Edwidge Danticat’s Kurzgeschichte „Without Inspection“ über Erfahrungen von Flucht, Rassismus und Trauma haitianischer Geflüchteter in der Karibik
Vor mehr als 200 Jahren begann die Haitianische Revolution in der damaligen französischen Kolonie Saint-Domingue, die in der Unabhängigkeit Haitis als erstes lateinamerikanisches Land resultierte. Die Haitianische Revolution als eine von ehemaligen Schwarzen Sklaven angeführte Revolution wurde von vielen Historiographen zu der Zeit zunächst als ein undenkbares, unmögliches Ereignis gesehen (Trouillot, 2012, 73). Aus einer Verzweigung von Rassismus, Diskriminierung und Kolonialismus wurde ein Rahmen erschaffen, in dem manche Menschen weniger menschlich waren als andere, manchen Menschen Agency zugeschrieben, während sie anderen entzogen wurde (Trouillot, 2012, 77). Die Revolution auf Haiti war ein Ereignis, das diesen Rahmen sprengte und die Ideologie und das System, auf dem die Sklaverei in den Amerikas basierte, beispiellos herausforderte. Die Revolution hatte jedoch ihren Preis. Frankreich wollte Haiti nur im Gegenzug für hohe Reparationszahlungen für den Verlust der Kolonie anerkennen, die gravierende Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes nach sich zogen. Darüber hinaus wurde Haiti in den folgenden Jahrzehnten ökonomisch als auch politisch isoliert, die Revolution totgeschwiegen und in den Geschichtsbüchern ignoriert, weil viele Kolonialstaaten Aufstände von versklavten Menschen in anderen Teilen der Amerikas fürchteten (Boatcă & Santos, 2023, 137). Die Folgen dieser politischen und ökonomischen Isolation sind heute noch im Land zu spüren. Laut dem Henley Passport Index können haitianische Staatsbürger*innen nur in 55 Länder visafrei einreisen und liegen damit in den Amerikas ganz hinten (Henley Passport Index, 2024).
In der Kurzgeschichtensammlung „Everything Inside“ beschäftigt sich die haitianische Autorin Edwidge Danticat im Verlauf von acht bewegenden Kurzgeschichten mit Themen, die das Land und ihre Menschen beschäftigen. In „The Old Days“ begibt sich eine junge Frau auf eine Reise in ihre Vergangenheit und möchte ihren im Sterben liegenden Vater besuchen, den sie bisher nie kennengelernt hat. Ihre Eltern haben sich vor ihrer Geburt getrennt, weil ihr Vater zurück nach Haiti ziehen wollte, während ihre Mutter eine Hoffnung auf ein erfülltes Leben auf der Insel aufgegeben hat. Sie fliegt nach Miami und lernt einen Teil ihrer Familie kennen, der ihr einen neuen Blickwinkel auf ihre Herkunft liefert (Danticat, 2020, 39). In dieser Kurzgeschichte spielen Emotionen über den Verlust einer Heimat, einer Familie und einer glücklichen Zukunft eine tragende Rolle, die in allen Kurzgeschichten dieser Sammlung fortgeführt werden. Die Rolle von Emotionen in der Migrationsforschung ist relevant und wurde bereits von Boccagni & Baldassar (2015) untersucht. Aufgrund der Kürze des Blogartikels, werde ich nur eine Literaturanalyse in Hinblick auf die Rolle von Emotionen in der Kurzgeschichte von Danticat anreißen.
Die Bedeutung von Emotionen in der Migrationsforschung
Laut Boccagni & Baldassar (2015) werden Emotionen in der Migrationsforschung im Allgemeinen außer Acht gelassen und übersehen, obwohl sie in vielen Aspekten, wie beispielsweise bei der Entscheidung, überhaupt zu migrieren eine tragende Rolle spielen und das Leben der in Diaspora lebenden Menschen stark beeinflussen:
„The process of migration may result in transformation of emotional life through hybrid and contrapuntal cultures of emotion or emotional trajectories brought about by emotions on the move and out of place“ (74).
Traditionelle Migrationstheorien betonen überwiegend die wirtschaftlichen Beweg-gründe, die demnach bei der Migrationsentscheidung als bedeutsamer angesehen werden, und im direkten Gegensatz zu vermeintlich „irrationalen“ emotionalen Motiven stehen (76). Boccagni & Baldassar (2015) argumentieren, dass dieser eindimensionale Fokus auf die wirtschaftlichen Faktoren die Rolle von Emotionen in der Migration vernachlässigt, die die „capitalist logic“ (77) von ökonomischen Beweggründen herausfordern kann. Aus diesem Grund müssen sowohl die ökonomischen als auch emotionalen Faktoren berücksichtigt werden, um eine vollständiges Analyse durchführen zu können. Auch in Fragen von Identität und Zugehörigkeit bietet das Feld der Emotionsforschung eine große Bandbreite an Analysemöglichkeiten in Bezug auf Migrations- und Diasporaforschung (74).
