Frauenhandel und Sexarbeit im Buenos Aires des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Vor etwas mehr als einem Jahrhundert bildeten sich globale Strukturen des sexuellen Menschenhandels heraus, die im Groben – trotz vielfacher Veränderungen von Routen und konkreter Organisation – bis heute überdauert haben. Inmitten von intensivierten Globalisierungs- und Urbanisierungsprozessen gab es um die Jahrhundertwende vorwiegend zwei Bewegungsströme: Frauen und Mädchen[1] aus (Ost-)Europa, die in andere europäische Nationen sowie nach Argentinien und Brasilien gelockt wurden, und solche, die aus China, Japan und Korea in europäische Kolonialgebiete in Ost-Asien verschifft wurden. In den Jahren zwischen den Weltkriegen florierten ebendiese Netzwerke umso mehr, als weltweit Einwanderungs- und Arbeitsgesetzte entflochten, reformiert und neu formuliert wurden, was die geopolitischen Arbeitsrealitäten verschob und Ausbeutungsräume über nationale Grenzen hinweg zunächst weiter öffnete.[2]
Auch in Buenos Aires kamen in diesem Zeitraum von knapp fünfzig Jahren diverse vorwiegend jüdische Osteuropäerinnen an, die oftmals falschen Eheversprechen aufsaßen und letztlich in den Sexarbeits-Netzwerken der argentinischen Hauptstadt ihren Lebensunterhalt bestritten oder sogar von ihren vermeintlichen Ehemännern vor Ort versklavt und zwangsprostituiert wurden. Tatsächlich wurde „polaca“ sowohl in Argentinien als auch Brasilien schnell zum Synonym für „Prostituierte“ und implizierte sowohl die osteuropäische Herkunft als auch das Jüdisch-Sein eines Großteils der Sexarbeiterinnen.[3] Dahinter stand unter anderem das 1906 offiziell als „Varsovia Israelite Mutual Aid and Burial Society“ gegründete, später auch nach dem Gründervater „Zwi Migdal“ genannte Netzwerk aus mehreren hundert Bordell-Betreibern und -Chefinnen, Zuhältern und Menschenhändlern, das transnational in Polen und Argentinien (ferner auch in Brasilien und den USA) operierte. Offiziell bot es Services rund um Bestattungen für Juden*Jüdinnen an, da jene zu diesem Zeitpunkt aufgrund ihrer Assoziation mit Sexarbeit und Menschenhandel oftmals von üblichen Bestattungsriten ausgeschlossen wurden. Maßgeblich finanzierte es sich allerdings über ein gut ausgebautes und mit den korrupten lokalen Machteliten tief verwobenes System der Versklavung osteuropäischer Migrantinnen.
Wie auch andere marginalisierte Gruppen während der Ära der Massenmigration lockte das Prostitutionsgewerbe Juden*Jüdinnen in Argentinien – wo der Männeranteil in der Bevölkerung deutlich überwog – vor allem deswegen an, weil ihnen der Zugang zu vielen Berufsgruppen im Lichte des starken und weiter erstarkenden Antisemitismus systematisch verweigert wurde. Gegenüber den Bordell-Netzwerken in Buenos Aires bildeten sich auch dezidiert jüdische Aktivist*innengruppen, die – wie zeitgleich auch Suffragetten weltweit – lautstark gegen Sexhandel und Versklavung agierten. Jenseits dieser Lager war die jüdische Diaspora insgesamt sehr heterogen: Entgegen gängigen Zusammenfassungen identifizierte sich ein nicht unerheblicher Teil nicht als Ashkenazi, sondern als Sephardi, stammte aus dem Nahen Osten und Nordafrika und sprach kein jiddisch, sondern arabisch oder ladino.
Diesem (oft vergessenen und/oder einseitig behandelten) Kapitel der Migrations-, Arbeits- und Geschlechtergeschichte widmet sich Mir Yarfitz‘ 2019 erschienene Monografie „Impure Migration“ mit neuem Quellenmaterial, argumentativer Schärfe und besonderer Empathie für die betroffenen Akteur*innen und Communities.[4] Die Publikation rückt die betroffenen Frauen als Subjekte in den Vordergrund und setzt so ein wichtiges Gegengewicht zu einer häufig vorherrschenden Täterfokussierung. Auch einzelne Akteur*innen wie die beiden berühmten Ankläger*innen, die das Mafia-Netzwerk letztlich erfolgreich zu Fall brachten, und ihre Biographien werden hier nuancierter und jenseits von vereinfachten Opfer-wird-Heldin- und Unkorrumpierbarer-Polizist-kämpft-gegen-den-Moloch-Narrativen gelesen.
