Migration und Flucht

Ein Blog des Lateinamerika-Intituts der Freien Universität Berlin

Sharing is Caring: Lateinamerikanische Migrantinnen-Netzwerke am Beispiel von Latinas en Alemania

Die lateinamerikanische Community Berlins ist für den deutschen Kontext in ihrer Größe und Vielfalt einzigartig. Laut dem statistischen Bundesamt leben in Berlin rund 98.000 Menschen mit einem lateinamerikanischen Pass oder einer Einwanderungsgeschichte aus dieser Region (Statistisches Bundesamt 2023). Menschen aus Mexiko (23.035 Personen), Venezuela (15.105 Personen), Peru (13.340 Personen) und Chile (11.345 Personen) bilden 2023 im bundesweiten Vergleich die größten Einwanderungsgruppen (Statista 2023). In Berlin schließen sich vor allem Frauen in Organisationen wie Latinas en Alemania, Sorora e.V. oder Mamis en Movimiento e.V. zusammen und unterstützen sich bei den unterschiedlichsten Herausforderungen. Dabei entsteht Zugehörigkeit zunächst durch die spanische Sprache, denn die Teilnehmer*innen kommen aus allen Ecken Lateinamerikas von Mexiko über die Karibik und Mittelamerika bis zur südlichsten Spitze Argentiniens. Die Themenvielfalt, welche die Frauen beschäftigt, lässt sich an den Organisationen ablesen. Zum einen geht es um bilinguale Spracherziehung wie bei Mamis en Movimiento e.V. oder Unterstützung für freischaffende lateinamerikanische Kunst- und Kulturschaffende wie im Falle von Sorora e.V.
Latinas en Alemania ist laut eigenen Angaben die größte lateinamerikanische Migrantinnen-Selbstorganisation (MSO) in Deutschland. An ihrem Beispiel wird die empowernde Care-Arbeit deutlich, welche MSO für ihre Mitglieder leisten.[1]

Latinas en Alemania

Latinas en Alemania ist eine Organisation, die 2014 von Liz Soto Rivas gegründet wurde und sich auf die Vernetzung und Unterstützung von spanischsprachigen Migrantinnen in Deutschland konzentriert. Mit rund 16.000 Mitgliedern und regionalen Gruppen an neun Standorten – Berlin, Bremen, Frankfurt, Hannover, Hamburg, München, Baden-Württemberg, Sachsen und Nordrhein-Westfalen – bietet die Organisation ein breites Netzwerk an Unterstützung und Aktivitäten. Die Hauptziele von Latinas en Alemania sind das Vernetzen und Empowern ihrer Mitglieder durch eine Vielzahl an Networking-Events, Workshops und Informationen während des Migrationsprozesses (Latinas en Alemania 2024), sodass sie nicht nur auf ein Online-Netzwerk reduziert werden kann.   

Die Organisation nutzt viele Kommunikationskanäle und teilt Informationen in unterschiedlichen Formaten, die sie überwiegend auf Spanisch und teilweise Deutsch bespielt. Auf der Webseite veröffentlicht die Organisation den Podcast „El lado obscuro de la migración“ (Latinas en Alemania Podcast 2024) und einen Blog (Latinas en Alemania Blog 2024), in denen Erfahrungen über das Leben in Deutschland geteilt werden. Dort schreiben die Frauen über alltägliche Erfahrungen, wie binationale Partnerschaften, Winterdepressionen oder berichten von den bürokratischen Maßnahmen, wie man ein Haustier nach Deutschland einführt. Vor allem hier wird deutlich, wie vielfältig die Themen sind, welche die Frauen beschäftigen: Unternehmertum, Migration, Mutterschaft, Bürokratie, Bildung, (mentale) Gesundheit sowie Essen und Kultur.

