The State of American Democracy

Research-based Analysis and Commentary by the Department of Politics at the John-F.-Kennedy Institute

Frank Unger: Gottlosigkeit im christlichen Amerika

Die USA sind bis heute ihrem Selbstverständnis nach eine ›christliche Nation‹ – allen
vornehmlich in Hollywood-Filmen der staunenden Welt präsentierten Erscheinungen
multikultureller Vielfalt und sittlich-moralischen Relativismus zum Trotz. In einem
ehernen Diskurs öffentlicher Rhetorik berufen sich amerikanische Präsidenten
immer wieder auf Gott und beschwören damit den Gründungskonsens des Staates.
Die Volksfrömmigkeit, der sie ihren Tribut leisten, ist legendär und mittlerweile auch
in Europa bekannt, wo man nicht weiß, ob man belustigt oder besorgt sein soll. Sie
ist in den ländlichen und südlichen Gegenden verstärkt ›fundamentalistisch‹ oder
charismatisch, d.h. naiv in ihrer Glaubenshaltung, proselytisch gegenüber anderen
und unduldsam gegenüber ›Sündern‹. Die Glaubensbereitschaft eines großen Teils
der Amerikaner scheint unbegrenzt und – nach den Kriterien eines aufgeklärten
europäischen Protestantismus – von einem geradezu ›kindlichen‹ Literalismus zu
sein.

An der Harvard Medical School wurde jüngst eine über zehn Jahre angelegte
Zweieinhalb-Millionen-Dollar-Studie abgeschlossen, die untersuchen wollte, ob
bzw. in welchem Umfang Gebete Dritter (in diesem Fall ›professioneller‹ Kräfte aus
Klöstern, Stiften und protestantischen Charismatikerkreisen) den Krankheitsverlauf
von Herzpatienten beeinflussen. Die Forscher fanden nach akribischen Langzeit-
Untersuchungen an 1800 By-Pass-Patienten heraus, dass eine Beeinflussung nicht
belegt werden könne (Tagesspiegel, 1.4.2006). Dies als Beispiel aus einem oft
genannten Vorbild für die Reformierung des an Exzellenzmangel krankenden deutschen
Hochschulwesens.

Ebenso eindrucksvoll ist ein Blick auf die populäre Kultur. Die mit großem
Abstand erfolgreichsten Belletristik-Autoren der letzten zehn Jahre sind das Zweier-
Team des Theologen Tim LaHaye und des Schriftstellers Jerry Jenkins. Im Sommer
2004 veröffentlichten sie den 12. und letzten Band einer Reihe von Romanen, die sie
1995 mit dem Titel Left Behind begonnen hatten. Der letzte Band heißt nun Glorious
Appearing, und zwei Millionen Exemplare davon wurden bereits abgesetzt, ehe das
Werk überhaupt in die Buchläden kam. Insgesamt sind aus der Left Behind-Reihe
bislang über 62 Millionen Exemplare verkauft worden. Die auf die wiedergeborenen
Protestanten abzielende Romanserie ist eine in die Gegenwart versetzte Ausmalung
der Prophezeiungen der Johannes-Apokalypse. Sie beginnt mit der von Paulus im
1. Thessalonicherbrief angekündigten »Entrückung« der Gläubigen und Gerechten
durch Jesus Christus und endet in Band 12 damit, dass dieser auf die Erde zurückkehrt
und in der Schlacht bei Armageddon nach der Vernichtung aller Feinde des
christlichen Gottes das Tausendjährige Reich errichtet. Phantasievoll und mit
bisweilen verblüffenden, für aufgeklärte Leser unfreiwillig komischen Einfällen
bemühen sich die Autoren, die biblischen phantastischen Prophezeiungen aus dem
ersten Jahrhundert n. Chr. in die Erfahrungswelt heute lebender Menschen zu übertragen.