White slavery und die Verortung weiblicher, insbesondere weiblich-migrantischer Arbeit
Ein Begriff hat den Diskurs um und den Aktivismus gegen den Frauenhandel im Europa und den Amerikas des ausgehenden langen 19. Jahrhundert wohl geprägt wie kaum ein anderer: white slavery. Zunächst als Kritik an der Entsendung britischer Bürger in Strafkolonien verwendet, avancierte white slavery schnell zu einer allgemeineren aber noch immer männlich geprägten Umschreibung der Ausbeutung von Arbeitern im Industriekapitalismus, bevor es anschließend Geschichten von transnationaler Zwangsprostitution und Menschenhandel betitelte.[5] Zeitungsreportagen über weiße Frauen und Mädchen, die nichtsahnend von skrupellosen Antagonisten reingelegt und ihrer Unschuld beraubt wurden, erhitzten die Gemüter einer internationalen westlichen Öffentlichkeit. Die daraus resultierenden Reaktionen und Maßnahmen konzentrierten sich in der Folge maßgeblich darauf, Tugenden verletzlicher Frauen zu schützen und trugen so dazu bei, figurative Grenzen von Geschlechter- und Moralvorstellungen sowie tatsächliche nationale Grenzen im Kontext von Migration zu festigen. Sie verunmöglichten ein Zusammendenken von weiblicher Arbeit und Sexhandel und verschlimmerten die Situationen betroffener Migrantinnen im Regelfall.[6] Ihre rassifizierte Konnotation manifestierte weiße Opferschaft, während sie gleichzeitig die Möglichkeit einer Imagination nicht-weißer Täterschaft ließ.
Auch im Fall von Buenos Aires trugen sozialpolitische Maßnahmen, die vornehmlich zum Schutz der Frauen eingerichtet wurden, letztlich oft zu deren Schaden bei: Fälle von white slavery erschienen nicht vor Gericht, stattdessen wurden vermehrt Frauen wegen skandalösen Auftretens angeklagt. Im Jahr 1919 entschied die Stadt, alle lizensierten Bordelle mit mehr als einer Angestellten zu schließen, was die urbane Landschaft quasi über Nacht veränderte und schlussendlich vor allem die Macht von Immobilienbesitzern und Polizeikorruption in die Höhe schnellen ließ. Die Kontrolle über die Knotenpunkte des Menschenhandel-Systems lag nämlich zu keinem Zeitpunkt bei einer unabhängigen Untergrund-Gruppe, sondern bedingte sich durch die fluide Zusammenarbeit von legalen und illegalen, staatlichen und individuellen Akteuren.[7]
Diskurs und Opferschaft
Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist das Bild der/s Sexarbeiter*in als sprachloses Opfer von (männlicher) Gewalt in Gesellschaft, Wissenschaft und Aktivismus insgesamt hinterfragt und herausgefordert worden. Dennoch dominiert dieses Denkmuster nach wie vor die internationalen politischen und feministischen Diskurse und hat sich in Teilen zu einem Stellungskrieg mit den weniger einflussreichen „pro-sex work“-Bewegungen verhärtet. Manche jüngeren Forschungen wie die hier erwähnten streben derweil an, Sexarbeit als Arbeit und beispielhaften Teil der umfassenden Ausbeutung weiblicher, migrantischer, tendenziell fluider Arbeit insgesamt zu verstehen und dabei selbstständige und -ermächtigende Entscheidungen von Sexarbeiter*innen als solche wahrzunehmen, ohne dichotome Macht- und Gewaltausübung (ob durch den Migration regulierenden Staat, kriminelle Netzwerke oder beide in enger Zusammenarbeit) aus dem Blick zu verlieren. Es soll also über und mit (historischen) Subjekte(n) gesprochen werden, anstatt diesen die Opferschaft aufzuzwingen und sie letztlich zur eigenen Selbstvergewisserung zu missbrauchen. Sexarbeit wie auch Arbeit bleiben „komplizierte Kategorien auf einem Spektrum von Freiheit und Unfreiheit, von Handlungsmacht und Ausnutzung“[8].
