Migration und Flucht

Ein Blog des Lateinamerika-Intituts der Freien Universität Berlin

Hier. Da. Dazwischen.

Reflexionen zum Diskurs um Flucht und Migration

 

Wie wird Migration heute gedacht? Dem aus vergangen Jahrhunderten stammenden Bild des Dampfschiffes, mit dem der Ozean überquert wird, um in der sogenannten neuen Welt das Glück zu suchen, steht längst das Bild des kenternden Schlauchboot auf dem MittelmIMG_2657eer gegenüber. Mit dem Ozeandampfer ist der Gedanke einer gradlinigen Migration verbunden. Ein „für immer“ ein „hin“. Von hier nach dort. Ein Moment des Abschieds und einer der Ankunft. Die Fahrt mit dem Schlauchboot ist das Fragment einer Reise, einer Flucht, über viele Stationen, vernetzt über Smartphones und soziale Medien mit denen, die schon angekommen sind, mit denen, die zurückgelassen werden mussten. Ein „weg“. Ein ständiges Navigieren im Raum zwischen Punkten auf einer Landkarte, entlang an Grenzzäunen bis zur Stelle des geringsten Widerstandes über sich ändernde Routen, abhängig von Einreisebestimmungen und Asylrichtlinien.

 

Der Charakter und die Modalitäten von Flucht und Migration haben sich mit der Geschichte in vieler Hinsicht verändert. Immer noch schwingen jedoch Narrative mit, die auf dem Mythos der einen großen Reise von hier nach dort gründen. Die Idee vom Ende der Reise an einem Ort, an dem man bleibt und ein neues Leben aufbaut, an dem man ankommen kann, macht sicherlich vieles erträglicher. Diese Perspektive bleibt jedoch oberflächlich, denn sie kommt von außen.

 

Erfahrungsberichte von Migrant_innen sowie theoretische Auseinandersetzungen mit Migration zeichnen ein komplexeres Bild, welches oftmals die öffentliche Debatte konterkariert, welche auch in sich nicht frei von Widersprüchen ist. So wirbt derzeit zum Beispiel Donald Trump in den USA für eine Mauer zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, während die US-Wirtschaft dank widersprüchlicher Gesetzgebungen von der Ausbeutung lateinamerikanischer Migrant_innen im Niedriglohnsektor profitiert und US Firmen zu günstigen Konditionen in Mexiko produzieren (Bada 2016). Auch in Europa fehlt es sicher nicht an widersprüchlichem Umgang mit dem Thema. Zwischen Willkommenskultur und Abschottung wird emotional diskutiert und polarisiert.

 

Das Seminar, aus dem dieser Blog als eine Form der Ergebnissicherung hervorgeht, trug den Titel „Transnationale Migration und Gender“. Die Vorsilbe „trans“ ist im Zusammenhang mit der theoretischen Auseinandersetzung mit Migration und grenzüberschreitenden Verflechtungen längst gängig. Transnational und transkulturell haben Adjektive mit den Präfixen inter- und multi- weitgehend ersetzt und geben in der akademischen Debatte den Ton an. „Trans“ impliziert vielschichtige Verbindungen, die über Grenzen hinausgehen und herkömmliche, oft als homogen konstruierte Einheiten von Nation, Kultur und Identität in Frage stellt.

 

Diese theoretische Perspektive stellt konkrete Erfahrungen von Migrant_innen in den Mittelpunkt. Das Subjekt selbst bildet sein transnationales soziales Netz von Kontakten, Handlungen, Kommunikation und Bezügen. In ihrem Artikel zu peruanischen Migrant_innen in Chile heben Stefoni und Bonhomme (2015) die Familie, die Arbeit und soziale Netzwerke als Kontexte transnationaler Identitätsstiftung hervor. Am Beispiel der Lebensgeschichten drei Peruanerinnen wird deutlich, dass ein Wechsel des Wohnorts durch Migration oder Flucht in seiner Auswirkung viel komplexer ist, als ein gradliniger Weg von A nach B, der beginnt und schließlich mit dem Moment des Ankommens endet. Vielmehr ist er der Ausgangspunkt vielschichtiger Veränderungen.

