Migration und Flucht

Ein Blog des Lateinamerika-Intituts der Freien Universität Berlin

Migrationsgeschichten: Chinesische Migration in Buenos Aires

Argentinien ist ein Land, das von Migration geprägt ist und dessen Einwohnerzahl Ende des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts auf Grund dieser stark gestiegen ist. Damals kamen hauptsächlich Europäer*Innen aus Italien, Spanien und Deutschland nach Argentinien. In den 80er und 90er Jahren kam es dann erneut zur vermehrten Migration nach Argentinien. Bei dieser „nueva migración“, wie sie im argentinischen Kontext häufig  bezeichnet wird, handelte es sich größtenteils um asiatische Einwander*Innen aus China und Taiwan oder um Einwander*Innen der Länder, die im Norden an Argentinien grenzen, wie Bolivien und Paraguay.[1]

Heutzutage läuft man durch die Straßen von Buenos Aires und ist vielleicht erstaunt über die Vielzahl chinesischer Supermärkte, die seit den letzten 20 Jahren mehr und mehr das Stadtbild prägen. Supermärkte, in denen nicht etwa chinesische Spezialitäten angeboten werden, sondern die gleichen Produkte wie in großen argentinischen Supermarktketten, mesuerteistens zu niedrigeren Preisen. Von Lebensmitteln über Hygiene-Produkte bis hin zur Tiernahrung haben diese Läden fast alles im Sortiment und treten mehr und mehr an die Stelle argentinischer almacenes, kleine Eckläden, die vergleichbar mit dem deutschen „Tante Emma-Laden“ sind. Bereits 2002 wurde ein Viertel aller Supermärkte in Capital Federal und Gran Buenos Aires von Chines*Innen geführt[2]. 2012 waren es laut einem Bericht des Ministerio de Agroindustria schon 80 Prozent[3]. Dieses Phänomen macht die sogenannte „nueva migración“ besonders deutlich und hat sich im argentinischen Spanisch längst auch in der Umgangssprache niedergeschlagen. So ist es ganz und gar nicht ungewöhnlich, den Satz „Voy al chino“ zu hören, der nichts anderes meint als „Ich gehe einkaufen“.

Auch der Supermarkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite meiner Wohnung hat chinesische Besitzer. Hier gehe ich fast jeden Tag ein und aus, um die Einkäufe zu erledigen. Nach einiger Zeit stellen die Mitarbeiter*Innen und ich uns die Frage „Cómo estás?“ zur Begrüßung nicht nur noch rein rhetorisch, sondern mit echtem Interesse und ich fange an, über die chinesische Migration nach Argentinien zu recherchieren. Außerdem erklären sich die Besitzer zu einem Gespräch bereit, das unter anderem Grundlage für diesen Artikel ist.

Schon seit dem 16. Jahrhundert besteht ein Handelsnetzwerk zwischen Lateinamerika und Asien, bei dem chinesische Güter wie Seide, Porzellan und Edelsteine von großer Bedeutung waren. Diese wurden mit den sogenannten Manila-Galeonen von Manila nach Acapulco gebracht und dort gegen Silber getauscht. Bereits in diesen Jahren wurden Vorrausetzungen für die chinesische Migration nach Lateinamerika geschaffen, die dementsprechend eine lange Geschichte hat. Zu Zeiten des spanischen Kolonialreiches kamen die meisten Asiat*Innen als Arbeitskraft überwiegend nach Peru und Kuba, wo sie unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten mussten.[4] Die chinesische Migration nach Argentinien hingegen ist ein relativ neues Phänomen und wie oben beschrieben beginnt der Anstieg erst in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. In der Forschung hat sie bisher nur wenig Beachtung gefunden.

Neben der steigenden Anzahl  an Supermärkten sprechen auch andere Faktoren dafür, dass die chinesische Gemeinschaft in Buenos Aires wächst. So haben sich neben den staatlichen Institutionen wie die Botschaft der Volksrepublik China oder das chinesische Konsulat auch Institutionen mit kulturellem oder religiösem Charakter etabliert. Hierunter fallen zum Beispiel die chinesischen Schulen, Sportzentren und Tempel. Außerdem gibt es verschiedene Organisationen, die den kulturellen Austausch zwischen Argentinien und China fördern wie zum Beispiel Dang Dai, eine Zeitschrift und online Plattform, die über politische, wirtschaftliche und kulturelle Ereignisse beider Nationen berichtet. Es gibt auch ein barrio chino, das sich im Stadtteil Belgrano befindet, im Norden von Buenos Aires. Hier ließen sich in den 80er Jahren die ersten Taiwanes*Innen nieder, die nach Argentinien kamen. Heute wird es eher kommerziell und nicht als Wohnbezirk genutzt.

Genauso wie die Familie, die den Supermarkt gegenüber von meiner Wohnung in San Telmo (südliches Buenos Aires) leitet, wohnen die meisten Besitzer*Innen im gleichen Gebäude, in dem sich auch ihr Geschäft befindet und somit in der ganzen Stadt verteilt. Der Supermarkt ist ein Familienunternehmen und alle arbeiten mit. Alle, das sind in diesem Fall die Eltern und 2 Kinder, die beide in Argentinien geboren wurden. Sie gehen auf eine der Schulen im Viertel und helfen am Nachmittag im Geschäft. Die chinesischen Supermärkte haben länger auf als die anderen. Dan, der Sohn des Besitzers, erzählt mir, dass es daran liegt, dass sie viel Geld verdienen und sparen müssen, um es zurück nach China zu schicken. Dort leben Verwandte, die auf Geld aus dem Ausland angewiesen sind. Dan ist 16 und kennt diese Verwandten nicht. Er ist in Argentinien geboren und in Buenos Aires zu Hause. Er spricht fließend Spanisch und Mandarin. China kennt er nur durch die Erzählungen seiner Eltern, die seitdem sie in Buenos Aires leben nur einmal zu Besuch in Fujián waren, der Region auf dem chinesischen Festland, die sie vor 23 Jahren verlassen haben.

