Besondere Sorge bereite ihm das Potenzial für Gewalt gestand James K. Galbraith in der Frage und Antwort Runde, die sich seiner Festrede anlässlich des 50-jährigen Bestehens des John-F.-Kennedy Institut für Nordamerikastudien am 28. Juni 2013 anschloss. Die andauernden Konsequenzen der globalen Finanzkrise hätten insbesondere in den südeuropäischen Ländern eine bedrohliche Eigendynamik entwickelt, angesichts derer sich die europäische Politik entscheiden müsse, entweder dringende Schritte zur Stabilisierung der Ökonomie vorzunehmen oder aber Gefahr zu laufen, die Kontrolle zu verlieren und irreparablen Schaden nicht nur an jenen Ländern, sondern auch am Funktionieren der Demokratie in Europa anzurichten.
Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Lyndon B. Johnson School of Public Affairs der University of Texas at Austin, der im Rahmen der Feierlichkeiten des interdisziplinären Kennedy-Instituts den sozialwissenschaftlichen Beitrag übernahm, trägt einen berühmten Namen. Er ist Sohn eines äußerst einflussreichen Ökonoms, John Kenneth Galbraith, hochrangiger Berater und Diplomat der John F. Kennedy Administration sowie öffentlicher Intellektueller mit analytischem Scharfsinn, zugänglichem Schreibstil und entsprechend breiter Leserschaft. Hiermit erklärt sich zum einen das Insider-Wissen James K. Galbraiths, der vom Kindesalter an mit der großen Politik aufwuchs – in seinem Vortrag erwähnt er einen Brief, der heute sein Büro in Austin ziert und ihm zugesendet wurde, als er neun Jahre alt war, gezeichnet: John F. Kennedy. Zum Anderen, so Galbraith selbst in seinen einführenden Bemerkungen, sei seine Biographie auch ein Grund für seine Nähe zum John-F.-Kennedy Institut.
Tiefe Einblicke in die Regierungspolitik konnte James K. Galbraith auch als Executive Director of the Joint Economic Committee unter Ronald Reagan und als Berater anderer Regierungen gewinnen. In seiner Tour de force – die mit Beobachtungen von Karl Marx über die Vereinigten Staaten in den 1860er Jahren begann, dann auf die Weltwirtschaftskrise von 1929, den New Deal und dessen Nachhall in John F. Kennedys ‚New Frontier‘ und Lyndon B. Johnsons ‚Great Society‘ einging und in einer präzisen Analyse der gegenwärtigen Krise auf beiden Seiten des Atlantiks endete – konnte Galbraith also aus dem Vollen schöpfen. Seine seltene Fähigkeit, komplexe, die jahrzehnte überspannende Zusammenhänge zu verdichten und dennoch verständlich zu machen, stellte Galbraith in seinem Vortrag eindrücklich unter Beweis.
Worum ging es Galbraith? Mit Blick auf die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialkrise stellte er zunächst die Fremdwahrnehmung der transatlantischen Gegenüber als verzerrt, aber als für beide Seiten nützlich dar. Aus europäischer Sicht erschienen die USA als Verfechter des freien Marktes, der flexibilisierten Arbeit und des kleinen Staats. Europa hingegen würde aus US-amerikanischer Perspektive als sozialistische Festung der rigiden Regulierung dargestellt. Treffe auch keine der Darstellungen die Wirklichkeit, so dienten sie doch für politische Zwecke rechts wie links des politischen Kontinuums als hilfreiche Kontrastfolie oder Projektionsfläche der eigenen Politik. Ironischerweise habe allem voran der ‚Gridlock‘ in den Vereinigten Staaten maßgeblich zu finanzpolitischen Unterschieden zwischen den USA und Europa geführt, die sich sonst allerdings bis auf einige Ausnahmen – bspw. was die Art der Schulden und die institutionelle Stabilität betrifft – viel weniger unterschieden als oftmals angenommen. Er freue sich über die Blockadehaltung im Kongress, betonte Galbraith daher mit einem Augenzwinkern, da sie in den USA eine verschärfte Austeritätspolitik im Stile Europas verhindere.
Mit besonderer Aufmerksamkeit widmete sich Galbraith den Auswüchsen der Krise in Griechenland. Die Schließung des staatlichen Hörfunk- und Fernsehsenders ERT habe eine Grenze überschritten, denn sie sei Beleg für die Bereitschaft der Politik, das zentrale Forum der öffentlichen Meinungsbildung ökonomischen Interessen zu unterwerfen. Galbraith, der bei der Schließung selbst vor Ort gewesen war, berichtete gleichzeitig jedoch vom politischen Willen und den Bemühungen der Bevölkerung, den Sendebetrieb aufrecht zu erhalten und umriss damit die Konturen einer womöglich entstehenden Solidaritätsbewegung und Wiederaneignung demokratischer Politik.
Möglicherweise äußert sich im Fall Griechenlands, dem Galbraith eine besondere, über das Beispiel selbst hinausweisende Bedeutung beimaß, was Karl Polanyi vor knapp siebzig Jahren als ‚Double Movement‘ bezeichnete. Nämlich eine spontane Bewegung der Bevölkerung gegen den letztlich unmöglichen, weil die Gesellschaft aushöhlenden Versuch, den freien Markt in allen Lebensbereichen zu etablieren. Diese Gegenbewegung beförderte laut Polanyi in europäischen Gesellschaften die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaats. Wie könnte eine solche Reaktion heute aussehen?
Ein anderes denkbares Szenario für die Zukunft Europas sei hingegen das an vielen Stellen zu beobachtende Aufkeimen nationalistischer und gewaltbereiter Bewegungen, deren Konsequenzen für die ohnehin defizitäre Demokratie in Europa nicht abzusehen, aber zweifelsohne besorgniserregend seien.