Emotionale Verflechtungen in „Without Inspection“
„Without Inspection“ ist die letzte Kurzgeschichte in Danticat’s Sammlung „Everything Inside“ und beschreibt die Gedanken von Arnold in den letzten Momenten vor seinem Tod, als er von einem Gerüst in einen Zementmixer stürzt. Arnold ist ein haitianischer Geflüchteter, der in Miami wohnt und dort auf einer Baustelle arbeitet. Als junger Erwachsener ist Arnold mit dem Boot nach Miami gekommen. Die gefährliche Reise dauerte vier Tage, die Passagiere hatten kein Essen und Wasser mehr und wurden vor der Küste Miamis aufgefordert, ins Wasser zu springen und zum Ufer zu schwimmen. Dabei sind vier Frauen, die mit ihm gereist sind, im Meer ertrunken. Am Ufer empfängt ihn eine haitianische Frau namens Darline, die ihn vor der Polizei rettet und ihm schließlich hilft, ein Leben in Miami aufzubauen. Darline ist ebenfalls eine haitianische Geflüchtete, die auf die gleiche Weise wie Arnold mit dem Boot in die USA gekommen ist. Während ihrer Reise musste sie ihren Sohn Paris vor dem Ertrinken retten, während ihr Mann im Wasser ertrank. In der Kurzgeschichte werden schwere Schicksale verschiedener Menschen dargestellt, die trotz aller Ereignisse und Hindernisse versuchen, ihr Leben in einer fremden Umgebung fortzuführen.
Da Arnold ohne Papiere in den USA angekommen ist, musste er den Namen Ernesto Fernandez von Santiago de Cuba annehmen, um auf der Baustelle arbeiten zu können (Danticat, 2020, 212). Im Verlauf der Geschichte befasst er sich ständig mit Fragen der Zugehörigkeit und Identität in seinem neuen Leben in Diaspora und entwickelt eine persönliche, familiäre Beziehung zu Darline und Paris. Paris erkennt ihn als Vaterfigur an und sie nehmen ihn als Teil ihrer Familie auf, wodurch neue emotionale Verbindungen erschaffen werden, die u.a. durch „emotional trajectories brought about by emotions on the move and out of place“ (Boccagni & Baldassar, 2015, 74) verursacht worden sind. In diesem Fall spielen Emotionen in Bezug auf das Leben in der Diaspora eine entscheidende Rolle. Besonders an diesem Beispiel wird die stigmatisierte Position von haitianischen Geflüchteten in der US-amerikanischen Gesellschaft deutlich. Häufig erfahren haitianische Staatsbürger*innen eine mehrdimensionale Diskriminierung aufgrund ihrer Herkunft und aufgrund von anti-black racism. Der Rassismuss wird nicht nur an dieser Stelle deutlich, an der Arnold einen anderen Namen annehmen muss, um auf der Baustelle arbeiten zu können, sondern auch durch zahlreiche andere Referenzen in der Geschichte. Als Darline Arnold am Strand vor der ankommenden Polizei rettet, spricht sie über ein spezielles Gefängnis „Krome“ (Danticat 2020: 204) nur für Menschen, wie sie, in das er von der Polizei gebracht worden wäre. Hierbei handelt es sich um eine Referenz zum „Krome Detention Center“ in Miami, Florida, das für sexuelle Übergriffe, Gewalt, Diskriminierung an Schwarzen Migrant*innen 2021 bekannt geworden ist.
Auch Darline’s Lebensgeschichte untermalt die Bedeutung von Emotionen und Migration. Sie kommt aus der Region Latibonit im Nordwesten Haitis. Der Traum ihres verstorbenen Ehemanns war es, irgendwann einmal nach Paris zu gehen, sodass sie auch ihren Sohn nach der französischen Stadt benannt haben (Danticat, 2020, 208). Deswegen basierte der Grund für die Entscheidung der Familie, Haiti zu verlassen nicht nur auf ökonomischen, sondern auch emotionalen Motivationen (Boccagni & Baldassar, 2015, 77).
In der Kurzgeschichte wird deutlich, dass Darline und die anderen Charaktere weiterhin eine starke emotionale Verbindung zu ihrer Heimat aufrechterhalten. Arnold erinnert sich während seines Falls daran, dass Darline während ihrer Arbeit im haitianischen Restaurant oft ein Lied im haitianischen Creole singt, das die wunderschönen Sonnenuntergänge in ihrer Heimat beschreibt. Trotz des tragischen Todes von Arnold, endet die Kurzgeschichte mit Hoffnung. Danticat (2020) schreibt: „There are loves that outlive lovers […] He would continue to hum along with Darline’s song, and keep whispering in Paris’s ear” (219). Die hier angerissene Geschichte ist nur eine von vielen, repräsentiert jedoch das Schicksal vieler Menschen, die auf dem Weg über den Atlantik ihr Leben verloren haben.
Referenzen
Boatcă, M. & Santos, F. (2023). Of Rags and Riches in the Caribbean: Creolizing Migration Studies. Journal Of Immigrant & Refugee Studies, 21(2), 132–145.
Boccagni, P. & Baldassar, L. (2015). Emotions on the move: Mapping the emergent field of emotion and migration. Emotion, Space And Society, 16, 73–80
Danticat, E. (2020). Without Inspection. In E. Danticat (Eds.), Everything Inside: Stories (pp. 199- 219). Alfred A. Knopf.
Henley & Partners (n.d.). The Henley Passport Index. Aufgerufen August 3, 2024, from https://www.henleyglobal.com/passport-index/ranking
Trouillot, M. (2012). An Unthinkable History: The Haitian Revolution as a Non-Event. In Routledge eBooks (S. 43–64).
Tags: Haiti, Karibik, Literatur, Migration, Trauma