The State of American Democracy

Research-based Analysis and Commentary by the Department of Politics at the John-F.-Kennedy Institute

Thomas Greven: Von Freiheit und Unfreiheit im „Land of the Free“

Wie vielen Klischees haftet auch der sprichwörtlichen Freiheitsliebe der Amerikaner einige Wahrheit an. Ein aktuelles Beispiel: Dass eine von den großen Fragen der Innen- und Außenpolitik so offensichtlich überforderte Provinzpolitikerin wie Sarah Palin tatsächlich zur Kandidatin der Republikanischen Partei für das Amt der US-Vizepräsidentin werden konnte, erklärt sich aus einer Finte republikanischer Strategen. Sie setzten auf die weit verbreitete Staatsskepsis der Amerikaner, die ihre geliebte „Freiheit vom Staat“ am wenigsten von einer noch nicht von Washington vereinnahmten Außenseiterin gefährdet sehen.

Keine Frage, diese Freiheit vom Staat, welche in der amerikanischen Verfassung festgeschrieben wurde, war eine historische Errungenschaft und sie prägt die politische Kultur, die Zivilgesellschaft und das Alltagsleben der Amerikaner bis heute. Insbesondere den großen Sprung von der Toleranz verschiedener Religionen durch den Staat hin zum individuellen Recht auf Religionsfreiheit gilt es hier zu erwähnen. Doch bedarf es hier kaum Lobeshymnen, schließlich feiern die Bewohner des „land of the free“ sich ausreichend selbst. Allen voran ging der ehemalige Präsident George W. Bush, der tatsächlich kaum einen öffentlichen Satz sagen konnte, ohne von Freiheit zu sprechen und insbesondere  von der Rolle der USA bei deren Verbreitung in alle Welt. (Der Rest des Globus wurde dieser Reden bekanntlich irgendwann recht überdrüssig.)
Auch bedarf es wohl keiner weiteren Kritik der zum Teil massiven Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten (vor allem von Nicht-Amerikanern) durch Maßnahmen eines durch die Anschläge vom 11. September 2001 verschreckten Sicherheitsstaates. Derzeit kann man sogar häufiger Berichte über die Wieder-Einschränkung der ausgeweiteten Vollmachten der Exekutive lesen. Die totgesagten Checks and Balances, die gegenseitige Kontrollen der Staatsgewalten, ebenfalls in der US-Verfassung verankert, existieren also doch noch, weil auch die konservativsten Richter dem Präsidenten die Grenzen seiner Machtbefugnis zeigen wollen – wenn es schon der Kongress nicht kann, dessen institutionelle Rolle stärker von Parteilichkeit beschränkt ist.

Widersprüche und Beschränkungen der Freiheit finden sich auch in weniger breit besprochenen Bereichen amerikanischen Lebens. Zum Beispiel ist nicht klar, ob jenseits des reinen Verfassungsrechts die Religionsfreiheit auch die Freiheit einschließt, überhaupt nicht religiös zu sein. Mit John F. Kennedy konnte einst ein Katholik Präsident werden – in einem Land, wo lange Zeit für viele der Papst als der Antichrist galt –, aber könnte es ein Atheist? Und wie verträgt sich der hohe Wert der Freiheit mit den merkwürdigen Beschränkungen des Tanzens (in New York benötigt jeder Tanzclub eine Lizenz von der Stadt, damit dort getanzt werden darf!) und des öffentlichen Trinkens (in San Francisco ist beispielsweise um zwei Uhr nachts definitiv Schluss: „Drink up, mister!“)?
Die größten, nicht so unmittelbar auf puritanische Wurzeln zurückzuführenden alltäglichen Einschränkungen der Freiheit finden sich jedoch in der Arbeitswelt. Auf der derzeit geradezu unvermeidlichen Website youtube.com kursiert ein Video mit dem Namen „Your new job“, welches den so genannten Employee Free Choice Act (EFCA) bewirbt, ein Gesetz das Arbeitnehmern die gewerkschaftliche Organisation erleichtern soll. Barack Obama hat vor der Wahl die Unterstützung des EFCA angekündigt, schließlich wusste er, dass er ohne die Gewerkschaften und gewerkschaftlichen organisierten Wähler nicht ins Weiße Haus einziehen würde. Doch ob dem neuen Präsidenten das Gesetz je vorliegen wird, ist unklar, denn die Geschäftswelt leistet erbitterten Widerstand, der sich in eine republikanische Blockade des Gesetzes im Senat übersetzen kann – und dafür reichen schon entschlossene 41 von 100 Senatoren.

In „Your new job” sehen wir einen Manager im Anzug, der freundlich und enthusiastisch die Segnungen der amerikanischen Arbeitswelt anpreist, unter anderem mit dem Argument der Freiheit – wem der Job nicht passt, kann jederzeit gehen! Sicher, dieses Prinzip des „at will employment“ erlaubt auch den Unternehmen, das Arbeitsverhältnis von einer auf die nächste Minute zu beenden und den Gekündigten vom Sicherheitsdienst zum Ausgang begleiten zu lassen. Das ist eben der Preis der Freiheit. Die amerikanischen Arbeitgeber nutzen diese von Karl Marx „doppelt“ genannte Freiheit der Lohnabhängigen regelmäßig dazu, Gewerkschaftssympathisanten mit Kündigungen zu bedrohen oder zu bestrafen. Das passiert zwar nicht explizit, denn das ist in einem demokratischen Rechtsstaat selbstverständlich verboten. Aber es bedarf ja zum Glück der Unternehmen keines Kündigungsgrundes, solange kein Tarifvertrag einen Kündigungsschutz einführt. Die Beweislast liegt beim Gekündigten, der dann vielleicht drei Jahre später vor Gericht seine Wiedereinstellung erzwingt. Zu diesem Zeitpunkt ist der gewerkschaftliche Organisierungsversuch, der in den USA stets per Mehrheitsentscheidung Betrieb für Betrieb erfolgen muss, längst gescheitert.

