The State of American Democracy

Research-based Analysis and Commentary by the Department of Politics at the John-F.-Kennedy Institute

Bedenklicher Perspektivenwandel? Genopolitics in den US-amerikanischen Politikwissenschaften

Lässt sich Wahlverhalten auf das Genom eines Menschen zurückführen? Ist politische Gesinnung erblich? Hängt die Parteizugehörigkeit mit Dopaminrezeptoren zusammen – und, wenn ja, wie? Was in deutschen Ohren vielleicht wie ein Nachhall aus überwunden geglaubten, wissenschaftlich unrühmlichen Zeiten klingt, ist in einigen US-amerikanischen Politik-Departments keineswegs Tabu. Unter dem Schlagwort der Genopolitics forscht eine Reihe von Politikwissenschaftlern an durchaus namhaften Institutionen wie Harvard, der New York University und der University of California in San Diego zu den genetischen Grundlagen politischen Verhaltens.

Was erhofft man sich von diesem Ansatz? Mehr als in der deutschen Politikwissenschaft haben sich in den Vereinigten Staaten spieltheoretische und verhaltenspsychologische Herangehensweisen durchgesetzt. Dies hängt nicht unwesentlich mit der auch in den Wirtschaftswissenschaften vorangetriebenen Mathematisierung der Analyse gesellschaftlicher Phänomene zusammen. Hier wie dort bedarf es eines rationalen Akteurs, dessen Beweggründe und Handlungsmotivationen es möglichst nuanciert zu erklären gilt. Dazu dienen schon seit einiger Zeit behavioralistische Untersuchungen – und seit einigen Jahren nun auch das Genmaterial.

Dass es sich hierbei nicht um ein Nischenphänomen handelt, zeigt sich auch daran, dass die American Political Science Review, eine der angesehensten Fachzeitschriften, mehrere Artikel zu diesem Thema veröffentlicht hat. 2005 erschien dort der erste Aufsatz, der sich auf Zwillingsstudien berief, um politische Orientierung anhand genetischer Prädispositionen erklärbar zu machen (Alford, Funk und Hibbing 2005). Weitere Aufsätze folgten, auch in anderen Fachjournals wie dem Journal of Politics. Der dort veröffentlichte und vermutlich am häufigsten zitierte Artikel aus jener neuen Forschungsrichtung mit dem Aufsehen erregenden Titel ‚Two Genes Predict Voter Turnout‘ rief 2008 schließlich auch die Presse auf den Plan: Das Wall Street Journal befasste sich, wenig kritisch, mit der „Biologie der Ideologie“ und die New York Times betitelte einen Leitartikel in Anspielung auf Bill Clintons geflügtes Wort mit „It’s the genes, stupid“.

Insbesondere in der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Wahlverhalten kommt den Genopolitics eine besondere Rolle zu, da dort das Erklärungsmodell des rationalen Akteurs an seine Grenzen stößt. Die Grundannahme ist folgende: Die ‚Kosten‘ des Einzelnen, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen – sich also die Zeit zu nehmen, zum Wahllokal zu gehen, obwohl der Einfluss der einzelnen Stimme auf das Wahlergebnis verschwindend gering ist –, sind immer höher als dessen Nutzen. Das aus dieser Perspektive „irrational“ anmutende Verhalten des Wählers versucht man nun anhand seiner genetischen Voraussetzungen zu erklären.

