Migration und Flucht

Ein Blog des Lateinamerika-Intituts der Freien Universität Berlin

Gloria Anzaldúa – Eine queer-feministische Perspektive auf die Bedeutung von Grenzen aus Sicht einer Chicana-Schriftstellerin

„As a mestiza I have no country, my homeland cast me out; yet all countries are mine because I am every woman’s sister or potential lover. (As a lesbian I have no race, my own people disclaim me; but I am all races because there is the queer of me in all races). I am cultureless because, as a feminist, I challenge the collective cultural/religious male-derived beliefs of Indo-Hispanics and Anglos; yet I am cultured because I am participating in the creation of yet another culture, a new story to explain the world and our participation in it, a new value system with images and symbols that connect us to each other and to the planet.”

(Anzaldúa, 2012, S. 102-103)

Dieses Zitat veranschaulicht Gloria Anzaldúas kritische und vielfältige Perspektive auf Identität, Zugehörigkeit und Grenzen und macht sichtbar, inwiefern sie sich mit den einzelnen Kategorien verbunden und gleichzeitig davon ausgeschlossen fühlt. In ihren Texten schreibt Anzaldúa über persönliche Sachverhalte, die zugleich politisch sind und verwendet dabei eine poetische, metaphorische Sprache, die sich klar von klassischen wissenschaftlichen Arbeiten differenziert. Dadurch vermittelt sie Inhalte nicht nur auf sachlicher sondern auch auf emotionaler Ebene und eröffnet einen Zugang zu ihrem Wissen und den Perspektiven, die sie durch ihre Identität als queere migrantisierte Person gewonnen hat. Anzaldúa unterscheidet sich durch ihren Schreibstil wesentlich von anderen Autor*innen, weshalb sie für die Thematik dieses Blogs als besonders spannend erachtet wurde. Darüber hinaus liegt die Intention dieses Artikels darin, genauer darzulegen, was konkret Gloria Anzaldúa als Autorin auszeichnet und die Kernelemente ihres Werkes Borderlands/La Frontera: The New Mestiza hinsichtlich der Bedeutung von Grenzen zu analysieren.

Gloria Anzaldúa als Kritikerin von Marginalisierung und kulturellem Binärsystem

Gloria Anzaldúa (*1942, †2004) war eine lesbische Chicana-Schriftstellerin, Gelehrte und Aktivistin (Saraiva Palmeira, 2020). Sie wurde in Texas geboren, wo sie an der Grenze zu Mexiko am Río Grande in einer  Bauernfamilie aufwuchs. Bereits als Jugendliche engagierte sie sich aktivistisch für die Belange der Chicana-Community. Als erstes Mitglied ihrer Familie studierte sie an der University of Texas-Pan American die Fächer Englisch, Kunst und Sekundarschulwesen und absolvierte danach einen Master in Englisch und Bildungswissenschaften an der University of Texas in Austin (ebd.).

Während ihrer akademischen Ausbildung in den 60er-Jahren kam sie mit den, zur damaligen Zeit vorherrschenden, feministischen Theorien im nordamerikanischen Raum in Berührung (Saraiva Palmeira, 2020). Nach ihrer Studienzeit setzte sie sich vertieft kritisch mit diesen auseinander. Ihre Kritik richtete sich gegen den Ausschluss der Realitäten von Women of Color im Verständnis dieser feministischen Theorien (ebd.). Anzaldúa bemängelte, dass die Autor*innen nicht differenzierten, dass sich die Realitäten von Women of Color stark von den Erfahrungen weißer Frauen unterscheiden und mit Diskriminierungen auf mehreren Ebenen einhergehen (Saraiva Palmeira, 2020; Nasser, 2021).

In den 1980er-Jahren veröffentlichte sie zu dieser Thematik zwei ihrer erfolgreichsten Bücher: This Bridge Called My Back (1983) und Borderlands/La Frontera: The New Mestiza (1987) (Saraiva Palmeira, 2020). In ihren Werken beschäftigt sich Anzaldúa ausführlich mit den Kategorien Race, Ethnicity und Gender sowie der Bedeutung von Grenzen im Zusammenhang mit Identitätsprozessen (Martins Dos Santos & Santos de Souza, 2022). Die Erfahrungen, die Anzaldúa als lesbische Chicana gemacht hat – aufgewachsen im Grenzraum zwischen Mexiko und den USA und sozialisiert in einer konservativen und stark patriarchalen Gemeinschaft – haben sie maßgeblich beeinflusst (Martins Dos Santos & Santos de Souza, 2022; Nasser, 2021). Ebenso prägten sie das Verlassen dieser und ihr Leben als Woman of Color in einer weißen, männlich dominierten Gesellschaft, welche zusammen die Grundlage ihrer Theorien bilden (Nasser, 2021; Saraiva Palmeira, 2020). 

Anzaldúas Theorien zu Grenzräumen und “mestiza consciousness” hat in wissenschaftlichen Disziplinen wie den Kulturwissenschaften, der Ethnologie und den Gender- und Border Studies neue Perspektiven entwickelt und werden nach wie vor in intellektuellen Kreisen und an Universitäten weitreichend anerkannt und diskutiert (Nasser, 2021).  

