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Der Aktuelle Fall (3/2010)

Einmal mehr hat das Bundesverfassungsgericht über das Spannungsverhältnis von Sicherheit und Freiheit entscheiden müssen. In seinem Urteil vom 2. März 2010, das auch wegen seiner europarechtlichen Implikationen mit Spannung erwartet wurde, hat es die Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig erklärt. Allerdings gilt dies nicht für die auf einer Richtlinie beruhende Vorratsdatenspeicherung als solche, sondern nur für ihre konkrete Ausgestaltung durch den deutschen Gesetzgeber. Dieser müsse seiner Verantwortung für die Begrenzung und Verwendungszwecke der Speicherung gerecht werden.

Was halten Sie von diesem Urteil?

Die Leitsätze des Urteils lauten:

1. Eine sechsmonatige, vorsorglich anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten durch private Diensteanbieter, wie sie die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 (ABl L 105 vom 13. April 2006, S. 54; im Folgenden: Richtlinie 2006/24/EG) vorsieht, ist mit Art. 10 GG nicht schlechthin unvereinbar; auf einen etwaigen Vorrang dieser Richtlinie kommt es daher nicht an.

2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die gesetzliche Ausgestaltung einer solchen Datenspeicherung dem besonderen Gewicht des mit der Speicherung verbundenen Grundrechtseingriffs angemessen Rechnung trägt. Erforderlich sind hinreichend anspruchsvolle und normenklare Regelungen hinsichtlich der Datensicherheit, der Datenverwendung, der Transparenz und des Rechtsschutzes.

3. Die Gewährleistung der Datensicherheit sowie die normenklare Begrenzung der Zwecke der möglichen Datenverwendung obliegen als untrennbare Bestandteile der Anordnung der Speicherungsverpflichtung dem Bundesgesetzgeber gemäß Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG. Demgegenüber richtet sich die Zuständigkeit für die Schaffung der Abrufregelungen selbst sowie für die Ausgestaltung der Transparenz- und Rechtsschutzbestimmungen nach den jeweiligen Sachkompetenzen.

4. Hinsichtlich der Datensicherheit bedarf es Regelungen, die einen besonders hohen Sicherheitsstandard normenklar und verbindlich vorgeben. Es ist jedenfalls dem Grunde nach gesetzlich sicherzustellen, dass sich dieser an dem Entwicklungsstand der Fachdiskussion orientiert, neue Erkenntnisse und Einsichten fortlaufend aufnimmt und nicht unter dem Vorbehalt einer freien Abwägung mit allgemeinen wirtschaftlichen Gesichtspunkten steht.

5. Der Abruf und die unmittelbare Nutzung der Daten sind nur verhältnismäßig, wenn sie überragend wichtigen Aufgaben des Rechtsgüterschutzes dienen. Im Bereich der Strafverfolgung setzt dies einen durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdacht einer schweren Straftat voraus. Für die Gefahrenabwehr und die Erfüllung der Aufgaben der Nachrichtendienste dürfen sie nur bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für eine gemeine Gefahr zugelassen werden.

6. Eine nur mittelbare Nutzung der Daten zur Erteilung von Auskünften durch die Telekommunikationsdiensteanbieter über die Inhaber von Internetprotokolladressen ist auch unabhängig von begrenzenden Straftaten- oder Rechtsgüterkatalogen für die Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und die Wahrnehmung nachrichtendienstlicher Aufgaben zulässig. Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten können solche Auskünfte nur in gesetzlich ausdrücklich benannten Fällen von besonderem Gewicht erlaubt werden.

Der Beitrag wurde am Mittwoch, den 3. März 2010 um 20:29 Uhr von Anton Petrov veröffentlicht und wurde unter Der Aktuelle Fall abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf Ihrer Seite einrichten.

2 Reaktionen zu “Der Aktuelle Fall (3/2010)”

  1. Dogma X

    Liebes Team der Hauptstadtfälle,

    das Urteil hat natürlich zahlreiche diskussionswürdige Passagen. Hauptsächlich interessiert mich aber die dogmatische Einordnung des zweiten Leitsatzes:
    „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die gesetzliche Ausgestaltung einer solchen Datenspeicherung dem besonderen Gewicht des mit der Speicherung verbundenen Grundrechtseingriffs angemessen Rechnung trägt. Erforderlich sind hinreichend anspruchsvolle und normenklare Regelungen hinsichtlich der Datensicherheit, der Datenverwendung, der Transparenz und des Rechtsschutzes.“
    In welchem Verhältnis stehen das Gebot der Normenklarheit und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit? Der Leitsatz klingt nach einer klaren Rechtsprechungslinie, aber gibt es diese wirklich? Bereits die verfassungsrechtliche Herleitung des Übermaßverbotes ist umstritten; in gleicher Weise könnte man das Gebot der Normenklarheit aus dem Rechtsstaatsprinzip oder direkt aus den Grundrechten ableiten. Sehe ich das richtig, dass die Ableitung der beiden Prinzipien aus derselben Quelle erfolgen sollte?
    Kann man die „Vermischung“ im zweiten Leitsatz als ersten Schritt zu einer Einordnung deuten, wonach der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit quasi als „Ober-Prinzip“ fungiert und die Anforderungen aus dem Gebot der Normenklarheit in dieses hineingelesen wird?
    Da dieses Urteil für das Examen von gesteigerter Bedeutung sein könnte, würde ich mich über eine kurze Kommentierung dieser Fragen freuen.
    Vielen Dank!

  2. Dominik Steiger

    Lieber Dogma X,

    in seinem Urteil zum nordrhein-westfälischen Gesetz zur Online-Durchsuchung vom 27. Februar 2008 (1 BvR 370/07) hat das BVerfG das Gebot der Normenklarheit und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nebeneinander gestellt und dabei das Gebot der Normenklarheit aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleitet; ebenso wie es das Verhältnismäßigkeitsprinzip in ständiger Rechtssprechung aus dem Rechtsstaatsgebot ableitet (und nur auch aus den Grundrechten). Die Ableitung sollte also aus derselben Quelle erfolgen.

    Wie Sie richtig beobachtet haben, wird in dem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung nicht nur im Leitsatz, sondern auch im Text des Urteils die Normenklarheit als ein Teil der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgebots im engeren Sinne, d.h. der Angemessenheitsprüfung, verstanden. Wenn Sie dem Bundesverfassungsgericht insoweit folgen – ohne Ihren Aufbau zu begründen, was sie ja bekanntermaßen nie tun dürfen – liegen Sie nicht falsch. Ebensowenig falsch liegen Sie aber auch, wenn Sie wie im Fall der Online-Durchsuchung die Frage der Normenklarheit vor der Verhältnismäßigkeit prüfen.

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