halt geben. Alle Menschen der Gemeinschaft werden in alle Prozesse (auch die alltäglichen Haushaltsaufgaben) miteinbezogen. Dieser Ansatz kann und sollte an vielen Orten der Welt umgesetzten werden.
Beide Albergues sind – ohne Frage – von immenser Wichtigkeit für die Menschen in Transit und leisten, jede auf ihre Weise, einen großen Beitrag zur humanitären Hilfe für Migrant*innen. Außerdem bewegen sie zahlreiche Menschen, regen zur Mitarbeit und einem menschlichen Miteinander an. Durch ihre Arbeit versuchen sie die großen Ungerechtigkeiten und Menschenrechtsverletzungen in diesem System der Migration und unserer Welt ein wenig aufzufangen. Ob die Stadt, der Staat oder die Länder des Globalen Nordens wollen oder nicht, die Migrant*innen werden sich weiterhin auf die Reise begeben auf der Suche nach besseren Lebensumständen oder auf der Flucht vor Gewalt, Naturkatastrophen oder politischen Konflikten. Albergues bedeuten für die Migrant*innen einen kurzen Ort der Sicherheit, vielleicht eine erholsame Nacht in einem richtigen Bett, warme Mahlzeiten, neue Klamotte, ein Ort zum Waschen, ein Anruf und ein Gespräch mit der Familie oder der geliebten Person, die zurückgelassen wurde. Albergues sind aber auch Orte des Austauschs, wo wichtige Informationen über die Migrationsrouten und Hindernisse ausgetauscht werden können, wo Menschen sich zu Gruppen zusammenfinden, um gemeinsam weiterzureisen und wo wichtige Informationen über die Bedingungen, Routen und Individuen auf der Reise systematisiert werden. Wir können sehr viel lernen von den unterschiedlichen Organisationen der Albergues, aber ganz besonders von den Menschen, die dort tagtäglich auf der Durchreise sind.
Bibliografie
FM4 Paso libre (2013): Migración en tránsito por la Zona Metropolitana de Guadalajara: actores, retos y perspectivas desde la experiencia de FM4 Paso Libre. Guadalajara, México.