Die meisten der chinesischen Migrant*Innen in Buenos Aires kommen entweder aus dieser Küstenregion im Osten Chinas oder von der Insel Taiwan. In den 80er Jahren gaben viele der Taiwanes*Innen als Grund ihrer Migration die Angst vor der Ausbreitung des Kommunismus an, während in den Jahren danach eher die Chance auf Arbeit zu den Beweggründen zählte. Es ist die Zeit, in der Argentinien wichtige Schritte in Richtung Demokratie macht und die Wirtschaft erfolgreich angekurbelt wird. Darüber hinaus leben in Argentinien schon Chines*Innen, die kurz nach der Chinesischen Revolution aus politischen Gründen das Land verlassen mussten. Die chinesische Gemeinde in Argentinien ist zwar noch nicht sehr groß, aber neuankommende Chines*Innen verfügen dadurch bereits über verschiedene Anlaufstellen. [5] Diese Tatsache spricht für die Existenz eines weitreichenden transnationalen Netzwerks, das es den Chines*Innen ermöglicht, sich im Ausland geschäftlich zu etablieren. Der enge Kontakt zu Verwandten in China und ihre finanzielle Unterstützung erweitern dieses Netzwerk und machen es vielschichtig. Weltweit zeichnen sich chinesische Migrationsströme durch solche etablierten Netzwerke aus. [6]

Auch die Eltern von Dan sind Teil eines solchen Netzwerks und halten es aufrecht. Sie kamen nach Buenos Aires, weil sich Freunde von Freunden bereits im Capital Federal niedergelassen hatten und von den beruflichen Chancen erzählten. Zwar kannten sie sich nicht persönlich, aber sie hatten zumindest eine Referenz. Am Anfang lebten und arbeiteten sie mit ihren Bekannten zusammen bis sie genug Geld hatten, um ihr eigenes Geschäft zu etablieren, das sie bis heute hier in San Telmo führen. Während unseres gesamten Gesprächs läuft der kleine Fernseher im Hintergrund, der erst eine chinesische Nachrichtensendung zeigt und danach einen Spielfilm mit chinesischen Schriftzeichen als Untertitel. Der Supermarkt ist mehr als ein Ort, um einzukaufen, er ist ein Ort der Begegnung, wo tagtäglich verschiedene Kulturen aufeinander treffen. Doch trotz des täglichen Kontakts zu Argentinier*Innen ist der Weg zur Integration ein schwieriger für Dans Vater. „Es ist nicht leicht, sich in einem neuen Land, in einer anderen Stadt zu etablieren, die Sprache zu lernen und wie die Gesellschaft funktioniert“, erinnert er sich, deshalb macht er auch heute noch lieber Geschäfte mit anderen Chines*Innen. Das birgt für ihn eine gewisse Sicherheit, er bewegt sich auf einem Terrain, das ihm bekannt ist, kulturelle und sprachliche Barrieren fallen weg. Meine Frage, ob er irgendwann gerne zurück nach China möchte, beantwortet er nicht sofort. Nach kurzem Überlegen nickt er: „Wenn die Zeit gekommen ist, dann ja.“ Auch Dans Mutter nickt kurz. Dan hingegen schüttelt den Kopf. „Ich bleibe hier. Wer kümmert sich sonst um den Supermarkt?“

 

 

[1] Vgl. Bogado Bordazar: 2002

[2] Vgl. Ebd.

[3] Vgl. Ablin: 2012

[4] Vgl. Tremml: 2012

[5] Vgl. Bogado Bordazar: 2002

[6] Vgl. Denardi: 2015, Guerra Zamponi: 2010

 

 

Bibliografie

 

Ablin, Amalie (2012): El supermercadismo  argentino. Ministerio de Agroindustria. Buenos Aires. https://www.alimentosargentinos.gob.ar/HomeAlimentos/Nivel%20de%20actividad/niveldeactividad/08Ago_2012_supermercado.pdf (Zugriff: 06.09.2016)

Bogado Bordázar, Laura Lucía (2002): Migraciones Internacionales. Influencia de la Migración China en el Río de la Plata. Tesis, Universidad de La Plata.

Denardi, Luciana (2015): Ser chino en Buenos Aires: historia, moralidades y cambios en la diáspora china en Argentina. In: Horizontes Antroplógicos 21/43, S. 79-103.

Guerra Zamponi, Carolina (2010): La Diáspora China. In: Consejo Argentino para la Relaciones Internacionales. Material de Conferencias, Trabajos y Reuniones de Trabajo – N° 6. https://www.cari.org.ar/pdf/mcsrt6.pdf  (Zugriff: 06.09.2016)

Tremml, Birgit M. (2012): The Global and the Local: Problematic Dynamics of the Triangular Trade in Early Modern Manila. In: Journal of World History 23/3, S. 555-586.

 

Tags: , , , ,

Der Beitrag wurde am Dienstag, den 27. September 2016 um 20:53 Uhr von Anna Giulia Specht veröffentlicht und wurde unter Beiträge, Migration nach und in den Amerikas abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf Ihrer Seite einrichten.

Schreibe einen Kommentar

Captcha
Refresh
Hilfe
Hinweis / Hint
Das Captcha kann Kleinbuchstaben, Ziffern und die Sonderzeichzeichen »?!#%&« enthalten.
The captcha could contain lower case, numeric characters and special characters as »!#%&«.