Im Kontext einer erneuten Zunahme von Verhaftungen und politischen Repressionen in Nicaragua verlassen wieder vermehrt Menschen das mittelamerikanische Land. Seit Ende Juni 2021 wurden über 30 Aktivist*innen und Politiker*innen festgenommen, darunter sechs vorläufige Präsidentschaftskandidat*innen für die Wahlen im November diesen Jahres. Den Verhafteten wird unter Anderem nach dem im Dezember 2020 verabschiedeten Gesetz „Ley de defensa de los derechos del pueblo a la independencia, la soberanía y la autodeterminación para la paz” vorgeworfen, die nationale Souveränität zu gefährden und ausländische Einmischung anzustiften, was sie zu „Vaterlandsverräter*innen“ macht und sie von allen politischen Ämtern ausschließt (Villanueva 2021).
Die aktuelle Welle von Verhaftungen ist ein neues Kapitel der sozio-ökonomischen Krise, die mit massiven Protesten im April 2018 begann und durch die Corona-Pandemie verstärkt wurde. Aufgrund der seitdem anhaltenden Repressionen, sowie der ökonomischen Verschlechterung im Land entscheiden sich viele Menschen dazu auszuwandern. Die Ausmaße dieser Migrationsbewegung und der Einfluss der verschiedenen Phasen der Krise darauf spiegeln sich in den offiziellen Migrations-Statistiken Costa Ricas, dem primären Zielland, wider (s. Abb. 1). Dort haben seit 2018 über 80 000 Menschen Asyl beantragt, Migrant*innen ohne offiziellen Antrag sind hier nicht erfasst. Durch die Einschränkungen der Corona-Pandemie reduzierten sich die Zahlen im Jahr 2020, doch stiegen sie in Zusammenhang mit den aktuellen Entwicklungen wieder deutlich an (s. Abb. 2). Die meisten der Neuankömmlinge in den letzten Wochen sind Aktivist*innen oder Mitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen, woran sich zeigt, wie die politische Verfolgung Menschen weiterhin dazu zwingt, ihr Land zum Schutz der eigenen Sicherheit zu verlassen (Murillo 2021).
Politischer Kontext
Schon vor 2018 erlebten feministische Gruppen, Bäuer*innenvereinigungen, Menschenrechtsorganisationen und andere politisierte Gruppierungen immer wieder Repressionen nach Protesten gegen die nicaraguanische Regierung. Die FSLN, die Partei des seit 2007 amtierenden Präsidenten Daniel Ortega, schaffte es jedoch lange, sich durch populistische und klientelistische Maßnahmen (medico 2016), sowie durch gezielte mediale Manipulation und Zensur (Romero 2016), eine breite Zustimmung in der nicaraguanischen Bevölkerung zu sichern. Berichte über Proteste und Empörung über gewaltsame Repressionen gerieten auch in regierungsunabhängigen Medien meist schnell in Vergessenheit. Wichtig für den politischen Erfolg der FSLN ist auch die historisch begründete Legitimation der Partei als Vorreiterin der sandinistischen Revolution 1979, welche ihr Zustimmung in der Bevölkerung sichert(e).
2018 änderte sich dies jedoch schlaghaft. Anfang April demonstrierten Studierende und Umweltschützer*innen in Managua gegen die Untätigkeit der Regierung bezüglich massiver Waldbrände im Süden des Landes (Pineda 2019). Die kurzfristig über soziale Medien organisierten Proteste wurden von Polizei und regierungsnahen Schlägertrupps gewaltsam beendet (ibid.). Als wenige Tage später, am 16. April, eine Sozialversicherungsreform angekündigt wurde, nutzten die Studierenden dieselben digitalen Netzwerke und Gruppen, um die Proteste von Rentner*innen in Managua zu unterstützen. Bilder der Proteste und der gewaltsamen Repressionen am 18. April gingen in Echtzeit durch die sozialen Medien und motivierten immer mehr Menschen aller Sektoren und Altersgruppen im ganzen Land dazu, zu protestieren. Am 19. April gab es die ersten Toten.
Die Regierung unterschätzte die Bewegung. Alte Strategien von schneller gewaltsamer Zerschlagung der Proteste zusammen mit medialer Manipulation und Zensur funktionierten nun nicht mehr. Fast täglich starben Menschen, wurden verletzt, verschleppt oder festgenommen. Fast alles davon wurde live auf Facebook und Twitter verbreitet. Von der oppositionellen Bewegung wird Ortega mit dem früheren Diktator Somoza gleichgesetzt und die Protestierenden mit der studentisch geführten Revolution. Die Bilder, die die FSLN instrumentalisiert und als Ausdruck nationaler Identität etabliert hatte, wendeten sich nun gegen sie.
