(Fremd-)Sprachlichkeit in unserer Gesellschaft

 
(publiziert auch in CICERO (24.9.20239 unter dem Titel „English rules the world“; diese Überschrift, das dortige Abstract und die Zwischenüberschriften stammen nicht von mir.)

Letztes Jahr veranstaltete die Wiener Albertina eine große Ai-Weiwei-Retrospektive, im Rahmen derer der Künstler auch bereitwillig zahlreiche Medieninterviews gab. Wenn man solche, auch als Video vorliegende, Interviews nachliest oder ansieht, stellt man fest, dass sowohl Fragen als auch Antworten sich auf keinem allzu hohen Niveau bewegten – was möglicherweise nicht in der Absicht der fragenden Journalisten lag, sondern in der Tatsache, dass die Gespräche auf Englisch durchgeführt wurden – also in einer Sprache, die beide Interviewpartner nicht als Muttersprache hatten. Ai Weiweis Englisch ist akzeptabel, aber ich fragte mich unwillkürlich, ob er uns nicht viel mehr Dinge mitteilen würde, wenn er auf Chinesisch antworten dürfte.

Ähnlich geht es mir, wenn Repräsentanten anderer Länder oder auch manche Wissenschaftler zum Beispiel als Gäste von Stiftungen in gebrochenem Englisch vor einem Auditorium sprechen, das sich dann aufgrund unklarer Phrasierung, reduziertem Wortschatz oder brüchiger Syntax fragen muss, welche Inhalte der Redner oder die Rednerin hier kommunizieren möchte. Ja, Simultandolmetscher sind teuer, und für viele Sprachen ist es gar nicht leicht, eine Person zu finden, die die reibungslose Kommunikation zwischen zwei kulturell und linguistisch distanten Sprachen so bewältigen kann, dass man als Zuhörer davon profitieren kann. Stattdessen erlebe ich immer wieder den erschreckend schnellen und natürlich kostensparenden Konsens, sich in Gesprächen auf Global English zu einigen, ohne Rücksicht auf (inhaltliche) Verluste.

Es stellt sich die Frage, ob unsere Gesellschaft und Öffentlichkeit zunehmend nur noch auf diejenigen Menschen dieser Welt zu hören bereit ist, die ihre Botschaften auf Englisch kommunizieren können. Kluge Menschen, die uns ihre Gedanken und Erkenntnisse auf Arabisch, Chinesisch oder auch Thai mitteilen könnten, haben keine Gelegenheit, in unserer Medienwelt zu Wort zu kommen. Man darf annehmen, dass der Grund dafür nicht das Desinteresse an deren Ansichten ist, sondern lediglich der Wunsch nach leicht verständlichen und außerdem kostengünstigen Botschaften. In einer Zeit, in der Qualitätsjournalismus auf dem Rückzug zu sein scheint, können professionelle Dolmetscher erst recht nicht mehr finanziert werden. Aber wohin wird uns das führen? Bei aller Freude darüber, dass es – anders als noch vor 100 Jahren – mit dem Englischen eine globale Sprache der Verständigung gibt, stellt diese doch auch ein Instrument der Selektion dar.

Es ist zu befürchten, dass unsere Diskurse über die Themen unserer Welt zunehmend vom Grad der Anglophonie der Akteure abhängig werden. Gleichzeitig kennt jede/r von uns das Gefühl der diskursiven Unterlegenheit im Gespräch mit Amerikanern oder Briten, die mit dieser Sprache aufgewachsen sind und über eine entsprechend weitaus umfangreichere Ausdrucksfähigkeit verfügen. Und ich bin als deutscher Muttersprachler mit einer dem Englischen eng verwandten Sprache aufgewachsen – um wie viel schwerer muss ein anspruchsvolles Gespräch auf Englisch oder Deutsch einem arabischen oder vietnamesischen Muttersprachler fallen! Und kaum ein Europäer hat jemals eine außereuropäische Fremdsprache bis zur Perfektion gelernt, und weiß, was das bedeutet – aber umgekehrt scheinen wir genau dies vom Rest der Welt zu erwarten.
Wir benötigen einen Diskurs über die Rolle von Sprachlichkeit, gerade im Kontakt mit außereuropäischen Sprachwelten. Wenn wir das bestehende, im Wesentlichen von Englischkompetenz abhängige Ungleichgewicht unserer Wahrnehmung der Welt zu erkennen bereit sind, können wir auch die Gefahren dieser Diskurshoheit für die Welt diskutieren.

Die vollkommene Ahnungslosigkeit unsererseits, was zu uns kommende Flüchtende, was die Menschen in Afghanistan und zuletzt im Niger oder Gabun tatsächlich denken, hängt meines Erachtens eng mit diesem Problem zusammen: Ungeachtet zunehmender globaler politischer und wirtschaftlicher Verflechtungen wie auch Konflikte beobachten wir in Deutschland (und Europa) auf allen gesellschaftlichen Ebenen ein enormes Defizit im Verständnis außereuropäischer Sprachkulturen. Aus meiner Perspektive ist fundierte Expertise in diesen Sprachen jedoch für eine europäische Wirtschaftsnation unverzichtbar. Und wer schon einmal versucht hat, ein Fachgespräch mittels künstlicher Intelligenz dolmetschen zu lassen, wird feststellen, dass es zahllose unübersetzbare Begrifflichkeiten und unterschiedliche Kommunikationsstrukturen in allen Sprachkulturen gibt, die der Erläuterung durch Experten bedürfen.

Gerade in Deutschland führt die Bildungshoheit der Bundesländer allerdings dazu, dass es unmöglich ist, eine nationale Strategie im Hinblick auf das komplexe Problem außereuropäische Sprachkompetenzen oder die Förderung diesbezüglicher Bilingualität zu entwickeln. In diesem Zusammenhang hat der Fachverband Chinesisch (FaCh e.V.) im März 2023 ein Schreiben an mehrere Bundesministerien gerichtet, in dem die Einrichtung einer Bundesakademie für außereuropäische Fremdsprachen angeregt wird, in der Kriterien für Sprachkompetenzen in diesen Sprachen definiert werden, von der Standards für die Dolmetscherausbildung in außereuropäischen Sprachkulturen ausgehen und die die gezielte Förderung bilingualer Staatsbürger in ihrer Zweitsprache in den Fokus nimmt. Eine Antwort ist – auch in der im Juli verabschiedeten China-Strategie – ausgeblieben.

Wir brauchen eine Diskussion darüber, welche Rolle „Sprachlichkeit“ (ein Begriff, an dem übrigens schon das Englische scheitert) in unserer globalen Welt spielen soll. Und wir sollten Menschen weniger in gebrochenem Deutsch oder Simple Englisch sprechen lassen, sondern ihn/sie dabei unterstützen, auf Wunsch seine/ihre Gedanken in der eigenen Muttersprache in unsere Welt zu tragen. Die umfangreiche Förderung von Bilingualität (neben Englisch) in unserem Bildungssystem einerseits und die Förderung der professionellen Ausbildung von Dolmetschern und Kulturmittlern für Sprachen des „Globalen Südens“ andererseits scheinen mir daher essentielle Beiträge für eine bessere, eine vielsprachige Zukunft zu sein.

September 2023
Andreas Guder