Migration und Flucht

Ein Blog des Lateinamerika-Intituts der Freien Universität Berlin

Die Ausbeutung syrischer Kinder in der Türkei

Seit 2011 wütet in Syrien der Bürgerkrieg, dem fast eine halbe Million Menschen bereits zum Opfer gefallen sind. Aktuelle Bilder und Videos aus Aleppo ermöglichen uns nur einen kleinen Einblick in den Horror, den viele Syrer*innen täglich erleben müssen. Der Bürgerkrieg hat viele Syrer*innen dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Neben den europäischen Ländern, haben auch umliegende arabische Länder sowie die Türkei syrische Flüchtlinge aufgenommen. Laut Amnesty International befinden sich insgesamt ca. 4,5 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei, in Ägypten, im Libanon, im Irak und in Jordanien. Die meisten davon befinden sich in der Türkei: Aktuell sind dort laut Daten der UN 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge registriert – 1 Million davon sind Kinder. Die Lage, in der sich die syrischen Flüchtlinge in der Türkei befinden, ist kritisch. Das gilt insbesondere für flüchtende Kinder. Die größten Probleme stellen hierbei der schwere Zugang zu Bildung und die Ausbeutung der Kinder in Fabriken dar. Während die türkische Regierung vorsieht, dass syrische Kinder einen freien Zugang zur Bildung haben sollen, können in Wirklichkeit die meisten nicht von diesem Recht Gebrauch machen: Eine halbe Million syrische Kinder im schulfähigen Alter haben keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Vor dem Krieg besuchten laut UNICEF 99 Prozent aller syrischen Kinder die Grundschule und 82 Prozent weiterführende Schulen. Heute können insgesamt 3 Million syrische Kinder keine Schule besuchen.

Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und zahlreicher Journalisten werfen ein Licht auf die besorgniserregende Situation, in der sich syrische Familien in der Türkei befinden. Aufgrund der prekären ökonomischen Lage, sind viele syrische Kinder dazu gezwungen, ihre Familien finanziell zu unterstützen. Human Rights Watch stellt in einem aktuellen Bericht fest, dass Kinderarbeit bereits vor der Aufnahme syrischer Flüchtlinge ein weit verbreitetes Problem in der Türkei war. Syrische Kinder werden vor dieser Spirale der Ausbeutung nicht geschützt: Tausende von ihnen sollen unter anderem in Sweatshops arbeiten. Hier sollen sie manchmal sogar sechs Tage die Woche à ca. 12 Stunden für einen Monatslohn von umgerechnet 100 Euro arbeiten. Ihre Eltern können es sich nicht leisten, auf den Lohn ihrer Kinder zu verzichten. Manchmal sind die Kinder die einzigen Mitglieder einer Familie, die einen Lohn nach Hause bringen. Folglich ist der Besuch einer Schule für viele syrische Kinder undenkbar. Momentan wächst in der Türkei somit jedoch eine Generation junger Syrer heran, die nicht bzw. kaum lesen und schreiben können und sich somit nur schwer eine bessere Zukunft aufbauen können. Für einige von ihnen gibt es jedoch einen Hoffnungsschimmer. Im Rahmen unseres Workshops haben wir Shadi kennengelernt, der bereits 2011 mit seiner Familie aus seinem Heimatland geflohen ist und uns von seinen Erlebnissen in der Türkei erzählt hat. Diese Geschichte, die Shadi bereits letztes Jahr im Rahmen eines Leseabends des Primo-Levi-Gymnasiums aufgeschrieben hat, möchten wir hier gerne teilen:

