The State of American Democracy

Research-based Analysis and Commentary by the Department of Politics at the John-F.-Kennedy Institute

Frank Unger: Die Regierung George W. Bush im historischen Kontext US-amerikanischer Außenpolitik

Das Deuten der Geschichte in langen Zeiträumen, wie es von den Vertretern der „Weltsystem-Theorie“ gepflegt wird,  ist eine Disziplin für Könner, aber mit Fallstricken. Es ist die besondere Stärke dieses Ansatzes, dass die individuellen historischen Akteure nur als Charaktermasken  „des Systems“ gesehen werden    was dem methodischen Ansatz in Marx‘ „Das Kapital“ entspricht, von dem die meisten Weltsystem-Theoretiker inspiriert sind. Die Vogelschau der „Weltsystem-Theorie“ bietet die  Möglichkeit, zeitgeschichtliche Ereignisse und Entwicklungen der neueren Geschichte in metasprachlicher, von den beschränkten Deutungsmustern der Zeitgenossen  emanzipierter Begrifflichkeit zu analysieren. Denn die handelnden Menschen finden stets Verhältnisse (und eine politische Sprache!) vor, die sie nicht selbst gewählt oder gestaltet haben. Durch die Vogelschau-Analysen  der Weltsystem-Theoretiker gewinnt man  Perspektiven, auf deren Grundlage man die Unübersichtlichkeiten unserer „postnationalen Konstellation“ bis zur Kenntlichkeit verzerrt erkennen  kann. Allerdings bleibt ein solcher Ansatz nur so lange fruchtbar, wie er um seine Grenzen weiß und sich für die Erkenntnis offen hält, dass geschichtsstiftende Politik, zumindest solche mit kurz- bis mittelfristigen Folgen, nach wie vor von handelnden Menschen in realen Machtpositionen und vor einem subjektiv durchaus begrenztem Zeithorizont gemacht wird.

 

Weltsystem-Theoretiker sind der Tagespolitik und damit auch deren Nomenklatur entrückt.  Dies wiederum schließt selbstverständlich nicht aus, dass auch sie bewusst  Partei in den tagespolitische Auseinandersetzungen ihrer Zeit sind – was sie aber nur mit  allen  Historikern oder Sozialwissenschaftlern, die sich öffentlich äußern, teilen.  Die allein relevanten Unterschiede zwischen Sozialwissenschaftlern bestehen im Grad der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit und der theoretischen Fruchtbarkeit. Auf diesen Gebieten gehören Weltsystem-Theoretiker auf die vorderen Ränge der Historiker und Sozialwissenschaftler, da sie bei ihren Interpretationen und Langzeit-Deutungen erstens von nachvollziehbaren theoretischen Grundlagen ausgehen und zweitens die Leser stets zu einem Überdenken überkommener Ansichten nötigen. Auch wenn sie mitunter etwas schematisch sind, so sind sie doch stets anregend. Was sie alle miteinander verbindet und – in scheinbarem Kontrast zu ihrer stoisch-geologischen Geschichtsauffassung –  gleichzeitig ihren politischen Charakter bestimmt, ist die konsequente Historisierung der Gegenwart und ihrer dominanten Produktionsweise, des Kapitalismus, der von ihnen als ständig teils sich in Zyklen wiederholende, teils dabei sich qualitativ verändernde Gesellschaftsformation mit einem Beginn, einer Entwicklung und (logischerweise)  auch mit einem ( entweder möglichen oder notwendigen) Ende gedacht wird: eine Provokation für die zeitgenössischen Sozialwissenschaften, die eine formationslogische Relativierung der modernen bürgerlichen Gesellschaft  entweder überhaupt nicht verstehen oder sie als „ideologisch“ empfinden und ablehnen.   