Die Bedeutung von Grenzen in Anzaldúas Werk Borderlands/La Frontera: The New Mestiza

Die Auseinandersetzung mit Grenzen bzw. Grenzräumen und dessen Auswirkung auf Identitätsprozesse sind ein fundamentaler Bestandteil in Anzaldúas Werken (Nasser, 2021). Anzaldúa erläutert in ihrem Buch Borderlands/La Frontera, dass sie den Begriff Grenze nicht lediglich als physische Trennung, sondern als symbolische Grenze betrachtet, welche die sexuelle, spirituelle, politische und ethnische Dimension von Identität und Erfahrungen eines Individuums widerspiegelt (Saraiva Palmeira, 2020). 

In diesem Kontext bezieht sich Anazaldúa mit dem Begriff Grenze auf die Diskriminierung, die Frauen erfahren, die in Mexiko geboren sind und in den USA leben sowie Frauen, die in den USA geboren sind und eine mexikanische Mirgationsbiografie haben. Die Autorin begreift die Grenze als Ort der Komplexität, Widerstand, Trennung und Möglichkeiten und Flexibilität im Hinblick auf die Definition von Nation, Kultur und Gender (ebd.). 

Am Beispiel der Kategorie mestiza erläutert Anzaldúa, dass soziale Kategorien und somit Grenzen nicht gradlinig verlaufen, sondern, dass mit der Klassifikation mestiza Diskriminierung und Privilegien einhergehen und sie sich als mestiza in dem Raum zwischen diesen beiden Polen bewegt. Weiterhin argumentiert sie, dass sie sich aufgrund ihrer mestiza-Identität nicht nur einer Seite der jeweiligen Grenze zuordnen kann, sondern, dass sie eine Pluralität an Zugehörigkeiten empfindet und dadurch verschiedene Perspektiven auf Grenzen entwickelt. Das bezeichnet Anzaldua als “mestiza consciousness” (Nasser, 2021) . 

Ein weiteres Beispiel für die mehrdimensionale Bedeutung von Grenzen ist Sprache. In ihrem Buch Borderlands vermischt Anzaldúa beim Schreiben vier verschiedene Sprachen: Englisch, kastilisches Spanisch, nordmexikanischen spanischen Dialekt und Nahuatl (Ar, 2021). Dieser verschmolzene Sprachgebrauch hat sich innerhalb der Chicana-Community etabliert, findet allerdings außerhalb dieser wenig Anerkennung. Anzaldúa verdeutlicht daran erneut, wie  Grenzen zwischen verschiedenen Räumen verschwimmen und wie sehr Sprache mit sozialer Herkunft, Klasse, politischen Positionen und Race verbunden sind und plurale Lebensrealitäten widerspiegeln (Saraiva Palmeira, 2020). 

In diesem Zusammenhang argumentiert sie außerdem, dass die Klassifizierung und Attribuierung von mestiza oder  Woman of Color eine weiße, männliche, cisheteronormative, der Mittelklasse angehörende Norm ist und Othering reproduziert, mit der Intention Marginalisierte von der Norm abzugrenzen (Ar, 2021; Saraiva Palmeira, 2020). Dies verdeutlicht Azaldúa in folgendem Zitat:

“Unaware of privilege and absorbed in arrogance, most writers from the dominant culture never specify their identity; I almost never hear them say: I am a white writer. If the writer is middle-class, white, heterosexual, he/she is crowned with the title of writer -without any mitigating adjective afterward.” (Anzaldúa, 2012, S. 164)

Zusammenfassend demonstriert Anzaldúa in ihrem Werk Borderlands/La Frontera: The New Mestiza wie komplex und vielschichtig Grenzen und Identitäten sind und wie sie sich zwischen Diskriminierung und Privilegien bewegen können. Sie möchte mit ihren Theorien etablierte binäre kulturelle Gegensätze verändern, indem sie die Mehrdeutigkeit dieser nichtlinearen Prozesse aufzeigt. 

Referenzen

Anzaldúa, Gloria. 2012. “Borderlands/La frontera: the new mestiza”. Aunte Lute Books. 4. Ed. San Francisco.

Ar, Gamze. 2021. „The Analysis of Gloria E. Anzaldúa’s Borderlands/ La Frontera.“ Journal of Social Sciences and Humanities Researches. Vol. 2 (49).

Arriaga, María I. 2013. ”Construcciones Discursivas En Los Márgenes: Resistencia Chicana En Borderlands/ La Frontera: The New Mestiza De Gloria Anzaldúa Resumen.” Anuario Facultad Ciencias Humanas. Vol. 10 (02).

Martins dos Santos, Ana Carolina & Santos de  Souza, Lívia. 2022. „La Resistencia Feminina Através De La Poética Chicana“ (Aug.). Revell – Revista de estudios literários da UEMS. Vol. 2 (32). 

Nasser, Anna. 2021. „Borderlands as a Site of Resistance in Gloria Anzaldúa’s Political Thought.“ USAbroad – Journal of American History and Politics. Vol. 4 (03-04).

Saraiva Palmeira, Lara V. 2020. „Gloria Anzaldúa, Uma Chicana Entre-Fronteiras.“ Equatorial – Revista do Programa De Pós-Graduação Em Antropologia Social 7 (12) (02-27).

Der Beitrag wurde am Montag, den 14. Oktober 2024 um 22:38 Uhr von Laura Ziegler veröffentlicht und wurde unter Allgemein abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf Ihrer Seite einrichten.

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