Ein Alleinstellungsmerkmal ist außerdem das Verzeichnis von lateinamerikanischen Betrieben aus der Community (Latinas en Alemania Directorio 2024). Darunter finden sich Schönheits-, Ernährungs- oder Marketingcoachings jedoch auch Shops, Restaurants und Caterings. Auf Instagram (Instagram @latinasalemania 2024) und Facebook werden diese Betriebe, ihre Dienstleistungen und Veranstaltungen beworben. Außerdem wird grafisches Material wie Reels beispielsweise zu europäischen Städten als Reiseziele, Informationen zum Bundesfreiwilligendienst oder deutschen Formulierungen für Konfliktsituationen geteilt. Gemeinsame wiederkehrende Aktivitäten und die Sichtbarkeit der eigenen Migrationsgeschichten im öffentlichen Raum wie der Círculo de Mujeres oder die Jubiläumsparty zum 10-jährigen Bestehen der Organisation tragen wie bei Turcatti (2021) sowie Haß und Schütze (2019) diskutiert zum Gemeinschaftsgefühl bei – für die Frauen, die sich die Teilnahme leisten können und wollen. Vergleicht man die Veranstaltungshinweise und auch die Preise für Betriebe auf der Webseite fällt der kommerzielle Charakter auf – die Teilnahme an Veranstaltungen und die Werbung auf den Kanälen kostet mindestens einen Spendenbeitrag und häufig einen Eintritt. Diese Kosten schließen Frauen aus, die in einer prekären Situation leben oder eine Selbstständigkeit vor kurzem begonnen haben.

Latinas en Alemania betreibt außerdem einen WhatsApp-Kanal mit ca. 900 aktiven Mitgliedern[2]. Neben den Treffen in den Regionalgruppen erfahren die Frauen hier am meisten ein Gefühl der Gemeinschaft. Im Kanal werden Fragen zu Bewerbungsprozessen, dem Schul- oder Versicherungssystem oder Arbeitgebern gestellt. Ergänzt durch Hinweise auf interessante Veranstaltungen und Ausstellungen oder Werbung der selbstständigen Unternehmerinnen. Durch die spanische Sprache und die Echtzeit-Kommunikation in dem Kanal bietet die Organisationen einen sicheren Raum, um Fragen zu stellen und verständliche Antworten zu bekommen. Bei 900 Mitgliedern findet sich immer eine Antwort oder ein Verweis auf einen Kontakt oder eine Organisation, die weiterhelfen kann. Das sind mögliche Arten der Fürsorge-Arbeit, die in migrantischen Gruppen geleistet wird und als caring community bezeichnet werden kann.

Domiziana Turcatti (2021) versteht unter caring communties die Fürsorge in kollektiven Praktiken als „orientation and act of feeling compassion for, and caring about, the unmet needs and rights of people” (2021: 4). Gemeinschaften wie Migrant*innen-Selbstorganisationen basieren folglich auf gegenseitigen fürsorglichen Beziehungen der Mitglieder und bieten einen Raum, in dem Menschen nicht nur Fürsorge empfangen, sondern auch selbst aktiv in den Fürsorgeprozess eingebunden werden (Turcatti 2021: 13f). Diese Fürsorge drückt sich zum Beispiel im Podcast „El lado obscuro de la migración“ von Liz Soto Rivas aus – Gründerin von Latinas en Alemania. Dort spricht sie mit Frauen aus der lateinamerikanischen Community in Deutschland zu ihren Geschichten. Damit leistet sie nicht nur eine wichtige Aufklärungsarbeit für alle Frauen, die gerade ihre Migration planen, sondern empowert die Migrant*innen in Deutschland indem sie einen Raum für lateinamerikanische Migrationserfahrungen im öffentlichen Diskurs beansprucht. Das Teilen von Informationen und Erfahrungen sowie die Sensibilisierung für die Schwierigkeiten der Migration innerhalb der deutschen Gesellschaft lässt sich entsprechend als Care-Arbeit verstehen.

Diese Frauen berichten von ihrem Streben nach besseren Lebensbedingungen, der Flucht vor Gewalt oder Krieg, dem gemeinsamen Lebensprojekt mit dem (deutschen) Partner / der Partnerin oder der Familie sowie der Möglichkeit einer neuen Arbeit oder eines Studiums im Ausland (Latinas en Alemania Podcast, Trailer 3:54 – 4:00). Jedoch auch von Herausforderungen, die ein Leben in einem anderen Land mit sich führt: das Lernen einer neuen Sprache, unbekannte Verwaltungsstrukturen, Diskriminierung, schlechtere Arbeitsbedingungen bzw. Tätigkeiten unterhalb ihrer Qualifikation (Latinas en Alemania Podcast 2024).

El lado obscuro de la migración

Mit diesen Herausforderungen beginnt auch die Geschichte von Viry García (Latinas en Alemania Podcast, Folge 10 „La que persevera, alcanza“) und Montse Peniche (Latinas en Alemania Podcast, Staffel 2, Folge 5 Fortaleza y Triunfo: Una enfermera Mexicana en Alemania).