Obwohl die Sozialreform nach wenigen Tagen zurückgenommen wurde, nahmen die Proteste kein Ende. Die Forderungen der Demonstrant*innen hatten sich gewandelt und sind bis heute klar definiert: Daniel Ortega und Rosarillo Murillo (seine Ehefrau und Vizepräsidentin) müssten weg; neue freie, demokratische Wahlen her und die Verbrechen gegen die Demonstrant*innen aufgeklärt werden. Auch international wurden die Proteste unterstützt und erregten mediale Aufmerksamkeit.
Doch am Ende saß die Regierung am längeren Hebel. Durch die anhaltenden und vielschichtigen Repressionen und die Nichteinhaltung von politischen Zugeständnissen, wurde die Bewegung, die bis heute Großteils einen friedlichen Ausweg sucht, zermürbt. Protestierende und deren Familien wurden und werden anhand der Bilder in den sozialen Medien identifiziert und verhaftet oder bedroht. Viele verloren auch ihre Arbeit, da der Tourismus-Sektor einbrach, internationale Firmen sich zurückzogen oder sie für öffentliche Institutionen gearbeitet haben. Nach vier Monaten sprachen Menschenrechtsorganisationen von über 300 Toten, über 2.000 Verletzten und mehreren hundert politischen Gefangenen. Tausende verließen und verlassen deshalb seitdem das Land, aus Angst um ihre persönliche Sicherheit und auf der Suche nach besseren finanziellen Chancen (HRW 2019).
Die Corona-Pandemie seit Anfang 2020 verschärfte die ökonomische und politische Krise in Nicaragua zusätzlich. Die Regierung setzte auch hier zu Beginn auf die Strategie der medialen Leugnung und Zensur. Oppositionelle Gruppen nutzen nun ihre geschützten etablierten Gruppen und Plattformen, um die Bevölkerung zu informieren und über die WHO Richtlinien aufzuklären. Personen, die über Corona (Verdachts-)Fälle berichteten oder auch nur vor dem Virus warnen, müssen Repressionen befürchten, darunter vor allem Medizinisches Personal (HWR 2020). Das Gesundheitsministerium (MINSA) berichtete zwar schon im April 2020 von Corona-Fällen, jedoch schätzen Expert*innen die Dunkelziffer auf über 90% (Torrez 2021). Bis zum 25. August 2021 registrierte das Observatorio Ciudadano, ein interdiziplinäres regierungsunabhängiges Netzwerk, 22.086 Fälle und 4.002 verdächtige Todesfälle im Vergleich zu 11.348 bestätigten Fällen und 199 anerkannten Todesfällen durch das MINSA (Observatorio Ciudadano 2021).
Auch wenn offener Protest im Land kaum noch möglich sind, setzen sich Menschenrechtgruppen weiterhin für die Opfer der Repressionen ein und alte sowie neu entstandene politische Gruppierungen im In- und Ausland protestieren weiter gegen die Diktatur und organisieren sich für faire, freie und demokratische Wahlen.
Migration nach Costa Rica
Costa Rica ist schon lange das primäre Zielland nicaraguanischer Migration. Im deutlich reicheren Nachbarland (im Vergleich Pro-Kopf BIP 2017: 11.573 $US in CR, vs. 2.164 $US in NIC (WorldBank)) machten Nicaraguaner*innen im Jahr 2011 ca. 6% der Gesamtbevölkerung aus (DGME). Es ist daher nicht verwunderlich, dass auch seit 2018 die meisten Menschen dorthin flüchten. Bereits vorhandene familiäre und sonstige Kontakte erleichtern die Migration. Zudem richtete die costa-ricanische Ausländerbehörde bereits 2018 als Antwort auf die Menschenrechts-Krise eine spezielle Nummer für Nicaraguaner*innen ein, um den vielen Anträgen gerecht zu werden und den Asylprozess zu beschleunigen (Martin 2018). Obwohl die costa-ricanische Regierung vom UN-Flüchtlingskommissariat (UNHC) bei der Versorgung der Migrierten unterstützt wird, sind die bürokratischen Prozesse langwierig und die Lebensumstände für viele der Migrant*innen prekär. Sie leben in überfüllten Unterkünften und erfahren offene Xenophobie, wie durch anti-nicaraguanische Proteste 2019 deutlich gemacht wurde (BBC 2019).