„Meine Familie und ich haben Syrien wegen des Krieges verlassen. Danach lebten wir im Libanon für anderthalb Jahre. Dann gingen wir in die Türkei. Sechs Monate lang haben ich und meine große Schwester Noor in Istanbul gearbeitet. Ich habe jeden Tag 12 Stunden genäht, von Montag bis Samstag. Ich hatte einen Tag frei. In einem Monat habe ich 100 Euro verdient. So unterstützte ich meine Familie. Danach gingen meine Mutter, meine kleine Schwester Shaza und ich nach Marokko, während mein Vater und meine große Schwester in der Türkei blieben. Noor ging zurück nach Syrien zu meiner Tante und meiner Großmutter. Mein Vater ging nach Algerien. In Marokko lebten wir 15 Tage bei der Familie meiner Mutter. Mein Vater kam über Algerien zu uns und wir reisten gemeinsam nach Melilla. Dort lebten wir einen Monat und 15 Tage in Zelten, wobei mein Vater und ich mit 25 anderen Männern in einem Zelt wohnten, weil Männer und Frauen getrennt wurden. Dann fuhren wir über das Mittelmeer mit einer Fähre nach Spanien, mit einem Bus von der Küste nach Madrid. In Madrid waren wir zwei Tage und von dort sind wir mit einem Flugzeug nach Berlin geflogen.“
Shadi hat außerdem einige seiner Bilder mit uns teilen wollen:

Meine Schwester Noor und ich in Damaskus, lange bevor der Krieg begann

Meine Schwester Noor und ich in Damaskus, lange bevor der Krieg begann

Ich im Libanon

Ich im Libanon

 

In Beirut, kurz vor der Schiffsreise in die Türkei

In Beirut, kurz vor der Schiffsreise in die Türkei

 

Auf der Reise von Ismir nach Istanbul

Auf der Reise von Ismir nach Istanbul

 

In Casablanca, Marokko

In Casablanca, Marokko

 

Im "Centro Temporal de Inmigrantes", Melilla

Im „Centro Temporal de Inmigrantes“, Melilla

Angekommen in Deutschland, in einer Turnhalle. Unsere Notunterkunft ist in der Nähe vom Heidelberger Platz in Berlin

Angekommen in Deutschland, in einer Turnhalle. Unsere Notunterkunft ist in der Nähe vom Heidelberger Platz in Berlin

 

Ich bin jetzt Schüler einer Willkommensklasse am Primo-Levi-Gymnasium. Hier machen wir einen Ausflug nach Potsdam.

Ich bin jetzt Schüler einer Willkommensklasse am Primo-Levi-Gymnasium. Hier machen wir einen Ausflug nach Potsdam.

Shadi hatte im Vergleich zu anderen syrischen Kindern und Jugendlichen Glück. Er lernt fleißig Deutsch und will später studieren. Die Möglichkeit zur Schule zu gehen, muss allen Kindern – unabhängig ihres Aufenthaltsorts – gewährleistet werden. Das wird für viele flüchtende Kinder, insbesondere für diejenigen, die aufgrund der schwierigen ökonomischen Lage ihrer Familie die Türkei nicht verlassen können, womöglich nur ein Traum bleiben, sofern die türkische Regierung sowie die Staaten der europäischen Union nicht etwas unternehmen, um sie vor Ausbeutung zu schützen und es ihnen ermöglichen, von ihrem Recht auf Bildung Gebrauch zu machen.

 

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Der Beitrag wurde am Mittwoch, den 28. September 2016 um 11:00 Uhr von Ivana Marotta veröffentlicht und wurde unter Beiträge abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf Ihrer Seite einrichten.

Eine Reaktion zu “Die Ausbeutung syrischer Kinder in der Türkei”

  1. Marga-Berit Zenth

    Welche Auswirkungen und Implikationen hat Flucht und Migration auf die verschiedenen Geschlechter? Welche auf aeltere Menschen?

    Und welche hat sie auf Kinder? Dies ist eine der Fragen, die meiner Meinung nach bisher nicht annaehrend ausreichend im oeffentlichen Diskurs thematisiert wurde. Wir erleben das Aufwachsen einer Generation, der ein fundamentales Menschenrecht, das Recht auf Bildung, verwehrt wird. „Verlorene Generation“, titelte der SPIELGEL 2013 in seinem online Beitrag „Kinder im Krieg. Syriens verlorene Generation“. UNICEF hat im gleichen Jahr ein Programm initiiert, das Kinder in Syrien sowie Kinder auf der Flucht mit Bildungsangeboten unterstuetzen soll.

    #noLostGeneration

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