Amerikanisten haben sich immer wieder mit der Frage beschäftigt, warum es „in den USA keinen Sozialismus” gibt. Die Antworten verweisen gewöhnlich auf amerikanische Besonderheiten wie den ausgeprägten Individualismus, die Abwesenheit feudaler Strukturen und das früh eingeführte Wahlrecht (für weiße Männer), aber dieser „American exceptionalism“ wurde und wird auch mit repressiven Maßnahmen betrieben und reproduziert. Die große Bedeutung der Freiheit für das amerikanische Selbstverständnis haben gleichwohl auch die Gewerkschaften und ihre demokratischen Unterstützer im Kongress erkannt. Der „Employee Free Choice Act“ greift die republikanische Praxis auf, Gesetzen Namen zu geben, die an amerikanische Grundwerte anknüpfen oder positiv assoziierte Begriffe enthalten, auch wenn der Gesetzesinhalt dem Hohn spricht (der „USA Patriot Act“, der die Bürgerrechte einschränkt, ist wohl das bekannteste Beispiel, schön ist aber auch ein „Clean Air“-Gesetz, dass die Standards für die Luftqualität herabsetzt).
Auch EFCA ist nicht unproblematisch. Das von den Gewerkschaften anstelle geheimer Wahlen gewünschte Verfahren, von einem neutralen Dritten Beitrittserklärungen zählen zu lassen (tatsächlich eher Absichtserklärungen, denn eine individuelle Gewerkschaftsmitgliedschaft ist in den USA nicht vorgesehen, die Gewerkschaften begründen sich immer kollektiv), kann auch heute schon vom Unternehmen freiwillig zugelassen werden. Die Unternehmen bevorzugen aber die geheime Wahl, allerdings nicht aus lauteren demokratischen Motiven, sondern weil sie den Zeitraum zwischen Beantragung der Wahl – hierfür sind Absichtserklärungen von 30 Prozent der Belegschaft notwendig – und Wahltermin für eine antigewerkschaftliche Kampagne nützen können. In der Praxis willigen Unternehmen regelmäßig nur dann in das „Card Check“-Verfahren ein, wenn die Gewerkschaften öffentlichen und wirtschaftlichen Druck auf das Unternehmen entwickelt haben. Da es mühselig und teuer ist, eine solche Kampagne zu starten, sind erfolgreiche Gewerkschaften wie die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU dazu übergegangen, mit Unternehmen Vereinbarungen über die Organisierung mehrerer oder aller Betriebe zu treffen. Für das Versprechen, sich in diesem Verfahren neutral zu verhalten, wollen die Unternehmen aber Gegenleistungen, etwa Zugeständnisse bei zukünftigen Tarifverhandlungen. Solche Vereinbarungen zwischen Gewerkschaft und Unternehmen sind jedoch äußerst fragwürdig, weil die zukünftigen Mitglieder an ihnen ja nicht beteiligt sind. Die geschilderte Praxis ist innerhalb der US-Gewerkschaften daher sehr umstritten – sie wäre aber nach Änderung des Arbeitsrechts durch EFCA auch nicht mehr nötig, wie man in denjenigen kanadischen Provinzen sehen kann, wo EFCA-ähnliche Regeln gelten.

Die Unternehmen und republikanischen Kritiker von EFCA stoßen sich vor allem daran, dass die im Titel des Gesetzes in Aussicht gestellte freie Entscheidung („free choice“) der Tatsache Hohn spricht, dass nach der Mehrheitsentscheidung für die Gewerkschaft jeder Beschäftigte Mitglied werden oder jedenfalls eine Gebühr für die Dienstleistungen der Gewerkschaft entrichten muss. Diese Zwangsmitgliedschaft wird als „unamerikanisch“ empfunden. Die grundsätzliche Kritik an diesem Aspekt der amerikanischen industriellen Beziehungen ist nicht ganz unberechtigt, doch offensichtlich heuchlerisch. Denn die Geschäftswelt ist offensichtlich nicht zu einem System flächendeckender Tarifvereinbarungen bereit, das die Gewerkschaften besser in die Lage versetzen würde, Trittbrettfahrer zu dulden. Allerdings kann man an den teilweise dramatisch gesunkenen Mitgliederzahlen deutscher Gewerkschaften sehen, dass die Toleranz von trittbrettfahrenden Nichtmitgliedern, die ohne Eigenleistung in den Genuss von Tarifvereinbarungen kommen, organisationspolitische Grenzen hat. Der Kampf um EFCA dient letztlich dazu, sicherzustellen, dass bürgerliche Freiheiten auch am Arbeitsplatz nicht gänzlich aufgegeben werden müssen. Nicht nur die „Freiheit vom Staat“ ist bedeutsam, sondern über das Ausüben von Vereinigungsfreiheit auch die „Freiheit vor unternehmerischer Willkür“.

Zuerst erschienen in: Fundiert. Das Wissenschaftsmagazin der Freien Universität Berlin, No. 2, 2008, pp. 79-83.

Der Beitrag wurde am Mittwoch, den 25. Februar 2009 um 16:54 Uhr von Thomas Greven veröffentlicht und wurde unter Arbeitsmarkt und Soziales, Congress Watch, The State of American Democracy: Innenpolitik, The State of the Union: Gewerkschaften in den USA abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

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