Im Jahr 2018 wurden von über 23.000 Anträgen nur 250 endgültig bearbeitet (6 angenommen und 244 abgelehnt) und 4.885 Arbeitserlaubnisse erteilt. 2019 kamen über 31.000 neue Anträge hinzu, nur ca. 2.999 abschließend bearbeitet (665 angenommen und 2.289 abgelehnt) (DGME). Im nächsten Jahr wurde die Bearbeitung von Asylanträgen aufgrund der Lockdowns für acht Monate verzögert, während monatlich neue Anträge gestellt wurden. Zusätzlich liefen über 80% der vorläufigen Aufenthaltsgenehmigungen und 75% der Arbeitserlaubnisse ab. Dies führte dazu, dass Asylsuchende Schwierigkeiten bekamen, sich medizinische behandeln zu lassen, Bankgeschäfte (inklusive Geldsendungen nach Nicaragua) durchzuführen, oder einen Arbeitsvertrag zu bekommen. Die Ausländerbehörde betont zwar, dass die Dokumente gültig sind, solange eine Terminbestätigung zur Erneuerung vorliegt, jedoch weigern sich viele Stellen trotzdem, die abgelaufenen Genehmigungen zu akzeptieren (Estrada Téllez 2021).
Der Lockdown in Costa Rica verschlechterte außerdem die finanzielle Situation der besonders vulnerablen Personengruppe. Im August 2020 berichtete die UNHCR, dass die Arbeitslosigkeit während der Pandemie unter den Geflüchteten von 7% auf 61% gestiegen war und ca. ¾ der Personen nur einmal (14%) bis zweimal (63%) am Tag aßen. Diese Situation führte auch dazu, dass einige Menschen nach Nicaragua zurückkehrten, obwohl sich die politische Situation dort nicht verbessert hatte (UNHCR).
Doch damit sich die politische Situation verbessert, organisieren sich viele Geflüchtete auch trotz der schwierigen Situation im Ausland. Zum Beispiel gingen am 18. Juli 2021 Nicaraguaner*innen in San José, Costa Rica, auf die Straße, um gegen die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen durch die nicaraguanische Regierung und für freie demokratische Wahlen zu protestieren (La Prensa 2021a). Verschiedenste Migrant*innenorganisationen klagen öffentlich die Repressionen des Regimes an. Da öffentliches Protestieren in Nicaragua selbst immer schwieriger und vor allem gefährlicher wurde, sind die Proteste von Migrant*innen ein wichtiger Teil der transnationalisierten oppositionellen Bewegung. Die Demonstration „Nicaragua, no estás sola“ reiht sich ein in den ständigen politischen Aktivismus nicaraguanischer Migrant*innen in Costa Rica. Die Aktivist*innen kämpfen dafür, in ihr Land zurückzukehren und dieses aktiv politisch mitgestalten zu können.
Quellen
BBC (2019): Los refugiados en Costa Rica por la crisis en Nicaragua: „No entiendo por qué nos odian“. In: BBC News Mundo, 19.04.2019.
DGME: Informes Estadísticos Anuales. Dirección General de Migración y Extranjería.
HRW (2019): Human Rights Watch World Report 2019.
HWR (2020): Nicaragua: Doctors Fired for Covid-19 Comments. Cases Unreported Amid Government Mismanagement. Human Rights Watch.
La Prensa (2021a): «Nicaragua no está sola». La marcha de nicaragüenses en Costa Rica contra la represión del régimen de Daniel Ortega. In: La Prensa, 18.07.2021.
La Prensa (2021b): Más de 10 mil nicaragüenses solicitaron refugio en Costa Rica durante los últimos dos meses. In: La Prensa, 09.08.2021.
Martin, Karina (2018): Costa Rica facilita proceso de solicitudes de refugio para nicaragüenses. In: Panam Post, 18.07.2018.
medico (2016): Tragödie und Farce. Wie die Ortegas ihre Macht in Nicaragua verewigen wollen. Ein Interview mit dem Soziologen Roberto Stuart Alemendárez. In: Medico International, 05.09.2016 (03/2016).
Murillo, Alvaro (2021): Soaring number of Nicaraguans seek refuge in Costa Rica amid domestic crackdown. In: Reuters, 11.08.2021.
Observatorio Ciudadano (2021): Informe Semanal del 19 al 25 de agosto 2021.
Romero, Elizabeth (2016): Periodismo nicaragüense frente a censura y riesgos. „El 74 por ciento de periodistas consultados dice que sí hay censura“ en el país, revela un estudio en la región titulado „Entre la censura y Discriminación: Centroamérica amanezada“. In: La Prensa, 03.03.2016.
Torrez, Cinthya (2021): Nicaragua Underreports Covid-19 Death by 90%+. In: Havana Times, 09.04.2021.
Villanueva, Djenane (2021): Exiliados nicaragüenses en Costa Rica piden a la comunidad internacional mantener sus ojos sobre Nicaragua. In: CNN Español, 19.07.2021.
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