Mit Urteil vom 9. Februar 2010 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Hartz IV-Gesetzgebung in Teilen verfassungswidrig ist.
Die Süddeutsche Zeitung schrieb „Karlsruhe schafft Grundrecht für die Armen“. Gleichzeitig spielt Karlsruhe dem Gesetzgeber den Ball wieder zu: Dieser hat bis Ende des Jahres Zeit die Reform zu reformieren.
Was haltet Ihr davon?
Die Leitsätze des Urteils lauten:
- Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.
- Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.
- Zur Ermittlung des Anspruchumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.
- Der Gesetzgeber kann den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag decken, muss aber für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen.
Am 15. Februar 2010 um 11:09 Uhr
Zuerst einmal vielen Dank dafür, dass mit dieser Seite die Möglichkeit der Diskussion der aktuellen Rechtssprechung geschaffen wurde! Eine sehr gute Idee!
Mir stellt sich zuerst die Frage, wieso die Süddeutsche Zeitung von einem neu geachaffenen Grundrecht spricht. In den Entscheidungsgründen hat das BVerfG in Klammern eine Reihe von eigenen Entscheidungen an den 1. Leitsatz angehangen, die den Eindruck erwecken, das Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums bestünde schon lange Zeit in der Rechtssprechung des BVerfG (BVerfGE 40, 121 ; 45, 187 ; 82, 60 ; 113, 88 ; Urteil vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 u.a. -, juris, Rn. 259).
Es würde mich freuen, wenn jemand mit Kenntnis dieser Rechtssprechung erklären könnte, inwiefern mit der hier diskutierten Entscheidung ein neues Grundrecht geschaffen wurde.
Vielen Dank!
Am 17. Februar 2010 um 17:51 Uhr
Lieber Kommentator,
durch diese Entscheidung ist in der Tat kein neues Grundrecht geschaffen worden. Das Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums ist vom BVerfG seit Jahren anerkannt. Es gab aber bislang keine Rechtsprechung des BVerfG, die sich mit den Grenzen auseinandergesetzt hat, die dieses Grundrecht dem Gesetzgeber
setzt. Ein Grund dafür ist wohl schlicht, dass der Abbau des Sozialstaates nun erst beim BVerfG angekommen ist!
Am 18. Februar 2010 um 13:26 Uhr
Lieber Kommentator,
ich bin gebeten worden, noch genauer zu antworten. Hier also eine detaillierte Antwort:
In der Entscheidung BVerfGE 40, 121 (Waisenrente) hielt das BverfG fest, dass Fürsorge für Hilfsbedürftige zu den selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaates gehöre. Es ging also von einer Schutzpflicht aus, sprach aber nicht von einem damit konkurrierenden Recht des Einzelnen auf staatlichen Schutz (vgl. zu den Schutzpflichten den Rettung vor der Insolvenz-Fall). Es bezog sich hierbei auch nicht auf die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), sondern auf die „Verfassungsgrundsätze“ (und nicht etwa Grundrechte) der Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG.
In BVerfG 45, 187 (Lebenslange Freiheitsstrafe) leitet das BVerfG dann erstmals aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip die Verpflichtung des Staates ab, „jenes Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht.“ Auch hier spricht das BVerfG noch nicht von einem Grundrecht.
Ebenso verhält es sich in BVerfGE 82, 60 (Steuerfreies Existenzminimum). Hier ist der Grundsatz, dass der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird, Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Beurteilung. Dieses verfassungsrechtliche Gebot folgt aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz des Art. 20 Abs. 1 GG. Ebenso wie der Staat nach diesen Verfassungsnormen verpflichtet ist, dem mittellosen Bürger diese Mindestvoraussetzungen erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern (vgl. BVerfGE 40, 121 [133]), darf er dem Bürger das selbst erzielte Einkommen bis zu diesem Betrag (Existenzminimum) nicht entziehen.
In BVerfGE 113, 88 spricht das BVerfG dann erste Mal davon, dass das „Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG […] fordert, Menschen einen Anspruch auf staatliche Hilfe zukommen zu lassen, um so ihr Existenzminimum zu sichern.“ Damit hat es einen subjektiven Rechtsanspruch geschaffen.
Das letzte zitierte Urteil – das heftig kritisierte, aber auch sehr gelobte Lissabon-Urteil (vgl. dazu u.a. die Aufsätze im German Law Journal 8/2009) – passt nicht in diese Reihe. Zum einen beschäftigt es sich nicht schwerpunktartig mit sozialen Fragen, zum anderen ist hier wieder von „Staatsaufgabe“ die Rede. Das liegt aber daran, dass sich das gesamte Lissabonurteil um den Staat dreht.
Festzuhalten bleibt: In seiner Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht schon früher von einem verfassungsrechtlich geschützten subjektiven Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gesprochen, so dass das BVerfG hier keineswegs revolutionär, dafür aber konsequent Recht gesprochen hat.