Die »Entrückungen« der Gläubigen machen sich z.B. dadurch bemerkbar,
dass einige Passagiere bei einem Transatlantikflug plötzlich auf dem Sitz neben sich
einen zusammengefallenen Haufen Kleider entdecken, obwohl dort in der Minute
zuvor noch ein freundlicher Herr mittleren Alters gedöst hatte. Er war ein Gerechter
und wurde von seinem Herrn abberufen. Auch vor tagespolitischen Einschätzungen
schrecken die Autoren nicht zurück: Zum aktiven Lager Satans während der Periode
der 21 Heimsuchungen gehören neben den arabischen Ländern, den Nordkoreanern
und den Chinesen auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen und der Papst.

Auch die amerikanischen Katholiken gehen nicht leer aus. Mel Gibsons antijudaischer
Monumentalfilm The Passion of the Christ ist oberflächlich gesehen ein
Splatterfilm, in dem aramäisch gesprochen wird, unterschwellig verfolgt er allerdings
die klare Intention, die Hinrichtung des Jesus von Nazareth ausschließlich
als Werk der Juden darzustellen und den christlichen Gott auf so extreme Weise als
leidendes Opfer vorzuführen, dass die Weltöffentlichkeit dadurch in ähnliche politische
Parteinahme für die Christen (und indirekt für die USA in ihrem Kampf um
eine christliche Weltordnung) genötigt wird wie angesichts der Bilder aus Auschwitz
für die Juden: ein kaum verhohlener Versuch, den vermeintlichen Opferbonus der
Juden auf die Christen und ihre führende Nation umzulenken.

Beide Produkte verkünden eine gemeinsame, interkonfessionelle Botschaft: der
christliche Gott ist kein »gütiger Opa […], der einen problemlos in den Himmel lässt«,
wie LaHaye einmal das Gottesbild des Amtskirchen-Protestantismus charakterisiert
hat, sondern ein fordernder und parteiischer Gott, der Ansprüche stellt, der genaue
Kriterien für gut und böse, für richtiges und falsches moralisches Verhalten aufstellt,
der als unser Gott auch in den politischen Auseinandersetzungen auf ›unserer‹ Seite
steht, der nicht unterschiedslos alle liebt, sondern nur diejenigen, die umgekehrt ihn
und ›unser‹ Heimatland lieben; der nicht nur vergibt und Gnade gewährt, sondern
auch fürchterlich böse werden kann und die schlimmsten Strafen verhängt bzw.
Rache nimmt an den Ungläubigen und an seinen Feinden.

Die jüngsten Daten aus einer repräsentativen Umfrage zur Bedeutung der
Offenbarung des Johannes und anderer biblischer Prophezeiungen zum Ende der
Welt ergeben folgendes Bild: 36 % glauben, dass die Offenbarung des Johannes
»exakte Prophezeiungen« enthält; 47 % sind der Meinung, sie sei metaphorisch zu
verstehen; 55 % glauben, dass diejenigen, die festen Glaubens sind, von Gott direkt
in den Himmel »entführt« werden (Entrückung); 74 % glauben an die Existenz
Satans (Mitglieder von Erweckungskirchen zu 93 %); 17 % glauben, dass das Ende
der Welt noch zu ihren Lebzeiten eintreten wird (Newsweek, 24.5.2004, 48).

Diese im Vergleich zu den entwickelten Industriestaaten des Westens autonome Volksfrömmigkeit
zeitigte einen kuriosen Gegeneffekt: Die USA wurden zur einzigen
modernen Industrienation der Welt, in der die bekanntesten Beispiele von Atheismus
Gottlosigkeit im christlichen Amerika und Religionsverachtung nicht mit rebellischen oder herrschaftskritischen Intentionen erbunden waren, sondern im Gegenteil offen im Interesse der herrschenden
Klassen auftraten: als ›aufgeklärte‹ Verhöhnung der unmündigen ›Massen‹ von
Seiten einer intellektuell-urbanen Elite und zur Abwehr von demokratischen, oft
ländlichen ›populistischen‹ Bestrebungen mit dem Ziel, deren mit christlicher Glaubensfestigkeit
begründeten patriotischen Ansprüche auf demokratische Teilhabe zu
beschneiden.

Als Volltext erschienen in: Das Argument 265/2006

Der Beitrag wurde am Montag, den 22. Oktober 2007 um 00:01 Uhr von Nikolas Rathert veröffentlicht und wurde unter Arbeitsmarkt und Soziales, Religion abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

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