Im Moment des Ankommens verschwindet nicht das, was vorher war und wird durch einen neuen Ort ersetzt. So einfach ist das nicht. Es bilden sich neue Bezüge, neue Ideen, Versionen vom eigenen Leben, von dem Ort der zurückgelassen wurde, von dem, was vor einem liegt. Es werden Anker ausgeworfen, es erschließen sich neue Räume, neue Kontakte, neue Identitätskonzepte und Perspektiven, in denen das Hier und das Dort nicht sauber von einander abgetrennt werden. Es bilden sich ein Dazwischen (Bhabha 1994) und ein Sein, das sich über Grenzen hinweg konstruiert (Glick Schiller 1992). Ganz klar ist, dass hier etwas Neues entsteht und verschiedene Formen von Zugehörigkeit produziert werden. Erfahrung von Unvereinbarkeit zwischen Start- und Zielpunkt bilden ein Spannungsfeld, in dem sich ein Teil der Erfahrung von Migration abspielt. Homi Bhabha würde dieses Feld als „third space“ bezeichnen.

 

Wie dieser neu entstehende Raum konstruiert wird hängt von vielfältigen Faktoren ab. In ihm entstehen Strategien der Migrant_innen, um Verbindungen zu ihrem Heimatland sowie zu ihrem neuen Land zu etablieren. Eine Veränderung findet auch an dem Ort statt, der verlassen wurde, er kann sogar der Ort sein, der im Fokus der transnationalen Aktivitäten von Migrant_innen steht. Durch Rücküberweisungen, politische Aktivität oder direkte Investitionen bildet das Herkunftsland oftmals weiterhin das Zentrum von Engagement oder Zukunftsplänen der Migrant_innen. Piscitelli zeigt in ihrer anthropologischen Arbeit zu brasilianischen Sexarbeiterinnen und transnationalem Heiratsmarkt, wie Perspektiven von ökonomischer Unabhängigkeit den Mittelpunkt von Migrationskontexten bilden können, die meist mit dem Gegenteil dessen oder sogar mit Menschenhandel in Verbindung gebracht werden.

 

Das Resultat von Migration ist kein „entweder oder“, sondern eine Koexistenz, die den Werten der öffentlichen Debatte von Assimilation und reibungsloser Integration gegenüber steht. Migration ist kein gradliniger Weg, der mit einem vorgefassten Ziel gegangen wird, sondern vielmehr ein Prozess, dessen Bedingungen immer wieder neu ausgehandelt werden.

 

Während der akademische Diskurs über Migration versucht, deren Charakter in seiner Vielschichtigkeit zu differenzieren, bleibt die öffentliche Debatte in den Medien und der nationalen Politik oftmals im polarisierenden Streit um Grenzzäune, die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas und die mehr oder weniger erfolgreiche Integration der Neuankömmlinge stecken. Die Perspektive, die hier zum Tragen kommt, ist eine nationale, welche der globalen Dimension von Flucht und Migration und ihren multidirektionalen Auswirkungen nicht gerecht werden kann und daher zu erweitern ist.

 

 

 

Bibliografie

 

Bhabha, H. (1994): The Location of Culture. New York: Routledge.

 

Bada, X.; Gleeson, S. (2014): Estrategias consulares y de la sociedad cevil para mejorar el cumplimento de los derechos laborales de los inmigrantes mexicanos en los Estados Unidos. Conferencia Activismos Transnacionales de Mexico : Una perspectiva multidisciplinar.

 

Bada, X. (2016): Vortrag über US Einwanderungspolitik und politische Partizipation mexikanischer Migrant_innen in den USA. Vortrag am LAI der Freien Universität Berlin 2016.

 

Glick Schiller, N.; Basch, L. and Blanc-Szanton, C. (1992). Transnationalism: A new Analytic Framework for Understanding Migration. In Glick Schiller, N.; Basch, L. and Blanc-Szanton, C. (Eds.), Towards a Transnational Perspective on Migration. Race, Class, Ethnicity and Nationalism Reconsidered (S. 1-24), New York.

 

Piscitelli, Adriana (2008): Transits: Brazilian women migration in the context of the transnationalization of the sex and marriage markets. Horizontes Antropológicos 4: 101-36.

 

Stefoni, C.; Bonhomme, M. (2015): Vidas que se tejan en contextos transnacionales. Un recorrido por el trabajo, la familia y las redes sociales. In: Imilan, W.; Márquez, F.; Stefoni, C. (ed.) (2015) Rutas migrantes en Chile. Santiago de hile: Ediciones Universidad Alberto Hurtado.

 

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Der Beitrag wurde am Donnerstag, den 6. Oktober 2016 um 16:54 Uhr von Karlotta Jule Bahnsen veröffentlicht und wurde unter Beiträge, Migration nach Europa abgelegt. Sie können die Kommentare zu diesem Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf Ihrer Seite einrichten.

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