Die Vereinigten Staaten von Amerika gelten spätestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs westlichem Verständnis nach als die Mutter aller modernen »Zivilgesellschaften « – also eine »Assoziation selbständiger, politisch und sozial engagierter Bürger, die ihre externen wie internen Konflikte friedlich löst«, wie das ZEITLexikon definiert – und damit als das Vorbild schlechthin für den noch unzivilen Rest der Welt. Ist das gerechtfertigt? Denn gerade die USA sind auch eine in starkem Maße von Töten und Gewalt geprägte Gesellschaft. Diese Feststellung bezieht sich nicht allein auf ihren gigantischen Militärapparat und dessen bis in die Gegenwart mehr oder weniger kontinuierlichen Einsatz in allen Teilen der Welt, dem in den sechzig »Nachkriegsjahren« Millionen von Menschen, vor allem in Südostasien , zum Opfer fielen, der sich aber auch bedenkenlos der eigenen Armen im Lande als Verbrauchsmaterial und Schmiermittel für seine Maschinerie bedient – mit zum Teil verheerenden Folgen für die Überlebenden und deren Angehörige, sondern sie bezieht sich auch – und davon soll in diesem Aufsatz die Rede sein – auf die innere Verfassung des Landes, auf das alltägliche Leben in der Heimat selbst.
Umfragen zufolge fühlt sich der us-amerikanische Durchschnittsbürger durch eine ständig wachsende Kriminalität bedroht. Unter anderem hat das dazu geführt, dass Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung bzw. die Ankündigung von Gesetzen zu strengerer Bestrafung von Straftätern heute häufig gebrauchte Mittel sind, um Wählerstimmen zu mobilisieren oder die Popularität in Bedrängnis geratener Regierungen wieder zu steigern. Umgekehrt kann der politische Gegner am sichersten dadurch diskreditiert werden, dass man ihm eine weiche Haltung gegenüber »gewalttätigen Kriminellen« unterstellt. Die jüngste politische Geschichte ist voll von Beispielen, wie Politiker bzw. deren Wahlkampfstrategen die Angst vor der Kriminalität für ihren Erfolg nutzbar gemacht haben.
Was ist das für eine merkwürdige Gesellschaft? Ist sie nun zivil oder das Gegenteil davon, wie immer das heißen mag? Oder am Ende gar beides zugleich? Erzeugt das Leben unter amerikanischen Bedingungen mehr Kriminalität als anderswo? Wer sind diese »Kriminellen«, vor denen die Bevölkerung Angst hat? Warum lassen sich mit diesem Thema in den USA Präsidentschaftswahlen gewinnen? Ist die us-amerikanische Gesellschaft wirklich so gewaltgeplagt? Oder handelt es sich dabei um eine selektive Wahrnehmung?
Verständigen wir uns zunächst über Begriffliches: Es gibt grundsätzlich zwei Formen, in denen Gewalt innerhalb einer Gesellschaft ausgeübt werden kann: als interpersonelle und als strukturelle Gewalt (Chasin 1998, 4). Interpersonelle Gewalt bezeichnet alle intentionalen oder unintentionalen Handlungen von Menschen, die eine körperliche Verletzung bzw. Tötung von anderen Menschen zur Folge haben. Dazu gehören Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung sowie gefährliche Körperverletzung, Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sowie Vergewaltigung. Als strukturelle Gewalt dagegen gelten all jene gesellschaftlichen Zustände bzw. durch Menschen direkt oder indirekt herbeigeführten oder zu verantwortenden Umstände, unter denen anderen Menschen ein menschenwürdiges Leben erschwert wird und unter denen ihre physische und psychische Unversehrtheit und in letzter Instanz ihr Leben kontinuierlich gefährdet werden. Zu den Indikatoren struktureller Gewalt zählen z.B. die Säuglingssterblichkeit, die Anzahl der Unfälle am Arbeitsplatz, die Häufigkeit von Unfällen im Straßenverkehr mit Personenschäden und in den Haushalten, die Luftverschmutzung, die Erzeugung giftiger Industrieabfälle sowie die Belastung durch Pestizide in der Nahrungskette.
Es dürfte nicht allgemein bekannt sein, dass auf dem Feld der strukturellen Gewalt die Vereinigten Staaten auf beinahe allen Gebieten unangefochtene Spitzenreiter unter den entwickelten Industrieländern sind. Laut dem Entwicklungsbericht der Weltbank lag die Säuglingssterblichkeit in den USA zu Beginn der neunziger Jahre im Durchschnitt um ca. 50 % höher als in allen von Einkommen und Sozialstruktur her vergleichbaren Ländern Westeuropas und in Japan. Ebenfalls vorn unter vergleichbaren Nationen liegen die US-Amerikaner in der Produktion gefährlicher Abfallstoffe sowie in der unfreiwilligen Konsumtion von Pestizid-Rückständen oder hormonellen und antibiotischen Futterzusätzen beim täglichen Verzehr von Obst, Gemüse und Fleischprodukten. Selbst auf dem Feld der Verkehrsunfälle mit Personenschaden ragen die USA heraus. Entgegen landläufiger Vorstellungen über die angebliche Sicherheit des »gemächlichen« Fahrens unter dem Regime universaler Geschwindigkeitsbeschränkungen war z.B. im Jahr 1985 die auf die Bevölkerungszahl bezogene Anzahl der Verkehrsunfälle mit Personenschäden in den USA etwa doppelt so hoch wie in dem »Raserland« Deutschland und sechsmal so hoch wie in Schweden (World Bank 1994, zit.n. Chasin 1998, 8).
Obwohl die Daten eine eindeutige Sprache sprechen, sind sie doch nicht dermaßen weit entfernt von einigen vergleichbaren Ländern, als dass man hier schon uneingeschränkt von einer Sonderstellung der USA sprechen könnte. Vielfach sind sie einfach relativ junge Auswirkungen der neoliberalen Offensive des Kapitals seit den 1980er Jahren, die zu einer Polarisierung in den Eigentumsverhältnissen und Einkommen, zu einer Verschärfung der Arbeitsbedingungen einschließlich der Lockerung von Arbeitsschutzbestimmungen, zu einer generellen Verarmung und zu einer wachsenden Zahl von Menschen ohne jeden Krankenversicherungsschutz geführt hat. Es sind sozusagen spin-offs des Turbo-Kapitalismus, denen die europäischen Partner der USA mit Hingabe nachzueifern bemüht sind. Somit sind sie mehr entwicklungsinduzierte als kulturspezifische Erscheinungen.
Als Volltext erschienen in: Das Argument 263/2005