Trotz oder gerade wegen eines Bachelors im Ingenieurwesen kommt Viry kurz vor dem ersten Corona-Lockdown als Au-pair in Deutschland an. Sie erzählt wie belastend es ist, auf Kinder aufzupassen ohne die deutsche Sprache zu kennen und die kleinsten Fragen ihrer Gastfamilie nicht zu verstehen. Schon in dieser ersten Phase vergleicht sie immer wieder das Leben in Deutschland mit ihren Möglichkeiten als Ingenieurin in Mexiko. Während sie als Geringbeschäftigte auf die Kinder von Berliner*innen aufpasst, könnte sie mit ihrem Abschluss und der vorhandenen Arbeitserfahrung eine anspruchsvolle Tätigkeit in Mexiko ausüben. Die ihr außerdem einen hohen Lebensstandard mit einer „eigenen Wohnung und einem Auto“ ermöglichen würde (Latinas en Alemania Podcast, Folge 10 „La que persevera, alcanza“). In den ersten zwei Jahren in Deutschland fragt sie sich deshalb immer wieder: „Lohnt es sich? Mein Leben in Deutschland anzuhalten?“ Als hätte jemand die Stopp-Taste gedrückt. Diese Erfahrung teilen viele Migrant*innen aus Lateinamerika. Laut der Studie von Bernarda Espinoza-Castro (Espinoza-Castro et al. 2018) arbeiten zwei von drei Personen unter ihrem Qualifikationsniveau (ebd.: 1014). Diese Nicht-Anerkennung und resultierende Überqualifizierung zeigen einen starken Zusammenhang mit psychischen Belastungen, wobei 45 % der befragten Personen angaben, unter Stress zu stehen (ebd.: 1014).
Nachdem ihr Au-pair Visum ausläuft, spürt sie immer deutlicher, dass die Sprache existenziell ist, um nicht mehr in Deutschland „stillzustehen“. Sie bewirbt sich auf ein Visum für Sprachkurse und lernt sehr diszipliniert Deutsch. Im Podcast bestätigt auch die Moderatorin, die gleichzeitig eine gute Freundin von Viry ist, dass sie ihre Tage minuziös strukturiert hat und auf viel Freizeit verzichten musste. Ihr nächstes Ziel, eine Anstellung als Ingenieurin, immer vor Augen.

Montserrat Peniche ist über Umwege von Mexiko über Spanien und Amsterdam für einen deutschen Partner nach Berlin gekommen. Nach ihrem Masterstudium arbeitet sie seit knapp 15 Jahren als Krankenschwester in der Charité Berlin. Nebenbei moderiert sie die Facebook-Gruppe von Latinas en Alemania. Die Arbeit als Krankenschwester ist prekär, denn laut ihren Angaben fehlen mindestens 500 Krankenpfleger*innen in der Charité. Ein Notstand, der vom vorhandenen Personal aufgefangen wird. Auch sie bestätigt, dass geringe Sprachkenntnisse zu Isolation und die Überqualifizierung zu Frustration führen können. Montserrat empfiehlt mit mindestens einem B1-Niveau nach Deutschland zu migrieren und sich gut zu überlegen, ob man die Trennung von der Familie aushält. Ein Aspekt, den viele Frauen in der Community stark unterschätzen.

Auch Viry erzählt, wie sie viele wichtige Feste und familiäre Anlässe verpasst. Denn der Lohn vom Kellnern reicht für das Notwendigste. Viry berichtet, dass sie in dieser Zeit zum ersten Mal eine Krise erlebt. Denn nach all der harten Arbeit – trotz ihres Abschlusses und ihren Deutschkenntnissen auf C1-Niveau – akzeptieren die deutschen Unternehmen die Arbeitserfahrung in Mexiko nicht. Oder wollen den Aufwand ein Arbeitsvisum für Viry zu beantragen, vermeiden. Es ist ein Teufelskreis, denn um Arbeitserfahrung in Deutschland zu sammeln, würden Migrant*innen gerne auch ein Praktikum absolvieren. Das ist durch die Visa-Bestimmungen wie im Fall von Viry jedoch meistens nicht möglich. Ohne Arbeitserfahrung in Deutschland akzeptieren die Unternehmen dich wiederum nicht, so Viry. Sie hat Angst in der Gastronomie hängen zu bleiben. Am Ende erreicht sie beide ihrer Ziele: Sie findet sowohl eine Anstellung bei Apple, als auch einen Studienplatz für ein Masterstudium. Viry lacht über sich, denn das Erste, das sie in Deutschland studiert hat, sind die unterschiedlichen Visa-Arten. Sie sagt, verliert nie den Glauben an euch selbst und bleibt ehrgeizig.
Beide Frauen teilen ihre Accounts in den Sozialen Medien und laden die Zuhörer*innen dazu ein, sie für Antworten zur Arbeit und dem Studium in und der Migration nach Deutschland zu kontaktieren.

