Ein junger Mann mit einem altertümlich aussehenden Koffer tritt vor das Publikum, stellt ihn ab, räuspert sich und beginnt leise Texte zu rezitieren. Eine junge Frau kommt dazu. Sie macht genau das gleiche. Es folgen weitere Personen, sie alle scheinen sich mitten auf der Bühne auf einen Vortrag vorzubereiten. Das ist das Theaterstück? Oder sind wir zu früh und das ist eine Textprobe?
Nein. Das Stück beginnt mit einem Festival. Das Festival der Geschichtenerzähler*innen – im Arabischen traditionell “Hakawati” genannt. Doch es kommt anders: Ein zeitgleich ausbrechender Krieg zwingt die beteiligten Geschichtenerzähler*innen sich im “Caravan Al-Hakawati” (einem selbstgebauten Auto) auf die Reise zu machen.
Um sich gegen die gut ausgestellten Grenzgeister durchzusetzen müssen sich die Hakawati’s in ihren eigenen Geschichten den Schlüssel zum weiterkommen finden. Eine Odyssee durch eine gefährliche Welt und durch die Irrwege der Grenzregime der Moderne.
Das Thema des Stückes ist aktueller denn je:
Immer mehr Menschen als jemals zuvor sehen sich überall auf der Welt aufgrund von Krieg und Verfolgung gezwungen aus ihrer Heimat zu fliehen. Da vor allem, junge Geflüchtete aus arabischen Ländern wie Syrien oder dem Irak an dem Projekt beteiligt sind, nimmt “Caravan Al-Hakawati” diese spezifische arabische Erzähltradition als Ausgangspunkt einer kollektiven Theaterproduktion. So werden unterschiedliche künstlerische und populärkulturelle Traditionen kollaborativ zu einem neuen gemeinsamen Narrativ oder Odyssee der Migration verflochten. Darüber hinaus fördert die Wiederaneignung von Erzählungen der “Anderen” nicht nur die Solidarität unter den Beteiligten sondern stellt auch hegemoniale Diskurse über Migration, Heimat und Fremdheit auf.
Das LAI unterstützt dieses Theaterprojekt nicht nur finanziell, in der kuerzlich geschlossenen Kooperation bekamen die Studierenden die Gelegenheit bei den Proben zu hospitieren und so einen Einblick in die Vielfalt der theaterpädagogischen Arbeit zu erhalten:
Was kann Theater? Wie bereitet sich eine neu gegründete Gruppe auf ein Theaterstück vor? Wie beginnen die Proben jeweils? Wie enden sie? Wie werden Konflikte aufgelöst?
Im Rahmen der Theaterproben entstanden ebenfalls neue Kontakte und Bekanntschaften. Die Arbeit auf der Bühne einerseits ist Schein und Schauspiel, doch darunter verbirgt sich auch eine tiefere Komponente: Es handelt sich hierbei nicht „nur“ um künstliche Darstellung von Kriegs-und Fluchterlebnissen, sondern bot und bietet den jungen Schauspieler*innen auch die Möglichkeit (durch die theaterpädagogische Unterstützung) ihre selbst erlebte Vergangenheit zu verarbeiten.
Studierende des LAI hatten die Möglichkeiten hinter die Kulissen zu schauen und mitzuerleben wie aus einer Gruppe von unbekannten und aus verschiedenen Kulturen und Ländern stammenden Jugendlichen, ein Team wird, das sich gegenseitig unterstützt und sich in den Geschichten der Anderen wiedererkennen. Durch dieses Wiedererkennen werden auch Themen wie sexuelle Freiheit, Gleichberechtigung, Rassismus sowie historische Konfliktlinien zwischen Nationen und Kulturen aufgearbeitet. Da die Hakawatis (storytellers) vor allem Menschen sind, die lieben, fürchten, spielen und versuchen ihre Ziel zu verfolgen, geschieht das alles aus einer sehr anschaulichen, persönlichen, alltäglichen Perspektive heraus.
Die Studierenden des LAI bekamen einen Blick auf ein zutiefst emanzipatorisches Projekt, bei dem sich die einzelnen Teilnehmenden auf Augenhöhe gegenüber stehen und handeln und sich dadurch selbst weiterentwickeln. Das Studium des LAI bezieht in einer Vielzahl seiner Seminare die dekoloniale/postkoloniale Perspektive mit ein. Neben entsprechenden Konzepten und Theorien werden interkulturelle Ansätze verwendet und wissenschaftlich bearbeitet. Das Projekt bot in dieser Hinsicht eine herausragende Möglichkeit die Theorie auf die Praxis zu übertragen und zu sehen wie Empowerment in der Praxis aussehen kann.
Die exklusiv für die Studierenden des LAI aufgeführte Generalprobe vermittelte ganz nebenbei auch noch einen Einblick hinter die Kulissen -angefangen bei der Konzeption der Kostüme bis hin zur Bühnentechnik und der begleitenden musikalischen Arbeit.
Um die Arbeit mit qualitativen Methoden zu üben, hatten die Studierenden die Möglichkeit, Interviews mit die den Schauspieler*innen und Theaterpädagog*innen durchzuführen und diese auszuwerten. Beispielsweise findet sich mittlerweile ein Blogbeitrag über die den Club Al Hakawati auf der Internetseite des FU Blogs „Flucht und Migration“, der im Rahmen des Seminars Gender & Transnationale Migration“ im letzten Semester entstanden ist. Ebenfalls ist eine kleine Handreichung mit Tipps zum führen qualitativer Interviews entstanden. Die Kooperation verstärkt des Weiteren den traditionell solidarischen und sozial engagierten Charakter des Instituts.
Zu Beginn des diesjährigen Wintersemesters performte die Theatergruppe Teile des Stückes in der Rost- und Silberlaube. Damit waren auch die druch das LAI unterstüzte Caravan-Al-Hakawati Teil der Kritischen Orientierungswoche an der FU (KOrFU).
Tags: Flucht, Geschichtenerzaehler*innen, Hakawati, Migrationsgeschichten, Theater