Was bleibt
Die hier angerissene Geschichte ist zwar die Geschichte einer Community, aber mehr noch die sozialer und gesellschaftlicher Exklusion, die von Macht und Gender, globaler Mobilität und gleichzeitig die Geschichte einer Stadt in ihrem sogenannten goldenen Zeitalter. Denn die Entwicklung der Warschauer Gesellschaft/Zwi Migdal und ihrer Gegnerschaft wurde vornehmlich bedingt durch die spezifischen Gegebenheiten im Buenos Aires des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ferner durch die Verflechtungen des beginnenden weltumspannenden Sextraffickings, und ist entsprechend in eher geringerem Maße als eine transnational-jüdische Geschichte zu verstehen. Obgleich die komplexen Besonderheiten jüdischen Weißseins (und dessen shifting process) in Argentinien, wie sie Sandra McGee Deutsch herausbildet[9], sowohl für Täter und Opfer, Unterstützer*innen und Gegner*innen der Organisation von Bedeutung waren. Antisemitische Vorstellungen gingen hierbei Hand in Hand mit dem Austarieren rassifizierter Hierarchien, die weiße Opfer (white slaves) und nicht-weiße, von der sich als europäisch verstehenden Mehrheitsgesellschaft abweichende und ausgrenzungswürdige Täter konstruierten. Dieses othering spielte bei der Entstehung des jüdischen Bordell-Netzwerkes eine nicht unerhebliche Rolle. Und auch im Engagement gegen ebenjenes war die exklusive Selbstverortung der Mehrheitsgesellschaft von zentraler Bedeutung.
Während die jüdischen Akteur*innen in der kriminellen Unterwelt der argentinischen Hauptstadt ihr Jüdisch-Sein, die jiddische Sprache sowie die Örtlichkeit des jüdischen Viertels explizit artikulierten, sahen sich sogenannte „respektable“ Juden*Jüdinnen dazu veranlasst, sich für die Bekämpfung ebendieser Netzwerke verantwortlich zu zeigen, nicht zuletzt um sich vor langanhaltenden Folgen des antisemitischen Backlash zu schützen. Tatsächlich spielten die Verbindungen zwischen der jüdischen Community und der mafiösen Unterwelt von Buenos Aires beispielsweise in den frühen 1980er Jahren wieder eine Rolle, als das argentinische Militärregime antisemitische Propaganda in Umlauf brachte, die die jüdische Bevölkerung für die Verbreitung von Sexarbeit in Argentinien verantwortlich machen sollte.[10]
[1] Dieser Artikel fokussiert aufgrund des untersuchten Gegenstands/der Quellenlage ausschließlich den sexuellen Menschenhandel von weiblich gelesenen Personen.
[2] Zum gesamten Absatz vgl. Gail Kligman, Lecture on Trafficking Women after Socialism: from, to and through Eastern Europe, 2005, in: “The Meeting Point”, Hg.: Wilson Center; Julia Laite, Between Scylla and Charybdis: Women’s Labour Migration and Sex Trafficking in the Early Twentieth Century, in: International review of social history 4/2017, Vol. 62 (1), S. 40 ff.
[3] Vgl. Mir Yarfitz, Impure Migration. Jews and Sex Work in Golden Age Argentina, New Brunswick 2019, S. 2.
[4] Ebd.; Zusammenfassende Informationen aus den vorangegangenen Abschnitten entstammen der Einleitung, S. 1-19.
[5] Vgl. Gunther Peck, Feminizing White Slavery in the United States, Marcus Braun and the Transnational Traffic in White Bodies, 1890–1910, in: Workers Across the Americas: The Transnational Turn in Labor History, Hg.: Leon Fink, Oxford 2011, S. 222–241.
[6] Vgl. Eileen Boris and Heather Berg, Protecting Virtue, Erasing Labour, in: Human Trafficking Reconsidered: Rethinking the Problem, Envisioning New Solutions Hg.: Kimberly Kay Hoang and Rachel Salazar Parrenas, New York, 2014, S. 76–81.
[7] Vgl. Yarfitz, S. 7 f.
[8] Laite, S. 62.
[9] Vgl. Sandra McGee Deutsch, Crossing Borders, Claiming a Nation: A History of Argentine Jewish Women, 1880–1955, Durham 2010, S. 104–122.
[10] vgl. David Sheinin, Deconstructing Antisemitism in Argentina, in: The Jewish Diaspora in Latin America and the Caribbean: Fragments of Memory, Hg.: Kristin Ruggiero, Brighton 2010, S. 72–85.
Tags: Gender, Migrationsgeschichten