 

Das gilt heute umso mehr, nachdem  ja  – zumindest im westlichen Teil der Welt   der finale Sieg von Freiheit und „Demokratie“ über  den Kommunismus deklariert wurde. Dies geschah (und geschieht) in allen nur erdenklichen Formen, von schlichtem Triumphalismus  bis zu geschichtsphilosophischer Pathetik. So hat z. B. ein – in der Folge immer wieder bewundernd zitierter – amerikanischer Autor schon 1989 schlankweg behauptet, geradewegs ans  „Ende der Geschichte“  gelangt zu sein.  Damit meinte er den absehbaren Untergang der sozialistischen Sowjetunion und des von ihr dominierten sozialistischen Lagers, des großen Gegenspielers der USA und des von ihr dominierten kapitalistischen Weltsystems. Das klang seinerzeit unerhört kühn, war aber im Grunde nur die Rekapitulation einer seit langem geläufigen Vorstellung: Nämlich dass es sich bei der in den meisten Teilen der Welt herrschenden Gesellschaftsformation der bürgerlichen Gesellschaft, die sich nun vor allem dank des Einsatzes der USA auch im Kampf gegen das letzte ernsthafte  Hindernis, den Kommunismus, durchgesetzt habe,  um  die Vollendung der menschlichen Gattungsgeschichte handele. Diese Ansicht ist wahrlich nicht erst im Amerika des späten 20. Jahrhunderts erfunden worden. Es war schließlich schon der praktische Hauptsinn von Marx‘ „Kritik der Politischen Ökonomie“,  den spezifischen historischen Charakter der Wertform und damit der kapitalistischen Produktionsweise einschließlich des mit ihr eng verbundenen Finanz- und Kreditsystems nachzuweisen und gegen die unhistorische bzw. „endzeitliche“  Betrachtungsweise, der  selbst die scharfsinnigsten bürgerlichen Ökonomen (Adam Smith und David Ricardo) anhingen, kritisch einzuwenden. Auch sie konnten sich keine andere Gesellschaftsform als die bürgerliche, auf der Wertform beruhende vorstellen. Aber sie sahen sich auch noch – fern jeder dann später einsetzenden bewussten Apologetik – der unbefangenen Wahrheitssuche verpflichtet, und Marx konnte sich in seiner „Kritik der Politischen Ökonomie“ systematisch auf den Nachweis jener Punkte konzentrieren, wo allein deren (unhistorischer und damit Form-blinder) bürgerlicher Klassenstandpunkt einer vollständigen Erkenntnis ihres Gegenstands – der Anatomie und Physiologie der bürgerlichen Gesellschaft – im Wege stand.

 

Die in die Neue Welt ausgewanderten und sich dann „revolutionär“ abnabelnden  Briten fügten dem säkularen Endzeitbewusstsein, das sie als geistiges Gepäck aus ihrem Mutterland mitgenommen hatten, dann  noch eine religiös-ideologische Dimension hinzu, der in Europa lange nicht genügend Aufmerksamkeit zuteil wurde und mit dem auch die Welt-Systemtheoretiker wenig anzufangen wissen: Nämlich die bis zum heutigen Tag von großen Teilen der amerikanischen Bevölkerung und seiner politisch handelnden Eliten  geteilte Wahnvorstellung, dass „der Herr“ auf Seiten Amerikas stehe und die Expansion der Vereinigten Staaten  – zunächst politisch als Nationalstaat über die südliche Hälfte des ganzen nordamerikanischen Kontinents, dann „systemisch“  über den Rest der Welt, eine Erfüllung  biblischer Prophezeiungen und damit  die Gestaltung der Welt nach dem strukturellen Vorbild Amerikas gewissermaßen ein göttlicher Auftrag sei. Wenn der US-Generalstaatsanwalt  John Ashcroft im Jahre des Herrn 2003 bemerkte, die Vereinigten Staaten „hätten keinen König, dafür aber Jesus“, dann halten die meisten Europäer dies für das  bon mot eines populistischen Politikers. Da sie selber nicht an „Jesus“ glauben, oder höchstens in den verdünnten Formen europäischer Amtskirchenrhetorik, können sie einfach nicht nachvollziehen, dass es sich hier um eine  todernst gemeinte politische Kampfansage handelt.

Der Volltext ist im Erscheinen.

Der Beitrag wurde am Montag, den 22. Oktober 2007 um 00:10 Uhr von Nikolas Rathert veröffentlicht und wurde unter Krieg und Frieden: U.S. Foreign Policy Watch abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

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