Migrant*innenselbstorganisationen wie Latinas en Alemania erfüllen für Migrant*innen vor allem in ihren ersten Jahren in Deutschland eine wichtige Funktion. Sie bieten nicht nur ein Netzwerk für soziale Unterstützung während des oft herausfordernden Integrationsprozesses, sondern fördern auch das Empowerment durch das Teilen von Wissen. In diesem Raum entstehen Beziehungen und Freundschaften, die einen auch in Krizenzeiten tragen. Solche Organisationen spielen eine wesentliche Rolle bei der Förderung von Fürsorge und gegenseitiger Unterstützung, was essentiell ist, um den individuellen und kollektiven Herausforderungen der Migration entgegenzutreten.

Das (mentale) Wohlbefinden von Migrantinnen wird durch Rassismus, prekäre Arbeitsbedingungen und die Nicht-Anerkennung ihrer Qualifikationen erheblich beeinträchtigt, was die Bedeutung dieser Gemeinschaften weiter unterstreicht. Die Migrantinnenselbstorganisationen sind somit nicht nur Rückzugsorte, sondern Orte des Widerstands gegen strukturelle Barrieren wie Diskriminierung und die Schwierigkeiten der Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Dadurch wird deutlich, dass solche Organisationen nicht nur unterstützende, sondern auch transformative Kräfte für die Menschen aus Lateinamerika darstellen.


[1] Alle Informationen wurden der Webseite und Social-Media-Kanälen (Facebook und Instagram) der Organisation entnommen. Die Autorin übernimmt keine Haftung für falsche Informationen.

[2] Interview mit einem Mitglied am 5.9.2024.


Referenzen

Statistisches Bundesamt (2023). Mikrozensus 2023, https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publikationen/Downloads-Migration/statistischer-bericht-einwanderungsgeschichte-erst-5122126237005.xlsx?__blob=publicationFile (Zugriff 30.08.2024).

Espinoza‐Castro, B., Vásquez Rueda, L. E., Mendoza Lopez, R. V., & Radon, K. (2019). Working below skill level as risk factor for distress among Latin American migrants living in Germany: A cross-sectional study. Journal of Immigrant and Minority Health, 21, 1012–1018. https://doi.org/10.1007/s10903-018-0821-7

Haß, J., & Schütze, S. (2019). New spaces of belonging: Soccer teams of Bolivian migrants in São Paulo, Brazil. In: Feldmann, A., Bada, X., Schütze, S. (Eds.), New migration patterns in the Americas. Palgrave Macmillan, Cham, 317–336. https://doi.org/10.1007/978-3-319-89384-6_12

Instagram @latinasalemania (2024), https://www.instagram.com/latinasalemania/ (Zugriff 7.09.2024).

Latinas en Alemania (2024), https://www.latinasenalemania.com/quienessomos (Zugriff 7.09.2024).

Latinas en Alemania Blog (2024), https://www.latinasenalemania.com/blog (Zugriff 7.09.2024).

Latinas en Alemania Directorio (2024), https://www.latinasenalemania.com/directorio (Zugriff 7.09.2024).

Latinas en Alemania Podcast (2024), https://www.latinasenalemania.com/podcast (Zugriff 7.09.2024).

Statista (2023). Ausländer in Deutschland nach Herkunftsland 2023, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1221/umfrage/anzahl-der-auslaender-in-deutschland-nach-herkunftsland/ (Zugriff 30.08.2024).

Turcatti, D. (2021). Migrant-led organisations as caring communities: Towards a re-appreciation of the reciprocal dimension of care. International Journal of Care and Caring, 20, 651-667. https://doi.org/10.1332/239788221X16226509568576

Turcatti, D., & Assaraf, K. (2020) Lessons gained from a case study of a Latin American NGO in London: The role intercultural competence plays in the delivery of services to migrant communities. In: “Another Brick In The Wall” Conference Proceedings of International Association for Intercultural Education (IAIE), 136-156.

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Der Beitrag wurde am Mittwoch, den 18. September 2024 um 18:09 Uhr von Valeria Vlasenko veröffentlicht und wurde unter 2024, Allgemein, In Berlin, Migration nach Europa abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf Ihrer Seite einrichten.

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