Was an dieser Herangehensweise unter anderem problematisch ist, lässt sich mit einem genaueren Blick auf die Forschungsergebnisse verdeutlichen. Denn in der Tat werden hier Kausalitäten recht grobschlächtig über mehrere Ecken hergestellt. In ihrem Artikel argumentieren James H. Fowler, der 2010 von Foreign Policy für seine Arbeit über soziale Netzwerke zu einem der Top 100 Global Thinkers gekürt wurde, und Christopher T. Dawes von der University of California in San Diego, dass zwei Gene die Wahlbeteiligung vorhersagen. Die Autoren stützen ihre Thesen darauf, dass Polymorphismen der Gene MAOA und 5HTT in Tierversuchen mit antisozialem Verhalten in Verbindung gebracht wurden. Diese Gene stehen auch bei Menschen im Zusammenhang mit der Steuerung des Serotoninhaushalts und damit mit der Fähigkeit, mit Stress umzugehen. Anders ausgedrückt: Menschen mit den „richtigen“ Genen können Stress besser bewältigen und deshalb – so die gewagte These der Autoren – auch besser mit Stresssituation wie beispielsweise einer Wahl umgehen, bei der ja der Wahlausgang ungewiss ist und die bevorzugte Partei verlieren könnte.

Was an dieser Argumentationskette besonders aufstößt ist die Art und Weise wie sie präsentiert wird. Allein der Titel – ‚Two Genes Predict Voter Turnout‘ – kommt daher, als wäre hier eine klare Kausalität zwischen Genen und Wahlverhalten aufgedeckt worden. Da hilft es wenig, dass erst abschließend und eher nebenbei erwähnt wird: „Again, we cannot test any causal pathway given our data so we are merely speculating based on previous work done in behavior genetics and political science.” (Fowler and Dawes 2008, 590) Diese Struktur des Artikels – eine starke These, die erst sehr viel später relativiert wird – hat zur Folge, dass es auf den ersten Blick tatsächlich so scheint, als sei hier eine erkenntnisversprechende Forschungsrichtung entstanden; ein Eindruck, der mit jedem weiteren, gegenseitig bezugnehmenden Aufsatz verstärkt wird. So ist es wenig verwunderlich, dass auch der Untertitel des bereits angesprochenen Wall Street Journal Artikels davon ausgeht: “Studies Suggest Many of Our Political Choices May Be Traced to Genetic Traits”.

Es regt sich jedoch auch Widerstand: „Two genes don’t predict voting behavior,“ entgegnet der Politikwissenschaftler Evan Charney (Duke University): „They [Fowler und Dawes] are working with a model of genetics that is almost childlike in its crudeness.“ (zitiert nach Hotz 2008; siehe auch Charney und English 2012). Nichtsdestotrotz bleibt die Kritik zumeist technisch: ob also die Maße korrekt gewählt wurden oder ob die Forschung im Widerspruch mit existierenden Studien und Verfahren steht (Fowler und Dawes 2013, 367).

Ob die Genopolitics als Forschungsrichtung der Politikwissenschaften eine Modeerscheinung bleiben werden oder ihren Siegeszug in den Politikwissenschaften weiter fortsetzen, wird zweifelsohne nicht zuletzt auch davon abhängen, ob es gelingt eine Kritik auf nicht-technischer Ebene zu artikulieren. Eine grundsätzlichere Kritik, die sich beispielsweise auf die Gefahren biologistisch argumentierender Sozialwissenschaften stützen könnte, bleibt jedoch bislang aus.

 

Alford, J. R., C. L. Funk, und J. R. Hibbing. 2005. “Are Political Orientations Genetically Transmitted?” American Political Science Review 99 (2): 153–67

Charney, E. und W. English. 2012. “Candidate Genes and Political Behavior.” American Political Science Review 106 (1): 1-34

Fowler, J. H. and C. T. Dawes. 2013. “In Defense of Genopolitics.” American Political Science Review 107 (2): 362-74

–––. 2008. “Two Genes Predict Voter Turnout.” The Journal of Politics 70 (3): 579-94

Hotz, Robert Lee. “The Biology of Ideology.” The Wall Street Journal, September 4, 2008

New York Times. „Editorial. It’s the Genes, Stupid.“ The New York Times. May 27, 2008

Der Beitrag wurde am Montag, den 20. Mai 2013 um 16:33 Uhr von Boris Vormann veröffentlicht und wurde unter Allgemein abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.

Eine Reaktion zu “Bedenklicher Perspektivenwandel? Genopolitics in den US-amerikanischen Politikwissenschaften”

  1. Ailuu

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